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Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

Sechster Auftritt

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Iphigenie. Thoas. Orest.
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Iphigenie: Befreit von Sorge mich, eh ihr zu sprechen
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Beginnet. Ich befürchte bösen Zwist,
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Wenn du, o König, nicht der Billigkeit
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Gelinde Stimme hörest; du, mein Bruder,
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Der raschen Jugend nicht gebieten willst.
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Thoas: Ich halte meinen Zorn, wie es dem Ältern
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Geziemt, zurück. Antworte mir! Womit
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Bezeugst du, daß du Agamemnons Sohn
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Und dieser Bruder bist?
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Orest: Hier ist das Schwert,
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Mit dem er Trojas tapfre Männer schlug.
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Dies nahm ich seinem Mörder ab und bat
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Die Himmlischen, den Mut und Arm, das Glück
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Des großen Königes mir zu verleihn
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Und einen schönern Tod mir zu gewähren.
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Wähl einen aus den Edeln deines Heers
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Und stelle mir den Besten gegenüber!
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So weit die Erde Heldensöhne nährt,
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Ist keinem Fremdling dies Gesuch verweigert.
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Thoas: Dies Vorrecht hat die alte Sitte nie
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Dem Fremden hier gestattet.
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Orest: So beginne
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Die neue Sitte denn von dir und mir!
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Nachahmend heiliget ein ganzes Volk
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Die edle Tat der Herrscher zum Gesetz.
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Und laß mich nicht allein für unsre Freiheit,
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Laß mich, den Fremden, für die Fremden kämpfen!
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Fall ich, so ist ihr Urteil mit dem meinen
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Gesprochen; aber gönnet mir das Glück
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Zu überwinden, so betrete nie
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Ein Mann dies Ufer, dem der schnelle Blick
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Hülfreicher Liebe nicht begegnet, und
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Getröstet scheide jeglicher hinweg!
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Thoas: Nicht unwert scheinest du, o Jüngling, mir
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Der Ahnherrn, deren du dich rühmst, zu sein.
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Groß ist die Zahl der edeln, tapfern Männer,
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Die mich begleiten; dich ich stehe selbst
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In meinen Jahren noch dem Feinde, bin
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Bereit, mit dir der Waffen Los zu wagen.
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Iphigenie: Mitnichten! Dieses blutigen Beweises
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Bedarf es nicht, o König! Laßt die Hand
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Vom Schwerte! Denkt an mich und mein Geschick.
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Der rasche Kampf verewigt einen Mann:
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Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.
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Allein die Tränen, die unendlichen,
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Der überbliebnen, der verlaßnen Frau
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Zählt keine Nachwelt, und der Dichter schweigt
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Von tausend durchgeweinten Tag' und Nächten,
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Wo eine stille Seele den verlornen,
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Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich
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Zurückzurufen bangt und sich verzehrt.
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Mich selbst hat eine Sorge gleich gewarnt,
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Daß der Betrug nicht eines Räubers mich
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Vom sichern Schutzort reiße, mich der Knechtschaft
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Verrate. Fleißig hab ich sie befragt,
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Nach jedem Umstand mich erkundigt, Zeichen
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Gefordert, und gewiß ist nun mein Herz.
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Sieh hier an seiner rechten Hand das Mal
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Wie von drei Sternen, das am Tage schon,
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Da er geboren ward, sich zeigte, das
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Auf schwere Tat, mit dieser Faust zu üben,
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Der Priester deutete. Dann überzeugt
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Mich doppelt diese Schramme, die ihm hier
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Die Augenbraune spaltet. Als ein Kind
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Ließ ihn Elektra, rasch und unvorsichtig
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Nach ihrer Art, aus ihren Armen stürzen.
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Er schlug auf einen Dreifuß auf – Er ist's –
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Soll ich dir noch die Ähnlichkeit des Vaters,
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Soll ich das innre Jauchzen meines Herzens
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Dir auch als Zeugen der Versichrung nennen?
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Thoas: Und hübe deine Rede jeden Zweifel
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Und bändigt ich den Zorn in meiner Brust.
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So würden doch die Waffen zwischen uns
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Entscheiden müssen; Frieden seh ich nicht.
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Sie sind gekommen, du bekennest selbst,
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Das heil'ge Bild der Göttin mir zu rauben.
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Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an?
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Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge
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Den fernen Schätzen der Barbaren zu,
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Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern;
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Doch führte sie Gewalt und List nicht immer
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Mit den erlangten Gütern glücklich heim.
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Orest: Das Bild, o König, soll uns nicht entzweien!
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Jetzt kennen wir den Irrtum, den ein Gott
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Wie einen Schleier um das Haupt uns legte,
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Da er den Weg hierher uns wandern hieß.
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Um Rat und um Befreiung bat ich ihn
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Von dem Geleit der Furien; er sprach:
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»Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer
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Im Heiligtume wider Willen bleibt,
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Nach Griechenland, so löset sich der Fluch.«
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Wir legten's von Apollens Schwester aus,
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Und er gedachte dich! Die strengen Bande
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Sind nun gelöst; du bist den Deinen wieder,
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Du Heilige, geschenkt. Von dir berührt,
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War ich geheilt; in deinen Armen faßte
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Das Übel mich mit allen seinen Klauen
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Zum letztenmal und schüttelte das Mark
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Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's
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Wie eine Schlange zu der Höhle. Neu
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Genieß ich nun durch dich das weite Licht
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Des Tages. Schön und herrlich zeigt sich mir
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Der Göttin Rat. Gleich einem heil'gen Bilde,
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Daran der Stadt unwandelbar Geschick
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Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist,
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Nahm sie dich weg, dich Schützerin des Hauses;
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Bewahrte dich in einer heil'gen Stille
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Zum Segen deines Bruders und der Deinen.
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Da alle Rettung auf der weiten Erde
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Verloren schien, gibst du uns alles wieder.
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Laß deine Seele sich zum Frieden wenden,
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O König! Hindre nicht, daß sie die Weihe
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Des väterlichen Hauses nun vollbringe,
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Mich der entsühnten Halle wiedergebe,
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Mir auf das Haupt die alte Krone drücke!
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Vergilt den Segen, den sie dir gebracht,
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Und laß des nähern Rechtes mich genießen!
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Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm,
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Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele
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Beschämt, und reines, kindliches Vertrauen
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Zu einem edeln Manne wird belohnt.
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Iphigenie: Denk an dein Wort, und laß durch diese Rede
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Aus einem graden, treuen Munde dich
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Bewegen! Sieh uns an! Du hast nicht oft
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Zu solcher edeln Tat Gelegenheit.
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Versagen kannst du's nicht; gewähr es bald!
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Thoas: So geht!
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Iphigenie: Nicht so, mein König! Ohne Segen,
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In Widerwillen scheid ich nicht von dir.
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Verbann uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte
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Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig
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Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer,
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Wie mir mein Vater war, so bist du's mir,
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Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.
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Bringt der Geringste deines Volkes je
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Den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück,
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Den ich an euch gewohnt zu hören bin,
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Und seh ich an dem Ärmsten eure Tracht:
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Empfangen will ich ihn wie einen Gott,
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Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,
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Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden
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Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen.
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O geben dir die Götter deiner Taten
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Und deiner Milde wohlverdienten Lohn!
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Leb wohl! O wende dich zu uns und gib
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Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück!
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Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an,
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Und Tränen fließen lindernder vom Auge
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Des Scheidenden. Leb wohl! und reiche mir
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Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte.
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Thoas: Lebt wohl!

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