Siebtes Kapitel
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Advokat – Fabrikant – Maler
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An einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee im trüben Licht – saß K.,
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trotz der frühen Stunde schon äußerst müde, in seinem Büro. Um sich
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wenigstens vor den unteren Beamten zu schützen, hatte er dem Diener den
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Auftrag gegeben, niemanden von ihnen einzulassen, da er mit einer
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größeren Arbeit beschäftigt sei. Aber statt zu arbeiten, drehte er sich in
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seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ
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dann aber, ohne es zu wissen, den ganzen Arm ausgestreckt auf der
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Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen.
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Der Gedanke an den Prozeß verließ ihn nicht mehr. Öfters schon hatte er
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überlegt, ob es nicht gut wäre, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten und
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bei Gericht einzureichen. Er wollte darin eine kurze Lebensbeschreibung
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vorlegen und bei jedem irgendwie wichtigeren Ereignis erklären, aus
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welchen Gründen er so gehandelt hatte, ob diese Handlungsweise nach
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seinem gegenwärtigen Urteil zu verwerfen oder zu billigen war und welche
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Gründe er für dieses oder jenes anführen konnte. Die Vorteile einer solchen
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Verteidigungsschrift gegenüber der bloßen Verteidigung durch den
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übrigens auch sonst nicht einwandfreien Advokaten waren zweifellos. K.
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wußte ja gar nicht, was der Advokat unternahm; viel war es jedenfalls nicht,
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schon einen Monat lang hatte er ihn nicht mehr zu sich berufen, und auch
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bei keiner der früheren Besprechungen hatte K. den Eindruck gehabt, daß
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dieser Mann viel für ihn erreichen könne. Vor allem hatte er ihn fast gar
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nicht ausgefragt. Und hier war doch so viel zu fragen. Fragen war die
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Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragen
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stellen könnte. Der Advokat dagegen, statt zu fragen, erzählte selbst oder
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saß ihm stumm gegenüber, beugte sich, wahrscheinlich wegen seines
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schwachen Gehörs, ein wenig über den Schreibtisch vor, zog an einem
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Bartstrahn innerhalb seines Bartes und blickte auf den Teppich nieder,
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vielleicht gerade auf die Stelle, wo K. mit Leni gelegen war. Hier und da gab
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er K. einige leere Ermahnungen, wie man sie Kindern gibt. Ebenso nutzlose
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wie langweilige Reden, die K. in der Schlußabrechnung mit keinem Heller
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zu bezahlen gedachte. Nachdem der Advokat ihn genügend gedemütigt zu
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haben glaubte, fing er gewöhnlich an, ihn wieder ein wenig aufzumuntern.
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Er habe schon, erzählte er dann, viele ähnliche Prozesse ganz oder
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teilweise gewonnen. Prozesse, die, wenn auch in Wirklichkeit vielleicht
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nicht so schwierig wie dieser, äußerlich noch hoffnungsloser waren. Ein
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Verzeichnis dieser Prozesse habe er hier in der Schublade – hierbei klopfte
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er an irgendeine Lade des Tisches – die Schriften könne er leider nicht
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zeigen, da es sich um Amtsgeheimnisse handle. Trotzdem komme jetzt
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natürlich die große Erfahrung, die er durch alle diese Prozesse erworben
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habe, K. zugute. Er habe natürlich sofort zu arbeiten begonnen, und die
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erste Eingabe sei schon fast fertiggestellt. Sie sei sehr wichtig, weil der
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erste Eindruck, den die Verteidigung mache, oft die ganze Richtung des
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Verfahrens bestimme. Leider, darauf müsse er K. allerdings aufmerksam
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machen, geschehe es manchmal, daß die ersten Eingaben bei Gericht gar
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nicht gelesen würden. Man lege sie einfach zu den Akten und weise darauf
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hin, daß vorläufig die Einvernahme und Beobachtung des Angeklagten
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wichtiger sei als alles Geschriebene. Man fügt, wenn der Petent dringlich
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wird, hinzu, daß man vor der Entscheidung, sobald alles Material
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gesammelt ist, im Zusammenhang natürlich, alle Akten, also auch diese
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erste Eingabe, überprüfen wird. Leider sei aber auch dies meistens nicht
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richtig, die erste Eingabe werde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich
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verloren, und selbst wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werde sie, wie
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der Advokat allerdings nur gerüchtweise erfahren hat, kaum gelesen. Das
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alles sei bedauerlich, aber nicht ganz ohne Berechtigung. K. möge doch
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nicht außer acht lassen, daß das Verfahren nicht öffentlich sei, es kann,
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wenn das Gericht es für nötig hält, öffentlich werden, das Gesetz aber
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schreibt Öffentlichkeit nicht vor. Infolgedessen sind auch die Schriften des
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Gerichts, vor allem die Anklageschrift, dem Angeklagten und seiner
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Verteidigung unzugänglich, man weiß daher im allgemeinen nicht oder
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wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu richten hat, sie
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kann daher eigentlich nur zufälligerweise etwas enthalten, was für die
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Sache von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende und beweisführende
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Eingaben kann man erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der
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Einvernahmen des Angeklagten die einzelnen Anklagepunkte und ihre
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Begründung deutlicher hervortreten oder erraten werden können. Unter
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diesen Verhältnissen ist natürlich die Verteidigung in einer sehr
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ungünstigen und schwierigen Lage. Aber auch das ist beabsichtigt. Die
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Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz nicht eigentlich gestattet,
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sondern nur geduldet, und selbst darüber, ob aus der betreffenden
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Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll, besteht
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Streit. Es gibt daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten
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Advokaten, alle, die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind im
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Grunde nur Winkeladvokaten. Das wirkt natürlich auf den ganzen Stand
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sehr entwürdigend ein, und wenn K. nächstens einmal in die
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Gerichtskanzleien gehen werde, könne er sich ja, um auch das einmal
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gesehen zu haben, das Advokatenzimmer ansehen. Er werde vor der
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Gesellschaft, die dort beisammen sei, vermutlich erschrecken. Schon die
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ihnen zugewiesene enge, niedrige Kammer zeige die Verachtung, die das
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Gericht für diese Leute hat. Licht bekommt die Kammer nur durch eine
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kleine Luke, die so hochgelegen ist, daß man, wenn man hinausschauen
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will, wo einem übrigens der Rauch eines knapp davor gelegenen Kamins in
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die Nase fährt und das Gesicht schwärzt, erst einen Kollegen suchen muß,
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der einen auf den Rücken nimmt. Im Fußboden dieser Kammer – um nur
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noch ein Beispiel für diese Zustände anzuführen – ist nun schon seit mehr
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als einem Jahr ein Loch, nicht so groß, daß ein Mensch durchfallen könnte,
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aber groß genug, daß man mit einem Bein ganz einsinkt. Das
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Advokatenzimmer liegt auf dem zweiten Dachboden; sinkt also einer ein, so
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hängt das Bein in den ersten Dachboden hinunter, und zwar gerade in den
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Gang, wo die Parteien warten. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man in
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Advokatenkreisen solche Verhältnisse schändlich nennt. Beschwerden an
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die Verwaltung haben nicht den geringsten Erfolg, wohl aber ist es den
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Advokaten auf das strengste verboten, irgend etwas in dem Zimmer auf
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eigene Kosten ändern zu lassen. Aber auch diese Behandlung der
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Advokaten hat ihre Begründung. Man will die Verteidigung möglichst
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ausschalten, alles soll auf den Angeklagten selbst gestellt sein. Kein
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schlechter Standpunkt im Grunde, nichts wäre aber verfehlter, als daraus
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zu folgern, daß bei diesem Gericht die Advokaten für den Angeklagten
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unnötig sind. Im Gegenteil, bei keinem anderen Gericht sind sie so
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notwendig wie bei diesem. Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen nicht
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nur vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor dem Angeklagten.
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Natürlich nur soweit dies möglich ist, es ist aber in sehr weitem Ausmaß
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möglich. Auch der Angeklagte hat nämlich keinen Einblick in die
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Gerichtsschriften, und aus den Verhören auf die ihnen zugrunde liegenden
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Schriften zu schließen, ist sehr schwierig, insbesondere aber für den
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Angeklagten, der doch befangen ist und alle möglichen Sorgen hat, die ihn
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zerstreuen. Hier greift nun die Verteidigung ein. Bei den Verhören dürfen im
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allgemeinen Verteidiger nicht anwesend sein, sie müssen daher nach den
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Verhören, und zwar möglichst noch an der Tür des Untersuchungszimmers,
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den Angeklagten über das Verhör ausforschen und diesen oft schon sehr
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vermischten Berichten das für die Verteidigung Taugliche entnehmen. Aber
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das Wichtigste ist dies nicht, denn viel kann man auf diese Weise nicht
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erfahren, wenn natürlich auch hier wie überall ein tüchtiger Mann mehr
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erfährt als andere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die persönlichen
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Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt der Hauptwert der Verteidigung.
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Nun habe ja wohl K. schon seinen eigenen Erlebnissen entnommen, daß
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die allerunterste Organisation des Gerichtes nicht ganz vollkommen ist,
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pflichtvergessene und bestechliche Angestellte aufweist, wodurch
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gewissermaßen die strenge Abschließung des Gerichtes Lücken bekommt.
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Hier nun drängt sich die Mehrzahl der Advokaten ein, hier wird bestochen
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und ausgehorcht, ja es kamen, wenigstens in früherer Zeit, sogar Fälle von
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Aktendiebstählen vor. Es ist nicht zu leugnen, daß auf diese Weise für den
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Augenblick einige sogar überraschend günstige Resultate für den
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Angeklagten sich erzielen lassen, damit stolzieren auch diese kleinen
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Advokaten herum und locken neue Kundschaft an, aber für den weiteren
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Fortgang des Prozesses bedeutet es entweder nichts oder nichts Gutes.
