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Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

3. Aufzug

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Aigeus: Freude dir, Medeia! Mit schönerem Wort kann niemand seinen
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Freund begrüßen.
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Medeia: Freude auch dir, Aigeus, Sohn des weisen Pandion[1]. Woher
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kommst du in dieses Land?
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Aigeus: Ich komme von Apollons alter Orakelstätte[2].
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Medeia: Und warum gingst du zum weissagenden Nabel der Erde?
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Aigeus: Ich fragte, wie mir Kindersegen werden könnte.
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Medeia: Bei allen Göttern! Lebst du denn bis heute kinderlos?
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Aigeus: Ja, ich bin durch eines Gottes Fügung ohne Kinder.
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Medeia: Hast du eine Frau oder bist du unverheiratet?
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Aigeus: Das Ehejoch ist mir nicht fremd.[3]
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Medeia: Was riet dir also Phoibos[4] wegen der Kinder?
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Aigeus: Er sprach noch weiser, als ein Mensch verstehen kann.
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Medeia: Ist es erlaubt, den Spruch des Gottes zu erfahren?
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Aigeus: Gewiß, zumal er eines klugen Sinns bedarf.
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Medeia: Wie lautet das Orakel? Sprich, wenn ich es hören darf!
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Aigeus: Ich soll des Schlauches Hals nicht lösen, bis...
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Medeia: ...du was getan hast oder wohin kamst?
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Aigeus: Bis ich zum Herd der Väter heimgelangt.[5]
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Medeia: Wozu dann lenktest du das Schiff zu diesem Land?
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Aigeus: Es lebt hier ein gewisser Pittheus, Herr im Land Troizen[6].
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Medeia: Ein Sohn des Pelops, sagt man, ein sehr frommer Mann.
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Aigeus: Ihm will ich das Orakel des Gottes mitteilen.
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Medeia: Ja, der Mann ist klug und versteht sich auf solche Dinge.
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Aigeus: Er ist mir auch der liebste aller meiner Kriegsgefährten.
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Medeia: So lebe wohl, gewinne alles, was du wünschst.
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Aigeus: Doch warum sind dein Antlitz und dein Leib so abgehärmt?
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Medeia: O Aigeus, mein Gatte ist der schlimmste Schurke auf der Welt.
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Aigeus: Was sagst du da? Sag mir genau, was dich bekümmert!
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Medeia: Iason tut mir Unrecht und ist doch nicht von mir gekränkt.
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Aigeus: Was tat er dir? Erzähle es mir deutlicher.
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Medeia: Er hat außer mir noch eine andere als Herrin im Hause.
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Aigeus: Wagte er wirklich solche Schandtat?
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Medeia: Du darfst es glauben! Wir, seine frühere Familie, gelten nichts
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mehr.
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Aigeus: Ist er verliebt oder deines Lagers überdrüssig?
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Medeia: Die Liebe hat ihn mit Gewalt gepackt. Treue gegen die Seinen
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kennt er nicht.
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Aigeus: Laß ihn doch laufen, wenn er so schlecht ist, wie du sagst!
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Medeia: Ihn faßte Verlangen, sich mit dem Königshaus zu verbinden.
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Aigeus: Wer gibt ihm seine Tochter? Sag mir alles!
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Medeia: Kreon, der Herrscher hier im Land Korinth.
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Aigeus: Dann ist es zu begreifen, Frau, wenn du dich grämst.
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Medeia: Ich bin verloren, und man jagt mich auch noch aus dem Land.
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Aigeus: Wer tut es? Du nennst ja noch ein zweites Unglück.
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Medeia: Kreon verbannt mich, treibt mich aus Korinth.
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Aigeus: Und Iason läßt es zu? Auch das scheint mir nicht gut.
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Medeia: Er stimmt nicht zu, doch läßt er es geschehen. So flehe ich dich
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an bei deinem Kinn und falle bittend dir zu Füßen, erbarme dich, erbarm
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dich meiner Not und laß nicht zu, daß ich verlassen und hinausgestoßen
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werde! Nimm mich in deinem Land als Hausgenossin auf! Dann mögen dir
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die Götter deinen Kinderwunsch erfüllen, Glück dir schenken bis zum Tod.
