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Inhaltsverzeichnis

23. Kapitel

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Auf dem Friedrichstraßen-Bahnhof war ein Gedränge; aber trotzdem, Effi
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hatte schon vom Coupé aus die Mama erkannt und neben ihr den Vetter
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Briest. Die Freude des Wiedersehens war groß, das Warten in der
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Gepäckhalle stellte die Geduld auf keine allzu harte Probe, und nach wenig
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mehr als fünf Minuten rollte die Droschke neben dem Pferdebahngleise hin
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in die Dorotheenstraße hinein und auf die Schadowstraße zu, an deren
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nächstgelegener Ecke sich die »Pension« befand. Roswitha war entzückt
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und freute sich über Annie, die die Händchen nach den Lichtern
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ausstreckte.
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Nun war man da. Effi erhielt ihre zwei Zimmer, die nicht, wie erwartet,
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neben denen der Frau von Briest, aber doch auf demselben Korridor lagen,
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und als alles seinen Platz und Stand hatte und Annie in einem Bettchen mit
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Gitter glücklich untergebracht war, erschien Effi wieder im Zimmer der
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Mama, einem kleinen Salon mit Kamin, drin ein schwaches Feuer brannte;
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denn es war mildes, beinah warmes Wetter.
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Auf dem runden Tische mit grüner Schirmlampe waren drei Kuverts
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gelegt, und auf einem Nebentischchen stand das Teezeug.
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»Du wohnst ja reizend, Mama«, sagte Effi, während sie dem Sofa
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gegenüber Platz nahm, aber nur um sich gleich danach an dem Teetisch zu
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schaffen zu machen. »Darf ich wieder die Rolle des Teefräuleins
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übernehmen?«
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»Gewiß, meine liebe Effi Aber nur für Dagobert und dich selbst. Ich
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meinerseits muß verzichten, was mir beinah schwerfällt.«
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»Ich verstehe, deiner Augen halber. Aber nun sage mir, Mama, was ist es
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damit? In der Droschke, die noch dazu so klapperte, haben wir immer nur
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von Innstetten und unserer großen Karriere gesprochen, viel zuviel, und
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das geht nicht so weiter; glaube mir, deine Augen sind mir wichtiger, und in
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einem finde ich sie, Gott sei Dank, ganz unverändert, du siehst mich immer
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noch so freundlich an wie früher.«
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Und sie eilte auf die Mama zu und küßte ihr die Hand. »Effi, du bist so
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stürmisch. Ganz die alte.«
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»Ach nein, Mama. Nicht die alte. Ich wollte, es wäre so. Man ändert sich in
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der Ehe.«
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Vetter Briest lachte. »Cousine, ich merke nicht viel davon; du bist noch
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hübscher geworden, das ist alles. Und mit dem Stürmischen wird es wohl
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auch noch nicht vorbei sein.«
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»Ganz der Vetter«, versicherte die Mama; Effi selbst aber wollte davon
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nichts hören und sagte: »Dagobert, du bist alles, nur kein Menschenkenner.
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Es ist sonderbar. Ihr Offiziere seid keine guten Menschenkenner, die jungen
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gewiß nicht. Ihr guckt euch immer nur selber an oder eure Rekruten, und
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die von der Kavallerie haben auch noch ihre Pferde. Die wissen nun
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vollends nichts.«
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»Aber Cousine, wo hast du denn diese ganze Weisheit her? Du kennst ja
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keine Offiziere. Kessin, so habe ich gelesen, hat ja auf die ihm zugedachten
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Husaren verzichtet, ein Fall, der übrigens einzig in der Weltgeschichte
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dasteht. Und willst du von alten Zeiten sprechen? Du warst ja noch ein
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halbes Kind, als die Rathenower zu euch herüberkamen.«
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»Ich könnte dir erwidern, daß Kinder am besten beobachten. Aber ich
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mag nicht, das sind ja alles bloß Allotria. Ich will wissen, wie's mit Mamas
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Augen steht.«
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Frau von Briest erzählte nun, daß es der Augenarzt für Blutandrang nach
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dem Gehirn ausgegeben habe. Daher käme das Flimmern. Es müsse mit
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Diät gezwungen werden; Bier, Kaffee, Tee – alles gestrichen und
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gelegentlich eine lokale Blutentziehung, dann würde es bald besser
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werden. »Er sprach so von vierzehn Tagen. Aber ich kenne die
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Doktorangaben; vierzehn Tage heißt sechs Wochen, und ich werde noch
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hier sein, wenn Innstetten kommt und ihr in eure neue Wohnung einzieht.