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Wirklichen Wert aber haben nur ehrliche persönliche Beziehungen, und
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zwar mit höheren Beamten, womit natürlich nur höhere Beamten der
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unteren Grade gemeint sind. Nur dadurch kann der Fortgang des
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Prozesses, wenn auch zunächst nur unmerklich, später aber immer
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deutlicher beeinflußt werden. Das können natürlich nur wenige Advokaten,
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und hier sei die Wahl K.s sehr günstig gewesen. Nur noch vielleicht ein
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oder zwei Advokaten könnten sich mit ähnlichen Beziehungen ausweisen
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wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdings um die Gesellschaft im
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Advokatenzimmer nicht und haben auch nichts mit ihr zu tun. Um so enger
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sei aber die Verbindung mit den Gerichtsbeamten. Es sei nicht einmal
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immer nötig, daß Dr. Huld zu Gericht gehe, in den Vorzimmern der
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Untersuchungsrichter auf ihr zufälliges Erscheinen warte und je nach ihrer
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Laune einen meist nur scheinbaren Erfolg erziele oder auch nicht einmal
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diesen. Nein, K. habe es ja selbst gesehen, die Beamten, und darunter recht
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hohe, kommen selbst, geben bereitwillig Auskunft, offene oder wenigstens
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leicht deutbare, besprechen den nächsten Fortgang der Prozesse, ja sie
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lassen sich sogar in einzelnen Fällen überzeugen und nehmen die fremde
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Ansicht gern an. Allerdings dürfe man ihnen gerade in dieser letzteren
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Hinsicht nicht allzusehr vertrauen, so bestimmt sie ihre neue, für die
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Verteidigung günstige Absicht auch aussprechen, gehen sie doch vielleicht
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geradewegs in ihre Kanzlei und geben für den nächsten Tag einen
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Gerichtsbeschluß, der gerade das Entgegengesetzte enthält und vielleicht
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für den Angeklagten noch viel strenger ist als ihre erste Absicht, von der
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sie gänzlich abgekommen zu sein behaupteten. Dagegen könne man sich
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natürlich nicht wehren, denn das, was sie zwischen vier Augen gesagt
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haben, ist eben auch nur zwischen vier Augen gesagt und lasse keine
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öffentliche Folgerung zu, selbst wenn die Verteidigung nicht auch sonst
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bestrebt sein müßte, sich die Gunst der Herren zu erhalten. Andererseits
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sei es allerdings auch richtig, daß die Herren nicht etwa nur aus
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Menschenliebe oder aus freundschaftlichen Gefühlen sich mit der
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Verteidigung, natürlich nur mit einer sachverständigen Verteidigung, in
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Verbindung setzen, sie sind vielmehr in gewisser Hinsicht auch auf sie
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angewiesen. Hier mache sich eben der Nachteil einer Gerichtsorganisation
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geltend, die selbst in ihren Anfängen das geheime Gericht festsetzt. Den
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Beamten fehlt der Zusammenhang mit der Bevölkerung, für die
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gewöhnlichen, mittleren Prozesse sind sie gut ausgerüstet, ein solcher
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Prozeß rollt fast von selbst auf seiner Bahn ab und braucht nur hier und da
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einen Anstoß, gegenüber den ganz einfachen Fällen aber, wie auch
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gegenüber den besonders schwierigen sind sie oft ratlos, sie haben, weil
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sie fortwährend, Tag und Nacht, in ihr Gesetz eingezwängt sind, nicht den
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richtigen Sinn für menschliche Beziehungen, und das entbehren sie in
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solchen Fällen schwer. Dann kommen sie zum Advokaten um Rat, und
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hinter ihnen trägt ein Diener die Akten, die sonst so geheim sind. An
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diesem Fenster hätte man manche Herren, von denen man es am wenigsten
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erwarten würde, antreffen können, wie sie geradezu trostlos auf die Gasse
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hinaussahen, während der Advokat an seinem Tisch die Akten studierte,
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um ihnen einen guten Rat geben zu können. Übrigens könne man gerade
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bei solchen Gelegenheiten sehen, wie ungemein ernst die Herren ihren
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Beruf nehmen und wie sie über Hindernisse, die sie ihrer Natur nach nicht
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bewältigen können, in große Verzweiflung geraten. Ihre Stellung sei auch
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sonst nicht leicht, man dürfe ihnen nicht Unrecht tun und ihre Stellung
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nicht für leicht ansehen. Die Rangordnung und Steigerung des Gerichtes
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sei unendlich und selbst für den Eingeweihten nicht absehbar. Das
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Verfahren vor den Gerichtshöfen sei aber im allgemeinen auch für die
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unteren Beamten geheim, sie können daher die Angelegenheiten, die sie
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bearbeiten, in ihrem ferneren Weitergang kaum jemals vollständig
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verfolgen, die Gerichtssache erscheint also in ihrem Gesichtskreis, ohne
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daß sie oft wissen, woher sie kommt, und sie geht weiter, ohne daß sie
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erfahren, wohin. Die Belehrung also, die man aus dem Studium der
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einzelnen Prozeßstadien, der schließlichen Entscheidung und ihrer Gründe
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schöpfen kann, entgeht diesen Beamten. Sie dürfen sich nur mit jenem Teil
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des Prozesses befassen, der vom Gesetz für sie abgegrenzt ist, und wissen
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von dem Weiteren, also von den Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit, meist
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weniger als die Verteidigung, die doch in der Regel fast bis zum Schluß des
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Prozesses mit dem Angeklagten in Verbindung bleibt. Auch in dieser
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Richtung also können sie von der Verteidigung manches Wertvolle
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erfahren. Wundere sich K. noch, wenn er alles dieses im Auge behalte, über
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die Gereiztheit der Beamten, die sich manchmal den Parteien gegenüber in
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– jeder mache diese Erfahrung – beleidigender Weise äußert. Alle Beamten
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seien gereizt, selbst wenn sie ruhig scheinen. Natürlich haben die kleinen
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Advokaten besonders viel darunter zu leiden. Man erzählt zum Beispiel
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folgende Geschichte, die sehr den Anschein der Wahrheit hat. Ein alter
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Beamter, ein guter, stiller Herr, hatte eine schwierige Gerichtssache, welche
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besonders durch die Eingaben des Advokaten verwickelt worden war, einen
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Tag und eine Nacht ununterbrochen studiert – diese Beamten sind
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tatsächlich fleißig, wie niemand sonst. – Gegen Morgen nun, nach
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vierundzwanzigstündiger, wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeit, ging
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er zur Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhalt und warf jeden Advokaten,
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der eintreten wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich
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unten auf dem Treppenabsatz und berieten, was sie tun sollten; einerseits
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haben sie keinen eigentlichen Anspruch darauf, eingelassen zu werden,
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können daher rechtlich gegen den Beamten kaum etwas unternehmen und
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müssen sich, wie schon erwähnt, auch hüten, die Beamtenschaft gegen
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sich aufzubringen. Andererseits aber ist jeder nicht bei Gericht verbrachte
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Tag für sie verloren, und es lag ihnen also viel daran einzudringen.
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schließlich einigten sie sich darauf, daß sie den alten Herrn ermüden
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wollten. Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die Treppe
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hinauflief und sich dann unter möglichstem, allerdings passivem
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Widerstand hinunterwerfen ließ, wo er dann von den Kollegen aufgefangen
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wurde. Das dauerte etwa eine Stunde, dann wurde der alte Herr, er war ja
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auch von der Nachtarbeit schon erschöpft, wirklich müde und ging in seine
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Kanzlei zurück. Die unten wollten es erst gar nicht glauben und schickten
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zuerst einen aus, der hinter der Tür nachsehen sollte, ob dort wirklich leer
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war. Dann erst zogen sie ein und wagten wahrscheinlich nicht einmal zu
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murren. Denn den Advokaten – und selbst der Kleinste kann doch die
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Verhältnisse wenigstens zum Teil übersehen – liegt es vollständig ferne, bei
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Gericht irgendwelche Verbesserungen einführen oder durchsetzen zu
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wollen, während – und dies ist sehr bezeichnend – fast jeder Angeklagte,
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selbst ganz einfältige Leute, gleich beim allerersten Eintritt in den Prozeß
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an Verbesserungsvorschläge zu denken anfangen und damit oft Zeit und
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Kraft verschwenden, die anders viel besser verwendet werden könnten.
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Das einzig Richtige sei es, sich mit den vorhandenen Verhältnissen
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abzufinden. Selbst wenn es möglich wäre, Einzelheiten zu verbessern – es
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ist aber ein unsinniger Aberglaube -, hätte man bestenfalls für künftige
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Fälle etwas erreicht, sich selbst aber unermeßlich dadurch geschadet, daß
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man die besondere Aufmerksamkeit der immer rachsüchtigen
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Beamtenschaft erregt hat. Nur keine Aufmerksamkeit erregen! Sich ruhig
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verhalten, selbst wenn es einem noch so sehr gegen den Sinn geht!
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Einzusehen versuchen, daß dieser große Gerichtsorganismus
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gewissermaßen ewig in der Schwebe bleibt und daß man zwar, wenn man
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auf seinem Platz selbständig etwas ändert, den Boden unter den Füßen
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sich wegnimmt und selbst abstürzen kann, während der große Organismus
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sich selbst für die kleine Störung leicht an einer anderen Stelle – alles ist
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doch in Verbindung – Ersatz schafft und unverändert bleibt, wenn er nicht
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etwa, was sogar wahrscheinlich ist, noch geschlossener, noch
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aufmerksamer, noch strenger, noch böser wird. Man überlasse doch die
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Arbeit dem Advokaten, statt sie zu stören. Vorwürfe nützen ja nicht viel,
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besonders wenn man ihre Ursachen in ihrer ganzen Bedeutung nicht
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begreiflich machen kann, aber gesagt müsse es doch werden, wieviel K.
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seiner Sache durch das Verhalten gegenüber dem Kanzleidirektor
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geschadet habe. Dieser einflußreiche Mann sei aus der Liste jener, bei
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denen man für K. etwas unternehmen könne, schon fast zu streichen.
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Selbst flüchtige Erwähnungen des Prozesses überhöre er mit deutlicher
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Absicht. In manchem seien ja die Beamten wie Kinder. Oft können sie durch
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Harmlosigkeiten, unter die allerdings K.s Verhalten leider nicht gehöre,
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derartig verletzt werden, daß sie selbst mit guten Freunden zu reden
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aufhören, sich von ihnen abwenden, wenn sie ihnen begegnen, und ihnen
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in allem möglichen entgegenarbeiten. Dann aber einmal,
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überraschenderweise ohne besonderen Grund, lassen sie sich durch einen
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kleinen Scherz, den man nur deshalb wagt, weil alles aussichtslos scheint,
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zum Lachen bringen und sind versöhnt. Es sei eben gleichzeitig schwer
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und leicht, sich mit ihnen zu verhalten, Grundsätze dafür gibt es kaum.
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Manchmal sei es zum Verwundern, daß ein einziges Durchschnittsleben
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dafür hinreiche, um so viel zu erfassen, daß man hier mit einigem Erfolg
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arbeiten könne. Es kommen allerdings trübe Stunden, wie sie ja jeder hat,
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wo man glaubt, nicht das geringste erzielt zu haben, wo es einem scheint,
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als hätten nur die von Anfang an für einen guten Ausgang bestimmten
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Prozesse ein gutes Ende genommen, wie es auch ohne Mithilfe geschehen
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wäre, während alle anderen verlorengegangen sind, trotz allem
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Nebenherlaufen, aller Mühe, allen kleinen, scheinbaren Erfolgen, über die
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man solche Freude hatte. Dann scheint einem allerdings nichts mehr
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sicher, und man würde auf bestimmte Fragen hin nicht einmal zu leugnen
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wagen, daß man ihrem Wesen nach gut verlaufende Prozesse gerade durch
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die Mithilfe auf Abwege gebracht hat. Auch das ist ja eine Art
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Selbstvertrauen, aber es ist das einzige, das dann übrigbleibt. Solchen
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Anfällen – es sind natürlich nur Anfälle, nichts weiter – sind Advokaten
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besonders dann ausgesetzt, wenn ihnen ein Prozeß, den sie weit genug
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und zufriedenstellend geführt haben, plötzlich aus der Hand genommen
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wird. Das ist wohl das Ärgste, das einem Advokaten geschehen kann. Nicht
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etwa durch den Angeklagten wird ihnen der Prozeß entzogen, das
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geschieht wohl niemals, ein Angeklagter, der einmal einen bestimmten
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Advokaten genommen hat, muß bei ihm bleiben, geschehe was immer. Wie
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könnte er sich überhaupt, wenn er einmal Hilfe in Anspruch genommen hat,
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allein noch erhalten? Das geschieht also nicht, wohl aber geschieht es
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manchmal, daß der Prozeß eine Richtung nimmt, wo der Advokat nicht
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mehr mitkommen darf. Der Prozeß und der Angeklagte und alles wird dem
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Advokaten einfach entzogen; dann können auch die besten Beziehungen
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zu den Beamten nicht mehr helfen, denn sie selbst wissen nichts. Der
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Prozeß ist eben in ein Stadium getreten, wo keine Hilfe mehr geleistet
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werden darf, wo ihn unzugängliche Gerichtshöfe bearbeiten, wo auch der
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Angeklagte für den Advokaten nicht mehr erreichbar ist. Man kommt dann
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eines Tages nach Hause und findet auf seinem Tisch alle die vielen
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Eingaben, die man mit allem Fleiß und mit den schönsten Hoffnungen in
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dieser Sache gemacht hat, sie sind zurückgestellt worden, da sie in das
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neue Prozeßstadium nicht übertragen werden dürfen, es sind wertlose
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Fetzen. Dabei muß der Prozeß noch nicht verloren sein, durchaus nicht,
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wenigstens liegt kein entscheidender Grund für diese Annahme vor, man
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weiß bloß nichts mehr von dem Prozeß und wird auch nichts mehr von ihm
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erfahren. Nun sind ja solche Fälle glücklicherweise Ausnahmen, und selbst
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wenn K.s Prozeß ein solcher Fall sein sollte, sei er doch vorläufig noch weit
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von solchem Stadium entfernt. Hier sei aber noch reichliche Gelegenheit
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für Advokatenarbeit gegeben, und daß sie ausgenutzt werde, dessen dürfe
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K. sicher sein. Die Eingabe sei, wie erwähnt, noch nicht überreicht, das eile
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aber auch nicht, viel wichtiger seien die einleitenden Besprechungen mit
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maßgebenden Beamten, und die hätten schon stattgefunden. Mit
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verschiedenem Erfolg, wie offen zugestanden werden soll. Es sei viel
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besser, vorläufig Einzelheiten nicht zu verraten, durch die K. nur ungünstig
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beeinflußt und allzu hoffnungsfreudig oder allzu ängstlich gemacht werden
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könnte, nur so viel sei gesagt, daß sich einzelne sehr günstig
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ausgesprochen und sich auch sehr bereitwillig gezeigt haben, während
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andere sich weniger günstig geäußert, aber doch ihre Mithilfe keineswegs
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verweigert haben. Das Ergebnis sei also im ganzen sehr erfreulich, nur
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dürfe man daraus keine besonderen Schlüsse ziehen, da alle
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Vorverhandlungen ähnlich beginnen und durchaus erst die weitere
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Entwicklung den Wert dieser Vorverhandlungen zeigt. Jedenfalls sei noch
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nichts verloren, und wenn es noch gelingen sollte, den Kanzleidirektor trotz
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allem zu gewinnen – es sei schon verschiedenes zu diesem Zwecke
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eingeleitet -, dann sei das Ganze – wie die Chirurgen sagen – eine reine
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Wunde, und man könne getrost das Folgende erwarten.