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Du ahnst nicht, welcher Glücksfund ich dir bin. Ich mache deiner
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Kinderlosigkeit ein Ende und bewirke, daß du fruchtbar wirst; die Mittel
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dazu kenne ich.[7]
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Aigeus: Ich bin dir gern gefällig, Frau, aus vielen Gründen, einmal um der
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Götter willen, dann aber wegen der Kinder, deren Geburt du mir verheißt.
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Denn danach gehen alle meine Wünsche. Doch steht die Sache so für
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mich: Kommst du in mein Land, will ich versuchen, dir Gastfreundschaft zu
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bieten, wie es sich gebührt.So viel jedoch, Frau, sage ich dir gleich: Aus
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diesem Land hier will ich dich nicht fortführen; doch kommst du selber in
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mein Haus, kannst du dort sicher bleiben, und ich werde dich nie jemand
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ausliefern. Nur mußt du selbst dies Land verlassen, denn ich will auch
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Fremden gegenüber ohne Tadel sein.
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Medeia: So will ich es machen. Bekäme ich aber ein Treueversprechen,
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hätte ich alles, was ich von dir wünsche.
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Aigeus: Verstraust du mir nicht? Oder was macht dir Bedenken?
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Medeia: Dir traue ich. Doch ist mir die Sippe des Pelias feind und Kreon.
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Und wenn diese mich aus deinem Land wegführen wollen, wirst du mich
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kaum ausliefern, wenn dich Eide binden. Hast du aber jetzt nur so
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zugesagt und nicht bei den Göttern geschworen, wirst du vielleicht ihr
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Freund, und ihre Herolde hätten dich bald umgestimmt. Denn ich bin nur
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ein schwaches Weib, sie aber haben Reichtum und Herrschermacht.
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Aigeus: Du zeigst in deiner Rede große Vorsicht, Frau. Nun, wenn du
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meinst, will ich deinen Wunsch erfüllen. Denn mir gibt es Sicherheit, wenn
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ich deinen Feinden zu meiner Rechtfertigung etwas vorweisen kann, und
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auch deine Stellung wird sicherer. Nenne die Schwurgötter!
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Medeia: Schwöre beim Grund der Erde, bei Helios, dem Vater meines
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Vaters, und beim ganzen Geschlecht der Götter!
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Aigeus: Was zu tun oder zu lassen? Sprich!
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Medeia: Mich weder selbst aus deinem Land je zu vertreiben noch, so lang
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du lebst, freiwillig auszuliefern, sollte ein Feind von mir mich wegführen
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wollen.
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Aigeus: Ich schwöre bei der Erde, beim strahlenden Licht des Helios und
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bei allen Göttern, zu halten, was du mir vorsprachst.
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Medeia: Genug! Was aber soll dich treffen, wenn du diesen Schwur nicht
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hältst?
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Aigeus: Alles, was meineidigen Menschen widerfährt.
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Medeia: So wünsche ich dir Glück zur Reise. Alles steht ja gut. Und ich will
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möglichst rasch in dein Land eilen, wenn ich mein Vorhaben ausgeführt
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und meinen Wunsch erfüllt habe.
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Chor: So lasse dich Maias Sohn, der geleitende Herrscher[8], heimgelangen!
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Mögest du erreichen, worauf du so eifrig Tun und Denken richtest, denn für
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mich, Aigeus, bist du ein edler Mann.
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Medeia: O Zeus, Recht des Zeus und Licht des Helios! Jetzt, liebe
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Freundinnen, werden wir über unsere Feinde triumphieren, jetzt sind wir
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auf dem rechten Weg. Nun darf ich auf Bestrafung meiner Feinde hoffen.
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Denn dieser Mann erschien in höchster Not als rettender Hafen für meine
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Pläne. An ihm knüpfe ich Haltetaue des Achterschiffs fest, wenn ich zu
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Stadt und Burg der Pallas[9] komme. Doch nun will ich dir meinen ganzen
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Plan enthüllen; du aber halte meine Worte nicht für einen Scherz!
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Ich schicke eine meiner Dienerinnen und bitte Iason, zu mir herzukommen.