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Ich will auch nicht leugnen, daß das das Beste von der Sache ist und mich
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über die mutmaßlich lange Kurdauer schon vorweg tröstet. Sucht euch nur
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recht was Hübsches. Ich habe mir Landgrafen- oder Keithstraße gedacht,
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elegant und doch nicht allzu teuer. Denn ihr werdet euch einschränken
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müssen. Innstettens Stellung ist sehr ehrenvoll, aber sie wirft nicht allzuviel
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ab. Und Briest klagt auch. Die Preise gehen herunter, und er erzählt mir
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jeden Tag, wenn nicht Schutzzölle kämen, so müßte er mit einem
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Bettelsack von Hohen-Cremmen abziehen. Du weißt, er übertreibt gern.
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Aber nun lange zu, Dagobert, und wenn es sein kann, erzähle uns was
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Hübsches. Krankheitsberichte sind immer langweilig, und die liebsten
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Menschen hören bloß zu, weil es nicht anders geht. Effi wird wohl auch
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gern eine Geschichte hören, etwas aus den Fliegenden Blättern oder aus
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dem Kladderadatsch. Er soll aber nicht mehr so gut sein.«
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»Oh, er ist noch ebensogut wie früher. Sie haben immer noch Strudelwitz
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und Prudelwitz, und da macht es sich von selber.«
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»Mein Liebling ist Karlchen Mießnick und Wippchen von Bernau.«
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»Ja, das sind die Besten. Aber Wippchen, der übrigens – Pardon, schöne
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Cousine – keine Kladderadatschfigur ist, Wippchen hat gegenwärtig nichts
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zu tun, es ist ja kein Krieg mehr. Leider. Unsereins möchte doch auch mal
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an die Reihe kommen und hier diese schreckliche Leere«, und er strich
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vom Knopfloch nach der Achsel hinüber, »endlich loswerden.«
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Ach, das sind ja bloß Eitelkeiten. Erzähle lieber. Was ist denn jetzt dran?«
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»Ja, Cousine, das ist ein eigen Ding. Das ist nicht für jedermann. Jetzt
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haben wir nämlich die Bibelwitze.«
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»Die Bibelwitze? Was soll das heißen? ... Bibel und Witze gehören nicht
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zusammen.«
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»Eben deshalb sagte ich, es sei nicht für jedermann. Aber ob zulässig
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oder nicht, sie stehen jetzt hoch im Preis. Modesache, wie Kiebitzeier.«
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»Nun, wenn es nicht zu toll ist, so gib uns eine Probe. Geht es?«
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»Gewiß geht es. Und ich möchte sogar hinzusetzen dürfen, du triffst es
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besonders gut. Was jetzt nämlich kursiert, ist etwas hervorragend Feines,
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weil es als Kombination auftritt und in die einfache Bibelstelle noch das
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dativisch Wrangelsche mit einmischt. Die Fragestellung – alle diese Witze
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treten nämlich in Frageform auf – ist übrigens in vorliegendem Falle von
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großer Simplizität und lautet: 'Wer war der erste Kutscher?' Und nun rate.«
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»Nun, vielleicht Apollo.«
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»Sehr gut. Du bist doch ein Daus, Effi. Ich wäre nicht darauf gekommen.
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Aber trotzdem, du triffst damit nicht ins Schwarze. «
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»Nun, wer war es denn?«
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»Der erste Kutscher war 'Leid'. Denn schon im Buche Hiob heißt es: 'Leid
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soll mir nicht widerfahren', oder auch 'wieder fahren' in zwei Wörtern und
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mit einem e.«
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Effi wiederholte kopfschüttelnd den Satz, auch die Zubemerkung, konnte
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sich aber trotz aller Mühe nicht drin zurechtfinden; sie gehörte ganz
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ausgesprochen zu den Bevorzugten, die für derlei Dinge durchaus kein
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Organ haben, und so kam denn Vetter Briest in die nicht beneidenswerte
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Situation, immer erneut erst auf den Gleichklang und dann auch wieder auf
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den Unterschied von 'widerfahren' und 'wieder fahren' hinweisen zu
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müssen.