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In solchen und ähnlichen Reden war der Advokat unerschöpflich. Sie
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wiederholten sich bei jedem Besuch. Immer gab es Fortschritte, niemals
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aber konnte die Art dieser Fortschritte mitgeteilt werden. Immerfort wurde
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an der ersten Eingabe gearbeitet, aber sie wurde nicht fertig, was sich
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meistens beim nächsten Besuch als großer Vorteil herausstellte, da die
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letzte Zeit, was man nicht hätte voraussehen können, für die Übergabe sehr
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ungünstig gewesen wäre. Bemerkte K. manchmal, ganz ermattet von den
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Reden, daß es doch, selbst unter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten,
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sehr langsam vorwärtsgehe, wurde ihm entgegnet, es gehe gar nicht
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langsam vorwärts, wohl aber wäre man schon viel weiter, wenn K. sich
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rechtzeitig an den Advokaten gewendet hätte. Das hatte er aber leider
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versäumt, und dieses Versäumnis werde auch noch weitere Nachteile
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bringen, nicht nur zeitliche.
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Die einzige wohltätige Unterbrechung dieser Besuche war Leni, die es
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immer so einzurichten wußte, daß sie dem Advokaten in Anwesenheit K.s
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den Tee brachte. Dann stand sie hinter K., sah scheinbar zu, wie der
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Advokat, mit einer Art Gier tief zur Tasse hinabgebeugt, den Tee eingoß
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und trank, und ließ im geheimen ihre Hand von K. erfassen. Es herrschte
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völliges Schweigen. Der Advokat trank. K. drückte Lenis Hand, und Leni
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wagte es manchmal, K.s Haare sanft zu streicheln. »Du bist noch hier?«
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fragte der Advokat, nachdem er fertig war. »Ich wollte das Geschirr
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wegnehmen«, sagte Leni, es gab noch einen letzten Händedruck, der
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Advokat wischte sich den Mund und begann mit neuer Kraft auf K.
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einzureden.
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War es Trost oder Verzweiflung, was der Advokat erreichen wollte? K.
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wußte es nicht, wohl aber hielt er es für feststehend, daß seine
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Verteidigung nicht in guten Händen war. Es mochte ja alles richtig sein, was
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der Advokat erzählte, wenn es auch durchsichtig war, daß er sich möglichst
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in den Vordergrund stellen wollte und wahrscheinlich noch niemals einen
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so großen Prozeß geführt hatte, wie es K.s Prozeß seiner Meinung nach
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war. Verdächtig aber blieben die unaufhörlich hervorgehobenen
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persönlichen Beziehungen zu den Beamten. Mußten sie denn
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ausschließlich zu K.s Nutzen ausgebeutet werden? Der Advokat vergaß nie
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zu bemerken, daß es sich nur um niedrige Beamte handelte, also um
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Beamte in sehr abhängiger Stellung, für deren Fortkommen gewisse
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Wendungen der Prozesse wahrscheinlich von Bedeutung sein konnten.
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Benützten sie vielleicht den Advokaten dazu, um solche für den
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Angeklagten natürlich immer ungünstige Wendungen zu erzielen? Vielleicht
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taten sie das nicht in jedem Prozeß, gewiß, das war nicht wahrscheinlich,
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es gab dann wohl wieder Prozesse, in deren Verlauf sie dem Advokaten für
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seine Dienste Vorteile einräumten, denn es mußte ihnen ja auch daran
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gelegen sein, seinen Ruf ungeschädigt zu erhalten. Verhielt es sich aber
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wirklich so, in welcher Weise würden sie bei K.s Prozeß eingreifen, der, wie
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der Advokat erklärte, ein sehr schwieriger, also wichtiger Prozeß war und
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gleich anfangs bei Gericht große Aufmerksamkeit erregt hatte? Es konnte
363
nicht sehr zweifelhaft sein, was sie tun würden. Anzeichen dessen konnte
364
man ja schon darin sehen, daß die erste Eingabe noch immer nicht
365
überreicht war, obwohl der Prozeß schon Monate dauerte und daß sich
366
alles, den Angaben des Advokaten nach, in den Anfängen befand, was
367
natürlich sehr geeignet war, den Angeklagten einzuschläfern und hilflos zu
368
erhalten, um ihn dann plötzlich mit der Entscheidung zu überfallen oder
369
wenigstens mit der Bekanntmachung, daß die zu seinen Ungunsten
370
abgeschlossene Untersuchung an die höheren Behörden weitergegeben
371
werde.
372
Es war unbedingt nötig, daß K. selbst eingriff. Gerade in Zuständen
373
großer Müdigkeit, wie an diesem Wintervormittag, wo ihm alles willenlos
374
durch den Kopf zog, war diese Überzeugung unabweisbar. Die Verachtung,
375
die er früher für den Prozeß gehabt hatte, galt nicht mehr. Wäre er allein in
376
der Welt gewesen, hätte er den Prozeß leicht mißachten können, wenn es
377
allerdings auch sicher war, daß dann der Prozeß überhaupt nicht
378
entstanden wäre. Jetzt aber hatte ihn der Onkel schon zum Advokaten
379
gezogen, Familienrücksichten sprachen mit; seine Stellung war nicht mehr
380
vollständig unabhängig von dem Verlauf des Prozesses, er selbst hatte
381
unvorsichtigerweise mit einer gewissen unerklärlichen Genugtuung vor
382
Bekannten den Prozeß erwähnt, andere hatten auf unbekannte Weise davon
383
erfahren, das Verhältnis zu Fräulein Bürstner schien entsprechend dem
384
Prozeß zu schwanken – kurz, er hatte kaum mehr die Wahl, den Prozeß
385
anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten darin und mußte sich
386
wehren. War er müde, dann war es schlimm.
387
Zu übertriebener Sorge war allerdings vorläufig kein Grund. Er hatte es
388
verstanden, sich in der Bank in verhältnismäßig kurzer Zeit zu seiner hohen
389
Stellung emporzuarbeiten und sich, von allen anerkannt, in dieser Stellung
390
zu erhalten, er mußte jetzt nur diese Fähigkeiten, die ihm das ermöglicht
391
hatten, ein wenig dem Prozeß zuwenden, und es war kein Zweifel, das es
392
gut ausgehen müßte. Vor allem war es, wenn etwas erreicht werden sollte,
393
notwendig, jeden Gedanken an eine mögliche Schuld von vornherein
394
abzulehnen. Es gab keine Schuld. Der Prozeß war nichts anderes als ein
395
großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für die Bank
396
abgeschlossen hatte, ein Geschäft, innerhalb dessen, wie das die Regel
397
war, verschiedene Gefahren lauerten, die eben abgewehrt werden mußten.
398
Zu diesem Zwecke durfte man allerdings nicht mit Gedanken an irgendeine
399
Schuld spielen, sondern den Gedanken an den eigenen Vorteil möglichst
400
festhalten. Von diesem Gesichtspunkt aus war es auch unvermeidlich, dem
401
Advokaten die Vertretung sehr bald, am besten noch an diesem Abend, zu
402
entziehen. Es war zwar nach seinen Erzählungen etwas Unerhörtes und
403
wahrscheinlich sehr Beleidigendes, aber K. konnte nicht dulden, daß
404
seinen Anstrengungen in dem Prozeß Hindernisse begegneten, die
405
vielleicht von seinem eigenen Advokaten veranlaßt waren. War aber einmal
406
der Advokat abgeschüttelt, dann mußte die Eingabe sofort überreicht und
407
womöglich jeden Tag darauf gedrängt werden, daß man sie berücksichtige.
408
Zu diesem Zwecke würde es natürlich nicht genügen, daß K. wie die
409
anderen im Gang saß und den Hut unter die Bank stellte. Er selbst oder die
410
Frauen oder andere Boten mußten Tag für Tag die Beamten überlaufen und
411
sie zwingen, statt durch das Gitter auf den Gang zu schauen, sich zu ihrem
412
Tisch zu setzen und K.s Eingabe zu studieren. Von diesen Anstrengungen
413
dürfte man nicht ablassen, alles müßte organisiert und überwacht werden,
414
das Gericht sollte einmal auf einen Angeklagten stoßen, der sein Recht zu
415
wahren verstand.
416
Wenn sich aber auch K. dies alles durchzuführen getraute, die
417
Schwierigkeit der Abfassung der Eingabe war überwältigend. Früher, etwa
418
noch vor einer Woche, hatte er nur mit einem Gefühl der Scham daran
419
denken können, daß er einmal genötigt sein könnte, eine solche Eingabe
420
selbst zu machen; daß dies auch schwierig sein konnte, daran hatte er gar
421
nicht gedacht. Er erinnerte sich, wie er einmal an einem Vormittag, als er
422
gerade mit Arbeit überhäuft war, plötzlich alles zur Seite geschoben und
423
den Schreibblock vorgenommen hatte, um versuchsweise den
424
Gedankengang einer derartigen Eingabe zu entwerfen und ihn vielleicht
425
dem schwerfälligen Advokaten zur Verfügung zu stellen, und wie gerade in
426
diesem Augenblick die Tür des Direktionszimmers sich öffnete und der
427
Direktor-Stellvertreter mit großem Gelächter eintrat. Es war für K. damals
428
sehr peinlich gewesen, obwohl der Direktor-Stellvertreter natürlich nicht
429
über die Eingabe gelacht hatte, von der er nichts wußte, sondern über
430
einen Börsenwitz, den er eben gehört hatte, einen Witz, der zum
431
Verständnis eine Zeichnung erforderte, die nun der Direktor-Stellvertreter,
432
über K.s Tisch gebeugt, mit K.s Bleistift, den er ihm aus der Hand nahm,
433
auf dem Schreibblock ausführte, der für die Eingabe bestimmt gewesen
434
war.
435
Heute wußte K. nichts mehr von Scham, die Eingabe mußte gemacht
436
werden. Wenn er im Büro keine Zeit für sie fand, was sehr wahrscheinlich
437
war, dann mußte er sie zu Hause in den Nächten machen. Würden auch die
438
Nächte nicht genügen, dann mußte er einen Urlaub nehmen. Nur nicht auf
439
halbem Wege stehenbleiben, das war nicht nur in Geschäften, sondern
440
immer und überall das Unsinnigste. Die Eingabe bedeutete freilich eine fast
441
endlose Arbeit. Man mußte keinen sehr ängstlichen Charakter haben und
442
konnte doch leicht zu dem Glauben kommen, daß es unmöglich war, die
443
Eingabe jemals fertigzustellen. Nicht aus Faulheit oder Hinterlist, die den
444
Advokaten allein an der Fertigstellung hindern konnten, sondern weil in
445
Unkenntnis der vorhandenen Anklage und gar ihrer möglichen
446
Erweiterungen das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und
447
Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von allen
448
Seiten überprüft werden mußte. Und wie traurig war eine solche Arbeit
449
überdies. Sie war vielleicht geeignet, einmal nach der Pensionierung den
450
kindisch gewordenen Geist zu beschäftigen und ihm zu helfen, die langen
451
Tage hinzubringen. Aber jetzt, wo K. alle Gedanken zu seiner Arbeit
452
brauchte, wo jede Stunde, da er noch im Aufstieg war und schon für den
453
Direktor-Stellvertreter eine Drohung bedeutete, mit größter Schnelligkeit
454
verging und wo er die kurzen Abende und Nächte als junger Mensch
455
genießen wollte, jetzt sollte er mit der Verfassung dieser Eingabe beginnen.