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Kommt er, will ich ihm sanfte Worte geben, sagen, daß ich ihm zustimme
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und daß die Ehe mit der Königstochter trotz des Verrates gut und richtig
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sei; sie sei auch vorteilhaft und wohlerwogen. Dann bitte ich, daß meine
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Kinder bleiben dürfen. Ich will zwar meine Kleinen nicht im Feindesland
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zurücklassen, so daß die Gegner sie mißhandeln, aber ich will die
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Königstochter mit einer List töten. Ich werde nämlich die Kinder mit Gaben
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in der Hand schicken, die sie der jungen Frau bringen sollen, um nicht
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verbannt zu werden. Ein hauchzartes Gewand ist es und ein goldener
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Kranz. Nimmt sie jedoch den Schmuck und legt ihn an, wird sie und jeder,
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der sie nur berührt, in Qualen sterben. Mit solchem Gift will ich die Gaben
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tränken.
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Doch genug, kein Wort mehr! Aber ach! Welch schweres Werk muß ich
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dann tun! Ich muß die eigenen Kinder töten, und es gibt niemand, der sie
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mir entreißt. Und habe ich dann Iasons ganzes Haus zerstört, verlasse ich
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das Land und fliehe, nach dem ärgsten Frevel, dem Mord an meinen
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liebsten Kindern. Denn unerträglich ist, ihr Lieben, meiner Feinde Spott.
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Sei's drum! Was bringt das Leben mir noch an Gewinn? Ich habe kein
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Vaterland, kein Obdach, keine Zuflucht im Unglück. Ich handelte damals
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falsch, als ich das Vaterhaus verließ, durch eines Griechen Wort betört; der
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soll mir, so Gott will, es büßen. Denn was an mir liegt, sieht er seine Kinder
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nie mehr lebend wieder, und mit der neuen Frau zeugt er keinen Sohn, weil
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sie, die Böse, durch mein Gift bös sterben muß. Man soll mich nicht für
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feige, kraftlos oder träge halten, sondern für eine vom andern Schlag, den
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Feinden furchtbar, Freunden wohlgesinnt. Das Leben solcher Menschen
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bringt ja höchsten Ruhm.
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Chor: Da du uns deinen Plan verrätst, rate ich dir dringend ab, denn ich
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möchte dir helfen, achte aber auch die menschlichen Gesetze.
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Medeia: Es gibt keinen anderen Weg. Doch ist verzeihlich, daß du so
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sprichst, da du kein solches Leid erfuhrst wie ich.
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Chor: Bringst du es wirklich fertig, Weib, dein eigen Fleisch und Blut zu
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töten?
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Medeia: Ja! Denn das trifft meinen Mann am schwersten.
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Chor: Doch du wirst so die unseligste Frau.
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Medeia: Mag sein! Umsonst versuchst du zu vermitteln. – Auf! Geh und
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hole Iason her. Denn wenn's um treue Dienste geht, bau ich auf dich.
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Verschweige aber meinen Plan, wenn du es gut mit deiner Herrin meinst
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und ein rechtes Weib bist.

[1] Pandion: König von Athen
[2] Orakelstätte: Hier ist das Orakel von Delphi gemeint, welches die wichtigste Weissagungsstätte im antiken Griechenland ist.
[3] Das Ehejoch ist mir nicht fremd: Aigeus war der Sage nach, mehrmals verheiratet
[4] Phoibos: Beiname des Gottes Apollon, Gott des Lichts, der Heilung, der sichtlichen Reinheit und des Frühlings
[5] Bis ich zum Herd der Väter heimgelangt: Der antike Autor Plutarch, versteht und formuliert die Weisung des delphischen Orakles so, dass er Aigeus riet nicht eher eine Frau zu berühren, ehe er nach Athen zurückgekehrt ist.
[6] Troizen: Stadt an der Ostküste der griechischen Halbinsel Peloponnes
[7] Ich mache deiner Kinderlosigkeit ein Ende und bewirke, daß du fruchtbar wirst; die Mittel dazu kenne ich: Medeia besaß der Sage nach, die Macht über die männliche Potenz und die Fähigkeit, Männer zu verjüngen.
[8] geleitende Herrscher: Hier ist Hermes gemeint, Götterbote und Schutzgott der Reisenden und des Verkehrs.
[9] Pallas: Hier ist die Göttin Pallas Athene gemeint, der Sage nach ist sie die Namensgeberin der Stadt Athen.

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