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»Ach, nun versteh ich. Und du mußt mir verzeihen, daß es so lange
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gedauert hat. Aber es ist wirklich zu dumm.«
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»Ja, dumm ist es«, sagte Dagobert kleinlaut.
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»Dumm und unpassend und kann einem Berlin ordentlich verleiden. Da
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geht man nun aus Kessin fort, um wieder unter Menschen zu sein, und das
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erste, was man hört, ist ein Bibelwitz. Auch Mama schweigt, und das sagt
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genug. Ich will dir aber doch den Rückzug erleichtern ...«
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»Das tu, Cousine.«
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» ... den Rückzug erleichtern und es ganz ernsthaft als ein gutes Zeichen
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nehmen, daß mir, als erstes hier, von meinem Vetter Dagobert gesagt
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wurde: 'Leid soll mir nicht widerfahren.' Sonderbar, Vetter, so schwach die
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Sache als Witz ist, ich bin dir doch dankbar dafür.«
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Dagobert, kaum aus der Schlinge heraus, versuchte über Effis
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Feierlichkeit zu spötteln, ließ aber ab davon, als er sah, daß es sie verdroß.
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Bald nach zehn Uhr brach er auf und versprach, am anderen Tage
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wiederzukommen, um nach den Befehlen zu fragen.
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Und gleich nachdem er gegangen, zog sich auch Effi in ihre Zimmer
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zurück.
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Am andern Tage war das schönste Wetter, und Mutter und Tochter
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brachen früh auf, zunächst nach der Augenklinik, wo Effi im Vorzimmer
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verblieb und sich mit dem Durchblättern eines Albums beschäftigte. Dann
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ging es nach dem Tiergarten und bis in die Nähe des »Zoologischen«, um
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dort herum nach einer Wohnung zu suchen. Es traf sich auch wirklich so,
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daß man in der Keithstraße, worauf sich ihre Wünsche von Anfang an
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gerichtet hatten, etwas durchaus Passendes ausfindig machte, nur daß es
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ein Neubau war, feucht und noch unfertig. »Es wird nicht gehen, liebe Effi«,
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sagte Frau von Briest, »schon einfach Gesundheitsrücksichten werden es
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verbieten. Und dann, ein Geheimrat ist kein Trockenwohner. «
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Effi, so sehr ihr die Wohnung gefiel, war um so einverstandener mit
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diesem Bedenken, als ihr an einer raschen Erledigung überhaupt nicht lag,
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ganz im Gegenteil: »Zeit gewonnen, alles gewonnen«, und so war ihr denn
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ein Hinausschieben der ganzen Angelegenheit eigentlich das Liebste, was
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ihr begegnen konnte. »Wir wollen diese Wohnung aber doch im Auge
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behalten, Mama, sie liegt so schön und ist im wesentlichen das, was ich mir
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gewünscht habe.« Dann fuhren beide Damen in die Stadt zurück, aßen im
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Restaurant, das man ihnen empfohlen, und waren am Abend in der Oper,
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wozu der Arzt unter der Bedingung, daß Frau von Briest mehr hören als
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sehen wolle, die Erlaubnis gegeben hatte.