456
Wieder ging sein Denken in Klagen aus. Fast unwillkürlich, nur um dem ein
457
Ende zu machen, tastete er mit dem Finger nach dem Knopf der
458
elektrischen Glocke, die ins Vorzimmer führte. Während er ihn
459
niederdrückte, blickte er zur Uhr auf. Es war elf Uhr, zwei Stunden, eine
460
lange, kostbare Zeit, hatte er verträumt und war natürlich noch matter als
461
vorher. Immerhin war die Zeit nicht verloren, er hatte Entschlüsse gefaßt,
462
die wertvoll sein konnten. Die Diener brachten außer verschiedener Post
463
zwei Visitenkarten von Herren, die schon längere Zeit auf K. warteten. Es
464
waren gerade sehr wichtige Kundschaften der Bank, die man eigentlich auf
465
keinen Fall hätte warten lassen sollen. Warum kamen sie zu so ungelegener
466
Zeit, und warum, so schienen wieder die Herren hinter der geschlossenen
467
Tür zu fragen, verwendete der fleißige K. für Privatangelegenheiten die
468
beste Geschäftszeit? Müde von dem Vorhergegangenen und müde das
469
Folgende erwartend, stand K. auf, um den ersten zu empfangen.
470
Es war ein kleiner, munterer Herr, ein Fabrikant, den K. gut kannte. Er
471
bedauerte, K. in wichtiger Arbeit gestört zu haben, und K. bedauerte
472
seinerseits, daß er den Fabrikanten so lange hatte warten lassen. Schon
473
dieses Bedauern aber sprach er in derartig mechanischer Weise und mit
474
fast falscher Betonung aus, daß der Fabrikant, wenn er nicht ganz von der
475
Geschäftssache eingenommen gewesen wäre, es hätte bemerken müssen.
476
Statt dessen zog er eilig Rechnungen und Tabellen aus allen Taschen,
477
breitete sie vor K. aus, erklärte verschiedene Posten, verbesserte einen
478
kleinen Rechenfehler, der ihm sogar bei diesem flüchtigen Überblick
479
aufgefallen war, erinnerte K. an ein ähnliches Geschäft, das er mit ihm vor
480
etwa einem Jahr abgeschlossen hatte, erwähnte nebenbei, daß sich
481
diesmal eine andere Bank unter größten Opfern um das Geschäft bewerbe,
482
und verstummte schließlich, um nun K.s Meinung zu erfahren. K. hatte
483
auch tatsächlich im Anfang die Rede des Fabrikanten gut verfolgt, der
484
Gedanke an das wichtige Geschäft hatte dann auch ihn ergriffen, nur leider
485
nicht für die Dauer, er war bald vom Zuhören abgekommen, hatte dann
486
noch ein Weilchen zu den lauteren Ausrufen des Fabrikanten mit dem Kopf
487
genickt, hatte aber schließlich auch das unterlassen und sich darauf
488
eingeschränkt, den kahlen, auf die Papiere hinabgebeugten Kopf
489
anzusehen und sich zu fragen, wann der Fabrikant endlich erkennen werde,
490
daß seine ganze Rede nutzlos sei. Als er nun verstummte, glaubte K. zuerst
491
wirklich, es geschehe dies deshalb, um ihm Gelegenheit zu dem
492
Eingeständnis zu geben, daß er nicht fähig sei, zuzuhören. Nur mit
493
Bedauern merkte er aber an dem gespannten Blick des offenbar auf alle
494
Entgegnungen gefaßten Fabrikanten, daß die geschäftliche Besprechung
495
fortgesetzt werden müsse. Er neigte also den Kopf wie vor einem Befehl
496
und begann mit dem Bleistift langsam über den Papieren hin- und
497
herzufahren, hier und da hielt er inne und starrte eine Ziffer an. Der
498
Fabrikant vermutete Einwände, vielleicht waren die Ziffern wirklich nicht
499
feststehend, vielleicht waren sie nicht das Entscheidende, jedenfalls
500
bedeckte der Fabrikant die Papiere mit der Hand und begann von neuem,
501
ganz nahe an K. heranrückend, eine allgemeine Darstellung des
502
Geschäftes. »Es ist schwierig«, sagte K., rümpfte die Lippen und sank, da
503
die Papiere, das einzig Faßbare, verdeckt waren, haltlos gegen die
504
Seitenlehne. Er blickte sogar nur schwach auf, als sich die Tür des
505
Direktionszimmers öffnete und dort, nicht ganz deutlich, etwa wie hinter
506
einem Gazeschleier, der Direktor-Stellvertreter erschien. K. dachte nicht
507
weiter darüber nach, sondern verfolgte nur die unmittelbare Wirkung, die
508
für ihn sehr erfreulich war. Denn sofort hüpfte der Fabrikant vom Sessel auf
509
und eilte dem Direktor-Stellvertreter entgegen, K. aber hätte ihn noch
510
zehnmal flinker machen wollen, denn er fürchtete, der
511
Direktor-Stellvertreter könnte wieder verschwinden. Es war unnütze Furcht,
512
die Herren trafen einander, reichten einander die Hände und gingen
513
gemeinsam auf K.s Schreibtisch zu. Der Fabrikant beklagte sich, daß er
514
beim Prokuristen so wenig Neigung für das Geschäft gefunden habe, und
515
zeigte auf K., der sich unter dem Blick des Direktor-Stellvertreters wieder
516
über die Papiere beugte. Als dann die beiden sich an den Schreibtisch
517
lehnten und der Fabrikant sich daran machte, nun den
518
Direktor-Stellvertreter für sich zu erobern, war es K., als werde über seinem
519
Kopf von zwei Männern, deren Größe er sich übertrieben vorstellte, über
520
ihn selbst verhandelt. Langsam suchte er mit vorsichtig aufwärts gedrehten
521
Augen zu erfahren, was sich oben ereignete, nahm vom Schreibtisch, ohne
522
hinzusehen, eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es
523
allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte
524
hierbei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er
525
sich so verhalten müßte, wenn er einmal die große Eingabe fertiggestellt
526
hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte. Der Direktor-Stellvertreter, der sich
527
an dem Gespräch mit aller Aufmerksamkeit beteiligte, sah nur flüchtig auf
528
das Papier, überlas gar nicht, was dort stand, denn was dem Prokuristen
529
wichtig war, war ihm unwichtig, nahm es aus K.s Hand, sagte: »Danke, ich
530
weiß schon alles« und legte es ruhig wieder auf den Tisch zurück. K. sah
531
ihn verbittert von der Seite an. Der Direktor-Stellvertreter aber merkte es
532
gar nicht oder wurde, wenn er es merkte, dadurch nur aufgemuntert, lachte
533
öfters laut auf, brachte einmal durch eine schlagfertige Entgegnung den
534
Fabrikanten in deutliche Verlegenheit, aus der er ihn aber sofort riß, indem
535
er sich selbst einen Einwand machte, und lud ihn schließlich ein, in sein
536
Büro hinüberzukommen, wo sie die Angelegenheit zu Ende führen könnten.
537
»Es ist eine sehr wichtige Sache«, sagte er zu dem Fabrikanten, »ich sehe
538
das vollständig ein. Und dem Herrn Prokuristen« – selbst bei dieser
539
Bemerkung redete er eigentlich nur zum Fabrikanten – »wird es gewiß lieb
540
sein, wenn wir es ihm abnehmen. Die Sache verlangt ruhige Überlegung. Er
541
aber scheint heute sehr überlastet zu sein, auch warten ja einige Leute im
542
Vorzimmer schon stundenlang auf ihn.« K. hatte gerade noch genügend
543
Fassung, sich vom Direktor-Stellvertreter wegzudrehen und sein
544
freundliches, aber starres Lächeln nur dem Fabrikanten zuzuwenden, sonst
545
griff er gar nicht ein, stützte sich, ein wenig vorgebeugt, mit beiden Händen
546
auf den Schreibtisch wie ein Kommis hinter dem Pult und sah zu, wie die
547
zwei Herren unter weiteren Reden die Papiere vom Tisch nahmen und im
548
Direktionszimmer verschwanden. In der Tür drehte sich noch der Fabrikant
549
um, sagte, er verabschiede sich noch nicht, sondern werde natürlich dem
550
Herrn Prokuristen über den Erfolg der Besprechung berichten, auch habe
551
er ihm noch eine andere kleine Mitteilung zu machen.
552
Endlich war K. allein. Er dachte gar nicht daran, irgendeine andere Partei
553
vorzulassen, und nur undeutlich kam ihm zu Bewußtsein, wie angenehm es
554
sei, daß die Leute draußen in dem Glauben waren, er verhandle noch mit
555
dem Fabrikanten und es könne aus diesem Grunde niemand, nicht einmal
556
der Diener, bei ihm eintreten. Er ging zum Fenster, setzte sich auf die
557
Brüstung, hielt sich mit einer Hand an der Klinke fest und sah auf den Platz
558
hinaus. Der Schnee fiel noch immer, es hatte sich noch gar nicht aufgehellt.
559
Lange saß er so, ohne zu wissen, was ihm eigentlich Sorgen machte, nur
560
von Zeit zu Zeit blickte er ein wenig erschreckt über die Schulter hinweg zur
561
Vorzimmertür, wo er irrtümlicherweise ein Geräusch zu hören geglaubt
562
hatte. Da aber niemand kam, wurde er ruhiger, ging zum Waschtisch,
563
wusch sich mit kaltem Wasser und kehrte mit freierem Kopf zu seinem
564
Fensterplatz zurück. Der Entschluß, seine Verteidigung selbst in die Hand
565
zu nehmen, stellte sich ihm schwerwiegender dar, als er ursprünglich
566
angenommen hatte. Solange er die Verteidigung auf den Advokaten
567
überwälzt hatte, war er doch noch vom Prozeß im Grunde wenig betroffen
568
gewesen, er hatte ihn von der Ferne beobachtet und hatte unmittelbar von
569
ihm kaum erreicht werden können, er hatte nachsehen können, wann er
570
wollte, wie seine Sache stand, aber er hatte auch den Kopf wieder
571
zurückziehen können, wann er wollte. Jetzt hingegen, wenn er seine
572
Verteidigung selbst führen würde, mußte er sich – wenigstens für den
573
Augenblick – ganz und gar dem Gericht aussetzen, der Erfolg dessen sollte
574
ja für später seine vollständige und endgültige Befreiung sein, aber um
575
diese zu erreichen, mußte er sich vorläufig jedenfalls in viel größere Gefahr
576
begeben als bisher. Hätte er daran zweifeln wollen, so hätte ihn das heutige
577
Beisammensein mit dem Direktor-Stellvertreter und dem Fabrikanten
578
hinreichend vom Gegenteil überzeugen können. Wie war er doch
579
dagesessen, schon vom bloßen Entschluß, sich selbst zu verteidigen,
580
gänzlich benommen? Wie sollte es aber später werden? Was für Tage
581
standen ihm bevor! Würde er den Weg finden, der durch alles hindurch zum
582
guten Ende führte? Bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung – und
583
alles andere war sinnlos -, bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung
584
gleichzeitig die Notwendigkeit, sich von allem anderen möglichst
585
abzuschließen? Würde er das glücklich überstehen? Und wie sollte ihm die
586
Durchführung dessen in der Bank gelingen? Es handelte sich ja nicht nur
587
um die Eingabe, für die ein Urlaub vielleicht genügt hätte, obwohl die Bitte
588
um einen Urlaub gerade jetzt ein großes Wagnis gewesen wäre, es handelte
589
sich doch um einen ganzen Prozeß, dessen Dauer unabsehbar war. Was für
590
ein Hindernis war plötzlich in K.s Laufbahn geworfen worden!
591
Und jetzt sollte er für die Bank arbeiten? Er sah auf den Schreibtisch hin.
592
– Jetzt sollte er Parteien vorlassen und mit ihnen verhandeln? Während
593
sein Prozeß weiterrollte, während oben auf dem Dachboden die
594
Gerichtsbeamten über den Schriften dieses Prozesses saßen, sollte er die
595
Geschäfte der Bank besorgen? Sah es nicht aus wie eine Folter, die, vom
596
Gericht anerkannt, mit dem Prozeß zusammenhing und ihn begleitete? Und
597
würde man etwa in der Bank bei der Beurteilung seiner Arbeit seine
598
besondere Lage berücksichtigen? Niemand und niemals. Ganz unbekannt
599
war ja sein Prozeß nicht, wenn es auch noch nicht ganz klar war, wer davon
600
wußte und wieviel. Bis zum Direktor-Stellvertreter aber war das Gerücht
601
hoffentlich noch nicht gedrungen, sonst hätte man schon deutlich sehen
602
müssen, wie er es ohne jede Kollegialität und Menschlichkeit gegen K.
603
ausnützen würde. Und der Direktor? Gewiß, er war K. gut gesinnt, und er
604
hätte wahrscheinlich, sobald er vom Prozeß erfahren hätte, soweit es an
605
ihm lag, manche Erleichterungen für K. schaffen wollen, aber er wäre damit
606
gewiß nicht durchgedrungen, denn er unterlag jetzt, da das Gegengewicht,
607
das K. bisher gebildet hatte, schwächer zu werden anfing, immer mehr dem
608
Einfluß des Direktor-Stellvertreters, der außerdem auch den leidenden
609
Zustand des Direktors zur Stärkung der eigenen Macht ausnutzte. Was
610
hatte also K. zu erhoffen? Vielleicht schwächte er durch solche
611
Überlegungen seine Widerstandskraft, aber es war doch auch notwendig,
612
sich selbst nicht zu täuschen und alles so klar zu sehen, als es
613
augenblicklich möglich war.
614
Ohne besonderen Grund, nur um vorläufig noch nicht zum Schreibtisch
615
zurückkehren zu müssen, öffnete er das Fenster. Es ließ sich nur schwer
616
öffnen, er mußte mit beiden Händen die Klinke drehen. Dann zog durch das
617
Fenster in dessen ganzer Breite und Höhe der mit Rauch vermischte Nebel
618
in das Zimmer und füllte es mit einem leichten Brandgeruch. Auch einige
619
Schneeflocken wurden hereingeweht. »Ein häßlicher Herbst«, sagte hinter
620
K. der Fabrikant, der vom Direktor-Stellvertreter kommend unbemerkt ins
621
Zimmer getreten war. K. nickte und sah unruhig auf die Aktentasche des
622
Fabrikanten, aus der dieser nun wohl die Papiere herausziehen würde, um
623
K. das Ergebnis der Verhandlungen mit dem Direktor-Stellvertreter
624
mitzuteilen. Der Fabrikant aber folgte K.s Blick, klopfte auf seine Tasche
625
und sagte, ohne sie zu öffnen: »Sie wollen hören, wie es ausgefallen ist. Ich
626
trage schon fast den Geschäftsabschluß in der Tasche. Ein reizender
627
Mensch, Ihr Direktor-Stellvertreter, aber durchaus nicht ungefährlich.« Er
628
lachte, schüttelte K.s Hand und wollte auch ihn zum Lachen bringen. Aber
629
K. schien es nun wieder verdächtig, daß ihm der Fabrikant die Papiere nicht
630
zeigen wollte, und er fand an der Bemerkung des Fabrikanten nichts zum
631
Lachen. »Herr Prokurist«, sagte der Fabrikant, »Sie leiden wohl unter dem
632
Wetter? Sie sehen heute so bedrückt aus.« »Ja«, sagte K. und griff mit der
633
Hand an die Schläfe, »Kopfschmerzen, Familiensorgen.« »Sehr richtig«,
634
sagte der Fabrikant, der ein eiliger Mensch war und niemanden ruhig
635
anhören konnte, »jeder hat sein Kreuz zu tragen.« Unwillkürlich hatte K.
636
einen Schritt gegen die Tür gemacht, als wolle er den Fabrikanten
637
hinausbegleiten, dieser aber sagte: »Ich hätte, Herr Prokurist, noch eine
638
kleine Mitteilung für Sie. Ich fürchte sehr, daß ich Sie gerade heute damit
639
vielleicht belästige, aber ich war schon zweimal in der letzten Zeit bei Ihnen
640
und habe es jedesmal vergessen. Schiebe ich es aber noch weiterhin auf,
641
verliert es wahrscheinlich vollständig seinen Zweck. Das wäre aber schade,
642
denn im Grunde ist meine Mitteilung vielleicht doch nicht wertlos.« Ehe K.
643
Zeit hatte zu antworten, trat der Fabrikant nahe an ihn heran, klopfte mit
644
dem Fingerknöchel leicht an seine Brust und sagte leise: »Sie haben einen
645
Prozeß, nicht wahr?« K. trat zurück und rief sofort: »Das hat Ihnen der
646
Direktor-Stellvertreter gesagt!« »Ach nein«, sagte der Fabrikant, »woher
647
sollte denn der Direktor-Stellvertreter es wissen?« »Und Sie?« fragte K.
648
schon viel gefaßter. »Ich erfahre hie und da etwas von dem Gericht«, sagte
649
der Fabrikant, »das betrifft eben die Mitteilung, die ich ihnen machen
650
wollte.« »So viel Leute sind mit dem Gericht in Verbindung!« sagte K. mit
651
gesenktem Kopf und führte den Fabrikanten zum Schreibtisch. Sie setzten
652
sich wieder wie früher und der Fabrikant sagte: »Es ist leider nicht sehr
653
viel, was ich Ihnen mitteilen kann. Aber in solchen Dingen soll man nicht
654
das geringste vernachlässigen. Außerdem drängt es mich aber, Ihnen
655
irgendwie zu helfen, und sei meine Hilfe noch so bescheiden. Wir waren
656
doch bisher gute Geschäftsfreunde, nicht? Nun also.« K. wollte sich wegen
657
seines Verhaltens bei der heutigen Besprechung entschuldigen, aber der
658
Fabrikant duldete keine Unterbrechung, schob die Aktentasche hoch unter
659
die Achsel, um zu zeigen, daß er Eile habe, und fuhr fort: »Von Ihrem
660
Prozeß weiß ich durch einen gewissen Titorelli. Es ist ein Maler, Titorelli ist
661
nur sein Künstlername, seinen wirklichen Namen kenne ich gar nicht
662
einmal. Er kommt schon seit Jahren von Zeit zu Zeit in mein Büro und
663
bringt kleine Bilder mit, für die ich ihm – er ist fast ein Bettler – immer eine
664
Art Almosen gebe. Es sind übrigens hübsche Bilder, Heidelandschaften
665
und dergleichen. Diese Verkäufe – wir hatten uns schon beide daran
666
gewöhnt – gingen ganz glatt vor sich. Einmal aber wiederholten sich diese
667
Besuche doch zu oft, ich machte ihm Vorwürfe, wir kamen ins Gespräch, es
668
interessierte mich, wie er sich allein durch Malen erhalten könne, und ich
669
erfuhr nun zu meinem Staunen, daß seine Haupteinnahmequelle das
670
Porträtmalen sei. ›Er arbeite für das Gericht‹, sagte er. ›Für welches
671
Gericht?‹ fragte ich. Und nun erzählte er mir von dem Gericht. Sie werden
672
sich wohl am besten vorstellen können, wie erstaunt ich über diese
673
Erzählungen war. Seitdem höre ich bei jedem seiner Besuche irgendwelche
674
Neuigkeiten vom Gericht und bekomme so allmählich einen gewissen
675
Einblick in die Sache. Allerdings ist Titorelli geschwätzig, und ich muß ihn
676
oft abwehren, nicht nur, weil er gewiß auch lügt, sondern vor allem, weil ein
677
Geschäftsmann wie ich, der unter den eigenen Geschäftssorgen fast
678
zusammenbricht, sich nicht noch viel um fremde Dinge kümmern kann.
679
Aber das nur nebenbei. Vielleicht – so dachte ich jetzt – kann Ihnen Titorelli
680
ein wenig behilflich sein, er kennt viele Richter, und wenn er selbst auch
681
keinen großen Einfluß haben sollte, so kann er Ihnen doch Ratschläge
682
geben, wie man verschiedenen einflußreichen Leuten beikommen kann.
683
Und wenn auch diese Ratschläge an und für sich nicht entscheidend sein
684
sollten, so werden sie doch, meiner Meinung nach, in Ihrem Besitz von
685
großer Bedeutung sein. Sie sind ja fast ein Advokat. Ich pflege immer zu
686
sagen: Prokurist K. ist fast ein Advokat. Oh, ich habe keine Sorgen wegen
687
Ihres Prozesses. Wollen Sie nun aber zu Titorelli gehen? Auf meine
688
Empfehlung hin wird er gewiß alles tun, was ihm möglich ist. Ich denke
689
wirklich, Sie sollten hingehen. Es muß natürlich nicht heute sein, einmal,
690
gelegentlich. Allerdings sind Sie – das will ich noch sagen – dadurch, daß
691
ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im geringsten verpflichtet, auch wirklich zu
692
Titorelli hinzugehen. Nein, wenn Sie Titorelli entbehren zu können glauben,
693
ist es gewiß besser, ihn ganz beiseite zu lassen. Vielleicht haben Sie schon
694
einen ganz genauen Plan, und Titorelli könnte ihn stören. Nein, dann gehen
695
Sie natürlich auf keinen Fall hin! Es kostet gewiß auch Überwindung, sich
696
von einem solchen Burschen Ratschläge geben zu lassen. Nun, wie Sie
697
wollen. Hier ist das Empfehlungsschreiben und hier die Adresse.«
698
Enttäuscht nahm K. den Brief und steckte ihn in die Tasche. Selbst im
699
günstigsten Falle war der Vorteil, den ihm die Empfehlung bringen konnte,
700
unverhältnismäßig kleiner als der Schaden, der darin lag, daß der Fabrikant
701
von seinem Prozeß wußte und daß der Maler die Nachricht
702
weiterverbreitete. Er konnte sich kaum dazu zwingen, dem Fabrikanten, der
703
schon auf dem Weg zur Tür war, mit ein paar Worten zu danken. »Ich werde
704
hingehen«, sagte er, als er sich bei der Tür vom Fabrikanten
705
verabschiedete, »Oder ihm, da ich jetzt sehr beschäftigt bin, schreiben, er
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möge einmal zu mir ins Büro kommen.« »Ich wußte ja«, sagte der Fabrikant,
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»daß Sie den besten Ausweg finden würden. Allerdings dachte ich, daß Sie
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es lieber vermeiden wollen, Leute wie diesen Titorelli in die Bank
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einzuladen, um mit ihm hier über den Prozeß zu sprechen. Es ist auch nicht
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immer vorteilhaft, Briefe an solche Leute aus der Hand zu geben. Aber Sie
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haben gewiß alles durchgedacht und wissen, was Sie tun dürfen.« K. nickte
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und begleitete den Fabrikanten noch durch das Vorzimmer. Aber trotz
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äußerlicher Ruhe war er über sich sehr erschrocken; daß er Titorelli
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schreiben würde, hatte er eigentlich nur gesagt, um dem Fabrikanten
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irgendwie zu zeigen, daß er die Empfehlung zu schätzen wisse und die
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Möglichkeiten, mit Titorelli zusammenzukommen, sofort überlege, aber
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wenn er Titorellis Beistand für wertvoll angesehen hätte, hätte er auch nicht
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gezögert, ihm wirklich zu schreiben. Die Gefahren aber, die das zur Folge
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haben könnte, hatte er erst durch die Bemerkung des Fabrikanten erkannt.
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Konnte er sich auf seinen eigenen Verstand tatsächlich schon so wenig
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verlassen? Wenn es möglich war, daß er einen fragwürdigen Menschen
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durch einen deutlichen Brief in die Bank einlud, um von ihm, nur durch eine
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Tür vom Direktor-Stellvertreter getrennt, Ratschläge wegen seines
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Prozesses zu erbitten, war es dann nicht möglich und sogar sehr
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wahrscheinlich, daß er auch andere Gefahren übersah oder in sie
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hineinrannte? Nicht immer stand jemand neben ihm, um ihn zu warnen.
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Und gerade jetzt, wo er mit gesammelten Kräften auftreten sollte, mußten
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derartige, ihm bisher fremde Zweifel an seiner eigenen Wachsamkeit
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auftreten! Sollten die Schwierigkeiten, die er bei Ausführung seiner
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Büroarbeit fühlte, nun auch im Prozeß beginnen? Jetzt allerdings begriff er
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es gar nicht mehr, wie es möglich gewesen war, daß er an Titorelli hatte
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schreiben und ihn in die Bank einladen wollen.