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Die nächsten Tage nahmen einen ähnlichen Verlauf; man war aufrichtig
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erfreut, sich wiederzuhaben und nach so langer Zeit wieder ausgiebig
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miteinander plaudern zu können. Effi, die sich nicht bloß auf Zuhören und
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Erzählen, sondern, wenn ihr am wohlsten war, auch auf Medisieren ganz
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vorzüglich verstand, geriet mehr als einmal in ihren alten Übermut, und die
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Mama schrieb nach Hause, wie glücklich sie sei, das »Kind« wieder so
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heiter und lachlustig zu finden; es wiederhole sich ihnen allen die schöne
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Zeit von vor fast zwei Jahren, wo man die Ausstattung besorgt habe. Auch
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Vetter Briest sei ganz der alte. Das war nun auch wirklich der Fall, nur mit
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dem Unterschied, daß er sich seltener sehen ließ als vordem und auf die
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Frage nach dem »Warum« anscheinend ernsthaft versicherte: »Du bist mir
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zu gefährlich, Cousine.« Das gab dann jedesmal ein Lachen bei Mutter und
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Tochter, und Effi sagte: »Dagobert, du bist freilich noch sehr jung, aber zu
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solcher Form des Courmachers doch nicht mehr jung genug.«
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So waren schon beinahe vierzehn Tage vergangen. Innstetten schrieb
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immer dringlicher und wurde ziemlich spitz, fast auch gegen die
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Schwiegermama, so daß Effi einsah, ein weiteres Hinausschieben sei nicht
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mehr gut möglich und es müsse nun wirklich gemietet werden. Aber was
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dann? Bis zum Umzug nach Berlin waren immer noch drei Wochen, und
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Innstetten drang auf rasche Rückkehr. Es gab also nur ein Mittel: Sie mußte
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wieder eine Komödie spielen, mußte krank werden.
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Das kam ihr aus mehr als einem Grunde nicht leicht an; aber es mußte
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sein, und als ihr das feststand, stand ihr auch fest, wie die Rolle, bis in die
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kleinsten Einzelheiten hinein, gespielt werden müsse.
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»Mama, Innstetten, wie du siehst, wird über mein Ausbleiben empfindlich.
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Ich denke, wir geben also nach und mieten heute noch. Und morgen reise
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ich. Ach, es wird mir so schwer, mich von dir zu trennen.«
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Frau von Briest war einverstanden. »Und welche Wohnung wirst du
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wählen?«
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»Natürlich die erste, die in der Keithstraße, die mir von Anfang an so gut
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gefiel und dir auch. Sie wird wohl noch nicht ganz ausgetrocknet sein, aber
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es ist ja das Sommerhalbjahr, was einigermaßen ein Trost ist. Und wird es
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mit der Feuchtigkeit zu arg und kommt ein bißchen Rheumatismus, so hab
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ich ja schließlich immer noch Hohen-Cremmen.«
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»Kind, beruf es nicht; ein Rheumatismus ist mitunter da, man weiß nicht
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wie.«
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Diese Worte der Mama kamen Effi sehr zupaß. Sie mietete denselben
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Vormittag noch und schrieb eine Karte an Innstetten, daß sie den nächsten
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Tag zurückwolle. Gleich danach wurden auch wirklich die Koffer gepackt
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und alle Vorbereitungen getroffen. Als dann aber der andere Morgen da
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war, ließ Effi die Mama an ihr Bett rufen und sagte: »Mama, ich kann nicht
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reisen. Ich habe ein solches Reißen und Ziehen, es schmerzt mich über den
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ganzen Rücken hin, und ich glaube beinah, es ist ein Rheumatismus. Ich
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hätte nicht gedacht, daß das so schmerzhaft sei.«
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»Siehst du, was ich dir gesagt habe; man soll den Teufel nicht an die
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Wand malen. Gestern hast du noch leichtsinnig darüber gesprochen, und
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heute ist es schon da. Wenn ich Schweigger sehe, werde ich ihn fragen,
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was du tun sollst.«
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Nein, nicht Schweigger. Der ist ja ein Spezialist. Das geht nicht, und er
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könnte es am Ende übelnehmen, in so was anderem zu Rate gezogen zu
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werden. Ich denke, das beste ist, wir warten es ab. Es kann ja auch
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vorübergehen. Ich werde den ganzen Tag über von Tee und Sodawasser
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leben, und wenn ich dann transpiriere, komm ich vielleicht drüber hin.«
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Frau von Briest drückte ihre Zustimmung aus, bestand aber darauf, daß
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sie sich gut verpflege. Daß man nichts genießen müsse, wie das früher
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Mode war, das sei ganz falsch und schwäche bloß; in diesem Punkt stehe
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sie ganz zu der jungen Schule: tüchtig essen.