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Er schüttelte noch den Kopf darüber, als der Diener an seine Seite trat
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und ihn auf drei Herren aufmerksam machte, die hier im Vorzimmer auf
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einer Bank saßen. Sie warteten schon lange darauf, zu K. vorgelassen zu
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werden. Jetzt, da der Diener mit K. sprach, waren sie aufgestanden, und
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jeder wollte eine günstige Gelegenheit ausnutzen, um sich vor den anderen
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an K. heranzumachen. Da man von seiten der Bank so rücksichtslos war,
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sie hier im Wartezimmer ihre Zeit verlieren zu lassen, wollten auch sie keine
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Rücksicht mehr üben. »Herr Prokurist«, sagte schon der eine. Aber K. hatte
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sich vom Diener den Winterrock bringen lassen und sagte, während er ihn
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mit Hilfe des Dieners anzog, allen dreien: »Verzeihen Sie, meine Herren, ich
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habe augenblicklich leider keine Zeit, Sie zu empfangen. Ich bitte Sie sehr
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um Verzeihung, aber ich habe einen dringenden Geschäftsgang zu
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erledigen und muß sofort weggehen. Sie haben ja selbst gesehen, wie
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lange ich jetzt aufgehalten wurde. Wären Sie so freundlich, morgen oder
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wann immer wiederzukommen? Oder wollen wir die Sachen vielleicht
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telephonisch besprechen? Oder wollen Sie mir vielleicht jetzt kurz sagen,
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worum es sich handelt, und ich gebe Ihnen dann eine ausführliche
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schriftliche Antwort. Am besten wäre es allerdings, Sie kämen nächstens.«
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Diese Vorschläge K.s brachten die Herren, die nun vollständig nutzlos
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gewartet haben sollten, in solches Staunen, daß sie einander stumm
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ansahen. »Wir sind also einig?« fragte K., der sich nach dem Diener
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umgewendet hatte, der ihm nun auch den Hut brachte. Durch die offene Tür
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von K.s Zimmer sah man, wie sich draußen der Schneefall sehr verstärkt
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hatte. K. schlug daher den Mantelkragen in die Höhe und knöpfte ihn hoch
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unter dem Halse zu.
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Da trat gerade aus dem Nebenzimmer der Direktor-Stellvertreter, sah
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lächelnd K. im Winterrock mit den Herren verhandeln und fragte: »Sie
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gehen jetzt weg, Herr Prokurist?« »Ja«, sagte K. und richtete sich auf, »ich
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habe einen Geschäftsgang zu machen.« Aber der Direktor-Stellvertreter
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hatte sich schon den Herren zugewendet. »Und die Herren?« fragte er. »Ich
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glaube, sie warten schon lange.« »Wir haben uns schon geeinigt«, sagte K.
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Aber nun ließen sich die Herren nicht mehr halten, umringten K. und
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erklärten, daß sie nicht stundenlang gewartet hätten, wenn ihre
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Angelegenheiten nicht wichtig wären und nicht jetzt, und zwar ausführlich
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und unter vier Augen, besprochen werden müßten. Der
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Direktor-Stellvertreter hörte ihnen ein Weilchen zu, betrachtete auch K., der
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den Hut in der Hand hielt und ihn stellenweise von Staub reinigte, und
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sagte dann: »Meine Herren, es gibt ja einen sehr einfachen Ausweg. Wenn
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Sie mit mir vorlieb nehmen wollen, übernehme ich sehr gerne die
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Verhandlungen statt des Herrn Prokuristen. Ihre Angelegenheiten müssen
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natürlich sofort besprochen werden. Wir sind Geschäftsleute wie Sie und
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wissen die Zeit von Geschäftsleuten richtig zu bewerten. Wollen Sie hier
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eintreten?« Und er öffnete die Tür, die zu dem Vorzimmer seines Büros
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führte.
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Wie sich doch der Direktor-Stellvertreter alles anzueignen verstand, was
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K. jetzt notgedrungen aufgeben mußte! Gab aber K. nicht mehr auf, als
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unbedingt nötig war? Während er mit unbestimmten und, wie er sich
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eingestehen mußte, sehr geringen Hoffnungen zu einem unbekannten
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Maler lief, erlitt hier sein Ansehen eine unheilbare Schädigung. Es wäre
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wahrscheinlich viel besser gewesen, den Winterrock wieder auszuziehen
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und wenigstens die zwei Herren, die ja nebenan doch noch warten mußten,
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für sich zurückzugewinnen. K. hätte es vielleicht auch versucht, wenn er
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nicht jetzt in seinem Zimmer den Direktor-Stellvertreter erblickt hätte, wie er
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im Bücherständer, als wäre es sein eigener, etwas suchte. Als K. sich erregt
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der Tür näherte, rief er: »Ach, Sie sind noch nicht weggegangen!« Er
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wandte ihm sein Gesicht zu, dessen viele straffe Falten nicht Alter, sondern
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Kraft zu beweisen schienen, und fing sofort wieder zu suchen an. »Ich
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suche eine Vertragsabschrift«, sagte er, »die sich, wie der Vertreter der
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Firma behauptet, bei Ihnen befinden soll. Wollen Sie mir nicht suchen
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helfen?« K. machte einen Schritt, aber der Direktor-Stellvertreter sagte:
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»Danke, ich habe es schon gefunden«, und kehrte mit einem großen Paket
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Schriften, das nicht nur die Vertragsabschrift, sondern gewiß noch vieles
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andere enthielt, wieder in sein Zimmer zurück.
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»Jetzt bin ich ihm nicht gewachsen«, sagte sich K., »wenn aber meine
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persönlichen Schwierigkeiten einmal beseitigt sein werden, dann soll er
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wahrhaftig der erste sein, der es zu fühlen bekommt, und zwar möglichst
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bitter.« Durch diesen Gedanken ein wenig beruhigt, gab K. dem Diener, der
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schon lange die Tür zum Korridor für ihn offenhielt, den Auftrag, dem
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Direktor gelegentlich die Meldung zu machen, daß er sich auf einem
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Geschäftsgang befinde, und verließ, fast glücklich darüber, sich eine
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Zeitlang vollständiger seiner Sache widmen zu können, die Bank.
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Er fuhr sofort zum Maler, der in einer Vorstadt wohnte, die jener, in
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welcher sich die Gerichtskanzleien befanden, vollständig entgegengesetzt
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war. Es war eine noch ärmere Gegend, die Häuser noch dunkler, die Gassen
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voll Schmutz, der auf dem zerflossenen Schnee langsam umhertrieb. Im
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Hause, in dem der Maler wohnte, war nur ein Flügel des großen Tores
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geöffnet, in den anderen aber war unten in der Mauer eine Lücke
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gebrochen, aus der gerade, als sich K. näherte, eine widerliche, gelbe,
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rauchende Flüssigkeit herausschoß, vor der sich einige Ratten in den
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nahen Kanal flüchteten. Unten an der Treppe lag ein kleines Kind
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bäuchlings auf der Erde und weinte, aber man hörte es kaum infolge des
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alles übertönenden Lärms, der aus einer Klempnerwerkstätte auf der
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anderen Seite des Torganges kam. Die Tür der Werkstätte war offen, drei
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Gehilfen standen im Halbkreis um irgendein Werkstück, auf das sie mit den
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Hämmern schlugen. Eine große Platte Weißblech, die an der Wand hing,
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warf ein bleiches Licht, das zwischen zwei Gehilfen eindrang und die
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Gesichter und Arbeitsschürzen erhellte. K. hatte für alles nur einen
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flüchtigen Blick, er wollte möglichst rasch hier fertig werden, nur den Maler
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mit ein paar Worten ausforschen und sofort wieder in die Bank
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zurückgehen. Wenn er hier nur den kleinsten Erfolg hatte, sollte das auf
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seine heutige Arbeit in der Bank noch eine gute Wirkung ausüben. Im
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dritten Stockwerk mußte er seinen Schritt mäßigen, er war ganz außer
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Atem, die Treppen, ebenso wie die Stockwerke, waren übermäßig hoch,
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und der Maler sollte ganz oben in einer Dachkammer wohnen. Auch war die
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Luft sehr drückend, es gab keinen Treppenhof, die enge Treppe war auf
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beiden Seiten von Mauern eingeschlossen, in denen nur hier und da fast
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ganz oben kleine Fenster angebracht waren. Gerade als K. ein wenig
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stehenblieb, liefen ein paar kleine Mädchen aus einer Wohnung heraus und
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eilten lachend die Treppe weiter hinauf. K. folgte ihnen langsam, holte eines
832
der Mädchen ein, das gestolpert und hinter den andern zurückgeblieben
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war, und fragte es, während sie nebeneinander weiterstiegen: »Wohnt hier
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ein Maler Titorelli?« Das Mädchen, ein kaum dreizehnjähriges, etwas
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buckliges Mädchen, stieß ihn darauf mit dem Ellbogen an und sah von der
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Seite zu ihm auf. Weder ihre Jugend noch ihr Körperfehler hatte verhindern
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können, daß sie schon ganz verdorben war. Sie lächelte nicht einmal,
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sondern sah K. ernst mit scharfem, aufforderndem Blicke an. K. tat, als
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hätte er ihr Benehmen nicht bemerkt, und fragte: »Kennst du den Maler
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Titorelli?« Sie nickte und fragte ihrerseits: »Was wollen Sie von ihm?« K.
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schien es vorteilhaft, sich noch schnell ein wenig über Titorelli zu
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unterrichten: »Ich will mich von ihm malen lassen«, sagte er. »Malen
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lassen?« fragte sie, öffnete übermäßig den Mund, schlug leicht mit der
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Hand gegen K., als hätte er etwas außerordentlich überraschendes oder
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Ungeschicktes gesagt, hob mit beiden Händen ihr ohnedies sehr kurzes
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Röckchen und lief, so schnell sie konnte, hinter den andern Mädchen her,
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deren Geschrei schon undeutlich in der Höhe sich verlor. Bei der nächsten
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Wendung der Treppe aber traf K. schon wieder alle Mädchen. Sie waren
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offenbar von der Buckligen von K.s Absicht verständigt worden und
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erwarteten ihn. Sie standen zu beiden Seiten der Treppe, drückten sich an
851
die Mauer, damit K. bequem zwischen ihnen durchkomme, und glätteten mit
852
der Hand ihre Schürzen. Alle Gesichter, wie auch diese Spalierbildung,
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stellten eine Mischung von Kindlichkeit und Verworfenheit dar. Oben, an
854
der Spitze der Mädchen, die sich jetzt hinter K. lachend
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zusammenschlossen, war die Bucklige, welche die Führung übernahm. K.
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hatte es ihr zu verdanken, daß er gleich den richtigen Weg fand. Er wollte
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nämlich geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm, daß er eine
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Abzweigung der Treppe wählen müsse, um zu Titorelli zu kommen. Die
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Treppe, die zu ihm führte, war besonders schmal, sehr lang, ohne Biegung,
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in ihrer ganzen Länge zu übersehen und oben unmittelbar vor Titorellis Tür
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abgeschlossen. Diese Tür, die durch ein kleines, schief über ihr
862
eingesetztes Oberlichtfenster im Gegensatz zur übrigen Treppe
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verhältnismäßig hell beleuchtet wurde, war aus nicht übertünchten Balken
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zusammengesetzt, auf die der Name Titorelli mit roter Farbe in breiten
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Pinselstrichen gemalt war. K. war mit seinem Gefolge noch kaum in der
866
Mitte der Treppe, als oben, offenbar veranlaßt durch das Geräusch der
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vielen Schritte, die Tür ein wenig geöffnet wurde und ein wahrscheinlich
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nur mit einem Nachthemd bekleideter Mann in der Türspalte erschien.
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»Oh!« rief er, als er die Menge kommen sah, und verschwand. Die Bucklige
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klatschte vor Freude in die Hände, und die übrigen Mädchen drängten
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hinter K., um ihn schneller vorwärtszutreiben.
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Sie waren aber noch nicht einmal hinaufgekommen, als oben der Maler
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die Tür gänzlich aufriß und mit einer tiefen Verbeugung K. einlud,
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einzutreten. Die Mädchen dagegen wehrte er ab, er wollte keine von ihnen
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einlassen, sosehr sie baten und sosehr sie versuchten, wenn schon nicht
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mit seiner Erlaubnis, so gegen seinen Willen einzudringen. Nur der
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Buckligen gelang es, unter seinem ausgestreckten Arm durchzuschlüpfen,
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aber der Maler jagte hinter ihr her, packte sie bei den Röcken, wirbelte sie
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einmal um sich herum und setzte sie dann vor die Tür bei den anderen
880
Mädchen ab, die es, während der Maler seinen Posten verlassen hatte,
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doch nicht gewagt hatten, die Schwelle zu überschreiten. K. wußte nicht,
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wie er das Ganze beurteilen sollte, es hatte nämlich den Anschein, als ob
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alles in freundschaftlichem Einvernehmen geschehe. Die Mädchen bei der
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Tür streckten, eines hinter dem anderen, die Hälse in die Höhe, riefen dem
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Maler verschiedene scherzhaft gemeinte Worte zu, die K. nicht verstand,
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und auch der Maler lachte, während die Bucklige in seiner Hand fast flog.
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Dann schloß er die Tür, verbeugte sich nochmals vor K., reichte ihm die
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Hand und sagte, sich vorstellend: »Kunstmaler Titorelli.« K. zeigte auf die
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Tür, hinter der die Mädchen flüsterten, und sagte: »Sie scheinen im Hause
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sehr beliebt zu sein.« »Ach, die Fratzen!« sagte der Maler und suchte
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vergebens sein Nachthemd am Halse zuzuknöpfen. Er war im übrigen
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bloßfüßig und nur noch mit einer breiten, gelblichen Leinenhose bekleidet,
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die mit einem Riemen festgemacht war, dessen langes Ende frei hin und
894
her schlug. »Diese Fratzen sind mir eine wahre Last«, fuhr er fort, während
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er vom Nachthemd, dessen letzter Knopf gerade abgerissen war, abließ,
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einen Sessel holte und K. zum Niedersetzen nötigte. »Ich habe eine von
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ihnen – sie ist heute nicht einmal dabei – einmal gemalt, und seitdem
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verfolgen mich alle. Wenn ich selbst hier bin, kommen sie nur herein, wenn
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ich es erlaube, bin ich aber einmal weg, dann ist immer zumindest eine da.
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Sie haben sich einen Schlüssel zu meiner Tür machen lassen, den sie
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untereinander verleihen. Man kann sich kaum vorstellen, wie lästig das ist.
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Ich komme zum Beispiel mit einer Dame, die ich malen soll, nach Hause,
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öffne die Tür mit meinem Schlüssel und finde etwa die Bucklige dort beim
904
Tischchen, wie sie sich mit dem Pinsel die Lippen rot färbt, während ihre
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kleinen Geschwister, die sie zu beaufsichtigen hat, sich herumtreiben und
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das Zimmer in allen Ecken verunreinigen. Oder ich komme, wie es mir erst
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gestern geschehen ist, spätabends nach Hause – entschuldigen Sie, bitte,
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mit Rücksicht darauf meinen Zustand und die Unordnung im Zimmer -, also
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ich komme spätabends nach Hause und will ins Bett steigen, da zwickt
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mich etwas ins Bein, ich schaue unter das Bett und ziehe wieder so ein
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Ding heraus. Warum sie sich so zu mir drängen, weiß ich nicht, daß ich sie
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nicht zu mir zu locken suche, dürften Sie eben bemerkt haben. Natürlich bin
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ich dadurch auch in meiner Arbeit gestört. Wäre mir dieses Atelier nicht
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umsonst zur Verfügung gestellt, ich wäre schon längst ausgezogen.«
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Gerade rief hinter der Tür ein Stimmchen, zart und ängstlich: »Titorelli,
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dürfen wir schon kommen?« »Nein«, antwortete der Maler. »Ich allein auch
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nicht?« fragte es wieder. »Auch nicht«, sagte der Maler, ging zur Tür und
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sperrte sie ab.
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K. hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen, er wäre niemals selbst
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auf den Gedanken gekommen, daß man dieses elende kleine Zimmer ein
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Atelier nennen könnte. Mehr als zwei lange Schritte konnte man der Länge
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und Quere nach kaum hier machen. Alles, Fußboden, Wände und
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Zimmerdecke, war aus Holz, zwischen den Balken sah man schmale Ritzen.
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K. gegenüber stand an der Wand das Bett, das mit verschiedenfarbigem
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Bettzeug überladen war. In der Mitte des Zimmers war auf einer Staffelei ein
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Bild, das mit einem Hemd verhüllt war, dessen Ärmel bis zum Boden
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baumelten. Hinter K. war das Fenster, durch das man im Nebel nicht weiter
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sehen konnte als über das mit Schnee bedeckte Dach des Nachbarhauses.
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Das Umdrehen des Schlüssels im Schloß erinnerte K. daran, daß er bald
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hatte weggehen wollen. Er zog daher den Brief des Fabrikanten aus der
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Tasche, reichte ihn dem Maler und sagte: »Ich habe durch diesen Herrn,
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Ihren Bekannten, von Ihnen erfahren und bin auf seinen Rat hin
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gekommen.« Der Maler las den Brief flüchtig durch und warf ihn aufs Bett.
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Hätte der Fabrikant nicht auf das bestimmteste von Titorelli als von seinem
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Bekannten gesprochen, als von einem armen Menschen, der auf seine
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Almosen angewiesen war, so hätte man jetzt wirklich glauben können,
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Titorelli kenne den Fabrikanten nicht oder wisse sich an ihn wenigstens
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nicht zu erinnern. Überdies fragte nun der Maler: »Wollen Sie Bilder kaufen
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oder sich selbst malen lassen?« K. sah den Maler erstaunt an. Was stand
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denn eigentlich in dem Brief? K. hatte es als selbstverständlich
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angenommen, daß der Fabrikant in dem Brief den Maler davon unterrichtet
942
hatte, daß K. nichts anderes wollte, als sich hier wegen seines Prozesses
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zu erkundigen. Er war doch gar zu eilig und unüberlegt hierhergelaufen!
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Aber er mußte jetzt dem Maler irgendwie antworten und sagte mit einem
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Blick auf die Staffelei: »Sie arbeiten gerade an einem Bild?« »Ja«, sagte der
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Maler und warf das Hemd, das über der Staffelei hing, dem Brief nach auf
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das Bett. »Es ist ein Porträt. Eine gute Arbeit, aber noch nicht ganz fertig.«
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Der Zufall war K. günstig, die Möglichkeit, vom Gericht zu reden, wurde ihm
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förmlich dargeboten, denn es war offenbar das Porträt eines Richters. Es
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war übrigens dem Bild im Arbeitszimmer des Advokaten auffallend ähnlich.
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Es handelte sich hier zwar um einen ganz anderen Richter, einen dicken
952
Mann mit schwarzem, buschigem Vollbart, der seitlich weit die Wangen
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hinaufreichte, auch war jenes Bild ein Ölbild, dieses aber mit Pastellfarben
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schwach und undeutlich angesetzt. Aber alles übrige war ähnlich, denn
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auch hier wollte sich gerade der Richter von seinem Thronsessel, dessen
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Seitenlehnen er festhielt, drohend erheben. »Das ist ja ein Richter«, hatte K.
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gleich sagen wollen, hielt sich dann aber vorläufig noch zurück und näherte
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sich dem Bild, als wolle er es in den Einzelheiten studieren. Eine große
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Figur, die in der Mitte der Rückenlehne des Thronsessels stand, konnte er
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sich nicht erklären und fragte den Maler nach ihr. Sie müsse noch ein wenig
961
ausgearbeitet werden, antwortete der Maler, holte von einem Tischchen
962
einen Pastellstift und strichelte mit ihm ein wenig an den Rändern der
963
Figur, ohne sie aber dadurch für K. deutlicher zu machen. »Es ist die
964
Gerechtigkeit«, sagte der Maler schließlich. »Jetzt erkenne ich sie schon«,
965
sagte K., »hier ist die Binde um die Augen und hier die Waage. Aber sind
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nicht an den Fersen Flügel und befindet sie sich nicht im Lauf?« »Ja«,
967
sagte der Maler, »ich mußte es über Auftrag so malen, es ist eigentlich die
968
Gerechtigkeit und die Siegesgöttin in einem.« »Das ist keine gute
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Verbindung«, sagte K. lächelnd, »die Gerechtigkeit muß ruhen, sonst
970
schwankt die Waage, und es ist kein gerechtes Urteil möglich.« »Ich füge
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mich darin meinem Auftraggeber«, sagte der Maler. »Ja gewiß«, sagte K.,
972
der mit seiner Bemerkung niemanden hatte kränken wollen. »Sie haben die
973
Figur so gemalt, wie sie auf dem Thronsessel wirklich steht.« »Nein«, sagte
974
der Maler, »ich habe weder die Figur noch den Thronsessel gesehen, das
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alles ist Erfindung, aber es wurde mir angegeben, was ich zu malen habe.«
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»Wie?« fragte K., er tat absichtlich, als verstehe er den Maler nicht völlig,
977
»es ist doch ein Richter, der auf dem Richterstuhl sitzt?« »Ja«, sagte der
978
Maler, »aber er ist kein hoher Richter und ist niemals auf einem solchen
979
Thronsessel gesessen.« »Und läßt sich doch in so feierlicher Haltung
980
malen? Er sitzt ja da wie ein Gerichtspräsident.« »Ja, eitel sind die Herren«,
981
sagte der Maler. »Aber sie haben die höhere Erlaubnis, sich so malen zu
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lassen. Jedem ist genau vorgeschrieben, wie er sich malen lassen darf. Nur
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kann man leider gerade nach diesem Bilde die Einzelheiten der Tracht und
984
des Sitzes nicht beurteilen, die Pastellfarben sind für solche Darstellungen
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nicht geeignet.« »Ja«, sagte K., »es ist sonderbar, daß es in Pastellfarben
986
gemalt ist.« »Der Richter wünschte es so«, sagte der Maler, »es ist für eine
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Dame bestimmt.« Der Anblick des Bildes schien ihm Lust zur Arbeit
988
gemacht zu haben, er krempelte die Hemdärmel aufwärts, nahm einige
989
Stifte in die Hand, und K. sah zu, wie unter den zitternden Spitzen der Stifte
990
anschließend an den Kopf des Richters ein rötlicher Schatten sich bildete,
991
der strahlenförmig gegen den Rand des Bildes verging. Allmählich umgab
992
dieses Spiel des Schattens den Kopf wie ein Schmuck oder eine hohe
993
Auszeichnung. Um die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es bis auf eine
994
unmerkliche Tönung hell, in dieser Helligkeit schien die Figur besonders
995
vorzudringen, sie erinnerte kaum mehr an die Göttin der Gerechtigkeit, aber
996
auch nicht an die des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkommen wie die
997
Göttin der Jagd aus. Die Arbeit des Malers zog K. mehr an, als er wollte;
998
schließlich aber machte er sich doch Vorwürfe, daß er so lange schon hier
999
war und im Grunde noch nichts für seine eigene Sache unternommen hatte.
1000
»Wie heißt dieser Richter?« fragte er plötzlich. »Das darf ich nicht sagen«,
1001
antwortete der Maler, er war tief zum Bild hinabgebeugt und
1002
vernachlässigte deutlich seinen Gast, den er doch zuerst so rücksichtsvoll
1003
empfangen hatte. K. hielt das für eine Laune und ärgerte sich darüber, weil
1004
er dadurch Zeit verlor. »Sie sind wohl ein Vertrauensmann des Gerichtes?«
1005
fragte er. Sofort legte der Maler die Stifte beiseite, richtete sich auf, rieb die
1006
Hände aneinander und sah K. lächelnd an. »Nur immer gleich mit der
1007
Wahrheit heraus«, sagte er, »Sie wollen etwas über das Gericht erfahren,
1008
wie es ja auch in Ihrem Empfehlungsschreiben steht, und haben zunächst
1009
über meine Bilder gesprochen, um mich zu gewinnen. Aber ich nehme das
1010
nicht übel, Sie konnten ja nicht wissen, daß das bei mir unangebracht ist.