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Effi sog sich nicht wenig Trost aus diesen Anschauungen, schrieb ein
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Telegramm an Innstetten, worin sie von dem »leidigen Zwischenfall« und
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einer ärgerlichen, aber doch nur momentanen Behinderung sprach, und
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sagte dann zu Roswitha: »Roswitha, du mußt mir nun auch Bücher
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besorgen; es wird nicht schwerhalten, ich will alte, ganz alte.«
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»Gewiß, gnäd'ge Frau. Die Leihbibliothek ist ja gleich hier nebenan. Was
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soll ich besorgen?«
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»Ich will es aufschreiben, allerlei zur Auswahl, denn mitunter haben sie
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nicht das eine, was man grade haben will.« Roswitha brachte Bleistift und
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Papier, und Effi schrieb auf:
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Walter Scott, Ivanhoe oder Quentin Durward; Cooper, Der Spion; Dickens,
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David Copperfield; Willibald Alexis, Die Hosen des Herrn von Bredow.
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Roswitha las den Zettel durch und schnitt in der anderen Stube die letzte
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Zeile fort; sie genierte sich ihret- und ihrer Frau wegen, den Zettel in seiner
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ursprünglichen Gestalt abzugeben.
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Ohne besondere Vorkommnisse verging der Tag. Am andern Morgen war
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es nicht besser und am dritten auch nicht. »Effi, das geht so nicht länger.
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Wenn so was einreißt, dann wird man's nicht wieder los; wovor die
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Doktoren am meisten warnen und mit Recht, das sind solche
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Verschleppungen.«
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Effi seufzte. »Ja, Mama, aber wen sollen wir nehmen? Nur keinen jungen;
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ich weiß nicht, aber es würde mich genieren.«
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»Ein junger Doktor ist immer genant, und wenn er es nicht ist, desto
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schlimmer. Aber du kannst dich beruhigen; ich komme mit einem ganz
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alten, der mich schon behandelt hat, als ich noch in der Heckerschen
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Pension war, also vor etlichen zwanzig Jahren. Und damals war er nah an
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Fünfzig und hatte schönes graues Haar, ganz kraus. Er war ein
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Damenmann, aber in den richtigen Grenzen. Ärzte, die das vergessen,
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gehen unter, und es kann auch nicht anders sein; unsere Frauen,
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wenigstens die aus der Gesellschaft, haben immer noch einen guten
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Fond.«
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»Meinst du? Ich freue mich immer, so was Gutes zu hören. Denn mitunter
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hört man doch auch andres. Und schwer mag es wohl oft sein. Und wie
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heißt denn der alte Geheimrat? Ich nehme an, daß es ein Geheimrat ist.«
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»Geheimrat Rummschüttel.«
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Effi lachte herzlich. »Rummschüttel! Und als Arzt für jemanden, der sich
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nicht rühren kann.«
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»Effi, du sprichst so sonderbar. Große Schmerzen kannst du nicht
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haben.«
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»Nein, in diesem Augenblick nicht; es wechselt beständig.«
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Am anderen Morgen erschien Geheimrat Rummschüttel. Frau von Briest
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empfing ihn, und als er Effi sah, war sein erstes Wort: »Ganz die Mama.«
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Diese wollte den Vergleich ablehnen und meinte, zwanzig Jahre und
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drüber seien doch eine lange Zeit; Rummschüttel blieb aber bei seiner
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Behauptung, zugleich versichernd: nicht jeder Kopf präge sich ihm ein,
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aber wenn er überhaupt erst einen Eindruck empfangen habe, so bleibe der
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auch für immer. »Und nun, meine gnädigste Frau von Innstetten, wo fehlt
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es, wo sollen wir helfen?«
251
»Ach, Herr Geheimrat, ich komme in Verlegenheit, Ihnen auszudrücken,
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was es ist. Es wechselt beständig. In diesem Augenblick ist es wie
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weggeflogen. Anfangs habe ich an Rheumatisches gedacht, aber ich möcht
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beinah glauben, es sei eine Neuralgie, Schmerzen den Rücken entlang, und
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dann kann ich mich nicht aufrichten. Mein Papa leidet an Neuralgie, da hab
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ich es früher beobachten können. Vielleicht ein Erbstück von ihm.«
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»Sehr wahrscheinlich«, sagte Rummschüttel, der den Puls gefühlt und die
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Patientin leicht, aber doch scharf beobachtet hatte. »Sehr wahrscheinlich,
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meine gnädigste Frau.« Was er aber still zu sich selber sagte, das lautete:
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»Schulkrank und mit Virtuosität gespielt; Evastochter comme il faut.« Er
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ließ jedoch nichts davon merken, sondern sagte mit allem
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wünschenswerten Ernst: »Ruhe und Wärme sind das Beste, was ich
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anraten kann. Eine Medizin, übrigens nichts Schlimmes, wird das Weitere
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tun.«
265
Und er erhob sich, um das Rezept aufzuschreiben: Aqua Amygdalarum
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amararum eine halbe Unze, Syrupus florum Aurantii zwei Unzen. »Hiervon,
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meine gnädigste Frau, bitte ich Sie, alle zwei Stunden einen halben
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Teelöffel voll nehmen zu wollen. Es wird Ihre Nerven beruhigen. Und worauf
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ich noch dringen möchte: keine geistigen Anstrengungen, keine Besuche,
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keine Lektüre.« Dabei wies er auf das neben ihr liegende Buch.
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»Es ist Scott.«
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»Oh, dagegen ist nichts einzuwenden. Das beste sind
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Reisebeschreibungen. Ich spreche morgen wieder vor.«
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Effi hatte sich wundervoll gehalten, ihre Rolle gut durchgespielt. Als sie
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wieder allein war – die Mama begleitete den Geheimrat –, schoß ihr
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trotzdem das Blut zu Kopf; sie hatte recht gut bemerkt, daß er ihrer
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Komödie mit einer Komödie begegnet war. Er war offenbar ein überaus
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lebensgewandter Herr, der alles recht gut sah, aber nicht alles sehen wollte,
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vielleicht weil er wußte, daß dergleichen auch mal zu respektieren sein
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könne. Denn gab es nicht zu respektierende Komödien, war nicht die, die er
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selber spielte, eine solche? Bald danach kam die Mama zurück, und Mutter
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und Tochter ergingen sich in Lobeserhebungen über den feinen alten
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Herrn, der trotz seiner beinah Siebzig noch etwas Jugendliches habe.
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»Schicke nur gleich Roswitha nach der Apotheke ... Du sollst aber nur alle
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drei Stunden nehmen, hat er mir draußen noch eigens gesagt. So war er
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schon damals, er verschrieb nicht oft und nicht viel; aber immer
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Energisches, und es half auch gleich.«
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Rummschüttel kam den zweiten Tag und dann jeden dritten, weil er sah,
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welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete. Dies nahm
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ihn für sie ein, und sein Urteil stand ihm nach dem dritten Besuch fest:
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»Hier liegt etwas vor, was die Frau zwingt, so zu handeln, wie sie handelt.«
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Über solche Dinge den Empfindlichen zu spielen, lag längst hinter ihm.
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Als Rummschüttel seinen vierten Besuch machte, fand er Effi auf, in
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einem Schaukelstuhl sitzend, ein Buch in der Hand, Annie neben ihr.
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»Ah, meine gnädigste Frau! Hocherfreut. Ich schiebe es nicht auf die
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Arznei; das schöne Wetter, die hellen, frischen Märztage, da fällt die
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Krankheit ab. Ich beglückwünsche Sie. Und die Frau Mama?«
298
»Sie ist ausgegangen, Herr Geheimrat, in die Keithstraße, wo wir gemietet
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haben. Ich erwarte nun innerhalb weniger Tage meinen Mann, den ich mich,
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wenn in unserer Wohnung erst alles in Ordnung sein wird, herzlich freue,
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Ihnen vorstellen zu können. Denn ich darf doch wohl hoffen, daß Sie auch
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in Zukunft sich meiner annehmen werden.«
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Er verbeugte sich.
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»Die neue Wohnung«, fuhr sie fort, »ein Neubau, macht mir freilich Sorge.
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Glauben Sie, Herr Geheimrat, daß die feuchten Wände ...«
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»Nicht im geringsten, meine gnädigste Frau. Lassen Sie drei, vier Tage
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lang tüchtig heizen und immer Türen und Fenster auf, da können Sie's
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wagen, auf meine Verantwortung. Und mit Ihrer Neuralgie, das war nicht
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von solcher Bedeutung. Aber ich freue mich Ihrer Vorsicht, die mir
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Gelegenheit gegeben hat, eine alte Bekanntschaft zu erneuern und eine
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neue zu machen.«
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Er wiederholte seine Verbeugung, sah noch Annie freundlich in die Augen
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und verabschiedete sich unter Empfehlungen an die Mama.
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Kaum daß er fort war, so setzte sich Effi an den Schreibtisch und schrieb:
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»Lieber Innstetten! Eben war Rummschüttel hier und hat mich aus der Kur
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entlassen. Ich könnte nun reisen, morgen etwa; aber heut ist schon der 24.,
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und am 28. willst Du hier eintreffen. Angegriffen bin ich ohnehin noch. Ich
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denke, Du wirst einverstanden sein, wenn ich die Reise ganz aufgebe. Die
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Sachen sind ja ohnehin schon unterwegs, und wir würden, wenn ich käme,
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in Hoppensacks Hotel wie Fremde leben müssen. Auch der Kostenpunkt ist
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in Betracht zu ziehen, die Ausgaben werden sich ohnehin häufen; unter
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anderem ist Rummschüttel zu honorieren, wenn er uns auch als Arzt
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verbleibt. Übrigens ein sehr liebenswürdiger alter Herr. Er gilt ärztlich nicht
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für ersten Ranges, 'Damendoktor', sagen seine Gegner und Neider. Aber
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dies Wort umschließt doch auch ein Lob; es kann eben nicht jeder mit uns
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umgehen. Daß ich von den Kessinern nicht persönlich Abschied nehme,
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hat nicht viel auf sich. Bei Gieshübler war ich. Die Frau Majorin hat sich
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immer ablehnend gegen mich verhalten, ablehnend bis zur Unart; bleibt
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noch der Pastor und Doktor Hannemann und Crampas. Empfiehl mich
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letzterem. An die Familien auf dem Lande schicke ich Karten; Güldenklees,
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wie Du mir schreibst, sind in Italien (was sie da wollen, weiß ich nicht), und
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so bleiben nur die drei andern. Entschuldige mich, so gut es geht. Du bist
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ja der Mann der Formen und weißt das richtige Wort zu treffen. An Frau Von
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Padden, die mir am Silvesterabend so außerordentlich gut gefiel, schreibe
335
ich vielleicht selber noch und spreche ihr mein Bedauern aus. Laß mich in
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einem Telegramm wissen, ob Du mit allem einverstanden bist. Wie immer
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Deine Effi.«
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Effi brachte selber den Brief zur Post, als ob sie dadurch die Antwort
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beschleunigen könne, und am nächsten Vormittag traf denn auch das
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erbetene Telegramm von Innstetten ein: »Einverstanden mit allem.« Ihr
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Herz jubelte, sie eilte hinunter und auf den nächsten Droschkenstand zu:
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»Keithstraße Ic.« Und erst die Linden und dann die Tiergartenstraße
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hinunter flog die Droschke, und nun hielt sie vor der neuen Wohnung.
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Oben standen die den Tag vorher eingetroffenen Sachen noch bunt
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durcheinander, aber es störte sie nicht, und als sie auf den breiten,
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aufgemauerten Balkon hinaustrat, lag jenseits der Kanalbrücke der
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Tiergarten vor ihr, dessen Bäume schon überall einen grünen Schimmer
348
zeigten. Darüber aber ein klarer blauer Himmel und eine lachende Sonne.
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Sie zitterte vor Erregung und atmete hoch auf. Dann trat sie vom Balkon
350
her wieder über die Türschwelle zurück, hob den Blick und faltete die
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Hände.
352
»Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden.«

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