1011
Oh, bitte!« sagte er scharf abwehrend, als K. etwas einwenden wollte. Und
1012
fuhr dann fort: »Im übrigen haben Sie mit Ihrer Bemerkung vollständig
1013
recht, ich bin ein Vertrauensmann des Gerichtes.« Er machte eine Pause,
1014
als wolle er K. Zeit lassen, sich mit dieser Tatsache abzufinden. Man hörte
1015
jetzt wieder hinter der Tür die Mädchen. Sie drängten sich wahrscheinlich
1016
um das Schlüsselloch, vielleicht konnte man auch durch die Ritzen ins
1017
Zimmer hineinsehen. K. unterließ es, sich irgendwie zu entschuldigen, denn
1018
er wollte den Maler nicht ablenken, wohl aber wollte er nicht, daß der Maler
1019
sich allzusehr überhebe und sich auf diese Weise gewissermaßen
1020
unerreichbar mache, er fragte deshalb: »Ist das eine öffentlich anerkannte
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Stellung?« »Nein«, sagte der Maler kurz, als sei ihm dadurch die weitere
1022
Rede verschlagen. K. wollte ihn aber nicht verstummen lassen und sagte:
1023
»Nun, oft sind derartige nichtanerkannte Stellungen einflußreicher als die
1024
anerkannten.« »Das ist eben bei mir der Fall«, sagte der Maler und nickte
1025
mit zusammengezogener Stirn. »Ich sprach gestern mit dem Fabrikanten
1026
über ihren Fall, er fragte mich, ob ich Ihnen nicht helfen wollte, ich
1027
antwortete: ›Der Mann kann ja einmal zu mir kommen‹ und nun freue ich
1028
mich, Sie so bald hier zu sehen. Die Sache scheint Ihnen ja sehr
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nahezugehen, worüber ich mich natürlich gar nicht wundere. Wollen Sie
1030
vielleicht zunächst Ihren Rock ablegen?« Obwohl K. beabsichtigte, nur
1031
ganz kurze Zeit hierzubleiben, war ihm diese Aufforderung des Malers doch
1032
sehr willkommen. Die Luft im Zimmer war ihm allmählich drückend
1033
geworden, öfters hatte er schon verwundert auf einen kleinen, zweifellos
1034
nicht geheizten Eisenofen in der Ecke hingesehen, die Schwüle im Zimmer
1035
war unerklärlich. Während er den Winterrock ablegte und auch noch den
1036
Rock aufknöpfte, sagte der Maler, sich entschuldigend: »Ich muß Wärme
1037
haben. Es ist hier doch sehr behaglich, nicht? Das Zimmer ist in dieser
1038
Hinsicht sehr gut gelegen.« K. sagte nichts dazu, aber es war eigentlich
1039
nicht die Wärme, die ihm Unbehagen machte, es war vielmehr die dumpfe,
1040
das Atmen fast behindernde Luft, das Zimmer war wohl schon lange nicht
1041
gelüftet. Diese Unannehmlichkeit wurde für K. dadurch verstärkt, daß ihn
1042
der Maler bat, sich auf das Bett zu setzen, während er selbst sich auf den
1043
einzigen Stuhl des Zimmers vor der Staffelei niedersetzte. Außerdem
1044
schien es der Maler mißzuverstehen, warum K. nur am Bettrand blieb, er
1045
bat vielmehr, K. möchte es sich bequem machen und ging, da K. zögerte,
1046
selbst hin und drängte ihn tief in die Betten und Polster hinein. Dann kehrte
1047
er wieder zu seinem Sessel zurück und stellte endlich die erste sachliche
1048
Frage, die K. alles andere vergessen ließ. »Sie sind unschuldig?« fragte er.
1049
»Ja«, sagte K. Die Beantwortung dieser Frage machte ihm geradezu
1050
Freude, besonders da sie gegenüber einem Privatmann, also ohne jede
1051
Verantwortung erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese
1052
Freude auszukosten, fügte er noch hinzu: »Ich bin vollständig unschuldig.«
1053
»So«, sagte der Maler, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Plötzlich
1054
hob er wieder den Kopf und sagte: »Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja
1055
die Sache sehr einfach.« K.s Blick trübte sich, dieser angebliche
1056
Vertrauensmann des Gerichtes redete wie ein unwissendes Kind. »Meine
1057
Unschuld vereinfacht die Sache nicht«, sagte K. Er mußte trotz allem
1058
lächeln und schüttelte langsam den Kopf. »Es kommt auf viele Feinheiten
1059
an, in denen sich das Gericht verliert. Zum Schluß aber zieht es von
1060
irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine große Schuld
1061
hervor.« »Ja, ja, gewiß«, sagte der Maler, als störe K. unnötigerweise seinen
1062
Gedankengang. »Sie sind aber doch unschuldig?« »Nun ja«, sagte K. »Das
1063
ist die Hauptsache«, sagte der Maler. Er war durch Gegengründe nicht zu
1064
beeinflussen, nur war es trotz seiner Entschiedenheit nicht klar, ob er aus
1065
Überzeugung oder nur aus Gleichgültigkeit so redete. K. wollte das
1066
zunächst feststellen und sagte deshalb: »Sie kennen ja gewiß das Gericht
1067
viel besser als ich, ich weiß nicht viel mehr, als was ich darüber, allerdings
1068
von ganz verschiedenen Leuten, gehört habe. Darin stimmten aber alle
1069
überein, daß leichtsinnige Anklagen nicht erhoben werden und daß das
1070
Gericht, wenn es einmal anklagt, fest von der Schuld des Angeklagten
1071
überzeugt ist und von dieser Überzeugung nur schwer abgebracht werden
1072
kann.« »Schwer?« fragte der Maler und warf eine Hand in die Höhe.
1073
»Niemals ist das Gericht davon abzubringen. Wenn ich hier alle Richter
1074
nebeneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser
1075
Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem
1076
wirklichen Gericht.« »Ja«, sagte K. für sich und vergaß, daß er den Maler
1077
nur hatte ausforschen wollen.
1078
Wieder begann ein Mädchen hinter der Tür zu fragen: »Titorelli, wird er
1079
denn nicht schon bald weggehen?« »Schweigt!« rief der Maler zur Tür hin,
1080
»seht ihr denn nicht, daß ich mit dem Herrn eine Besprechung habe?« Aber
1081
das Mädchen gab sich damit nicht zufrieden, sondern fragte: »Du wirst ihn
1082
malen?« Und als der Maler nicht antwortete, sagte sie noch: »Bitte, mal ihn
1083
nicht, einen so häßlichen Menschen.« Ein Durcheinander unverständlicher
1084
zustimmender Zurufe folgte. Der Maler machte einen Sprung zur Tür,
1085
öffnete sie bis zu einem Spalt – man sah die bittend vorgestreckten,
1086
gefalteten Hände der Mädchen – und sagte: »Wenn ihr nicht still seid, werfe
1087
ich euch alle die Treppe hinunter. Setzt euch hier auf die Stufen und
1088
verhaltet euch ruhig.« Wahrscheinlich folgten sie nicht gleich, so daß er
1089
kommandieren mußte: »Nieder auf die Stufen!« Erst dann wurde es still.
1090
»Verzeihen Sie«, sagte der Maler, als er zu K. wieder zurückkehrte. K.
1091
hatte sich kaum zur Tür hingewendet, er hatte es vollständig dem Maler
1092
überlassen, ob und wie er ihn in Schutz nehmen wollte. Er machte auch
1093
jetzt kaum eine Bewegung, als sich der Maler zu ihm niederbeugte und ihm,
1094
um draußen nicht gehört zu werden, ins Ohr flüsterte: »Auch diese
1095
Mädchen gehören zum Gericht.« »Wie?« fragte K., wich mit dem Kopf zur
1096
Seite und sah den Maler an. Dieser aber setzte sich wieder auf seinen
1097
Sessel und sagte halb im Scherz, halb zur Erklärung: »Es gehört ja alles
1098
zum Gericht.« »Das habe ich noch nicht bemerkt«, sagte K. kurz, die
1099
allgemeine Bemerkung des Malers nahm dem Hinweis auf die Mädchen
1100
alles Beunruhigende. Trotzdem sah K. ein Weilchen lang zur Tür hin, hinter
1101
der die Mädchen jetzt still auf den Stufen saßen. Nur eines hatte einen
1102
Strohhalm durch eine Ritze zwischen den Balken gesteckt und führte ihn
1103
langsam auf und ab.
1104
»Sie scheinen noch keinen Überblick über das Gericht zu haben«, sagte
1105
der Maler, er hatte die Beine weit auseinandergestreckt und klatschte mit
1106
den Fußspitzen auf den Boden. »Da Sie aber unschuldig sind, werden Sie
1107
ihn auch nicht benötigen. Ich allein hole Sie heraus.« »Wie wollen Sie das
1108
tun?« fragte K. »Da Sie doch vor kurzem selbst gesagt haben, daß das
1109
Gericht für Beweisgründe vollständig unzugänglich ist.« »Unzugänglich nur
1110
für Beweisgründe, die man vor dem Gericht vorbringt«, sagte der Maler und
1111
hob den Zeigefinger, als habe K. eine feine Unterscheidung nicht bemerkt.
1112
»Anders verhält es sich aber damit, was man in dieser Hinsicht hinter dem
1113
öffentlichen Gericht versucht, also in den Beratungszimmern, in den
1114
Korridoren oder zum Beispiel auch hier, im Atelier.« Was der Maler jetzt
1115
sagte, schien K. nicht mehr so unglaubwürdig, es zeigte vielmehr eine
1116
große Übereinstimmung mit dem, was K. auch von anderen Leuten gehört
1117
hatte. Ja, es war sogar sehr hoffnungsvoll. Waren die Richter durch
1118
persönliche Beziehungen wirklich so leicht zu lenken, wie es der Advokat
1119
dargestellt hatte, dann waren die Beziehungen des Malers zu den eitlen
1120
Richtern besonders wichtig und jedenfalls keineswegs zu unterschätzen.
1121
Dann fügte sich der Maler sehr gut in den Kreis von Helfern, die K.
1122
allmählich um sich versammelte. Man hatte einmal in der Bank sein
1123
Organisationstalent gerühmt, hier, wo er ganz allein auf sich gestellt war,
1124
zeigte sich eine gute Gelegenheit, es auf das Äußerste zu erproben. Der
1125
Maler beobachtete die Wirkung, die seine Erklärung auf K. gemacht hatte
1126
und sagte dann mit einer gewissen Ängstlichkeit: »Fällt es Ihnen nicht auf,
1127
daß ich fast wie ein Jurist spreche? Es ist der ununterbrochene Verkehr mit
1128
den Herren vom Gericht, der mich so beeinflußt. Ich habe natürlich viel
1129
Gewinn davon, aber der künstlerische Schwung geht zum großen Teil
1130
verloren.« »Wie sind Sie denn zum erstenmal mit den Richtern in
1131
Verbindung gekommen?« fragte K., er wollte zuerst das Vertrauen des
1132
Malers gewinnen, bevor er ihn geradezu in seine Dienste nahm. »Das war
1133
sehr einfach«, sagte der Maler, »ich habe diese Verbindung geerbt. Schon
1134
mein Vater war Gerichtsmaler. Es ist das eine Stellung, die sich immer
1135
vererbt. Man kann dafür neue Leute nicht brauchen. Es sind nämlich für
1136
das Malen der verschiedenen Beamtengrade so verschiedene, vielfache
1137
und vor allem geheime Regeln aufgestellt, daß sie überhaupt nicht
1138
außerhalb bestimmter Familien bekannt werden. Dort in der Schublade zum
1139
Beispiel habe ich die Aufzeichnungen meines Vaters, die ich niemandem
1140
zeige. Aber nur wer sie kennt, ist zum Malen von Richtern befähigt. Jedoch,
1141
selbst wenn ich sie verlöre, blieben mir noch so viele Regeln, die ich allein
1142
in meinem Kopfe trage, daß mir niemand meine Stellung streitig machen
1143
könnte. Es will doch jeder Richter so gemalt werden, wie die alten, großen
1144
Richter gemalt worden sind, und das kann nur ich.« »Das ist
1145
beneidenswert«, sagte K., der an seine Stellung in der Bank dachte. »Ihre
1146
Stellung ist also unerschütterlich?« »Ja, unerschütterlich«, sagte der Maler
1147
und hob stolz die Achseln. »Deshalb kann ich es auch wagen, hier und da
1148
einem armen Manne, der einen Prozeß hat, zu helfen.« »Und wie tun Sie
1149
das?« fragte K., als sei es nicht er, den der Maler soeben einen armen Mann
1150
genannt hatte. Der Maler aber ließ sich nicht ablenken, sondern sagte: »In
1151
Ihrem Fall zum Beispiel werde ich, da Sie vollständig unschuldig sind,
1152
folgendes unternehmen.« Die wiederholte Erwähnung seiner Unschuld
1153
wurde K. schon lästig. Ihm schien es manchmal, als mache der Maler durch
1154
solche Bemerkungen einen günstigen Ausgang des Prozesses zur
1155
Voraussetzung seiner Hilfe, die dadurch natürlich in sich selbst
1156
zusammenfiel. Trotz diesen Zweifeln bezwang sich aber K. und unterbrach
1157
den Maler nicht. Verzichten wollte er auf die Hilfe des Malers nicht, dazu
1158
war er entschlossen, auch schien ihm diese Hilfe durchaus nicht
1159
fragwürdiger als die des Advokaten zu sein. K. zog sie jener sogar bei
1160
weitem vor, weil sie harmloser und offener dargeboten wurde.
1161
Der Maler hatte seinen Sessel näher zum Bett gezogen und fuhr mit
1162
gedämpfter Stimme fort: »Ich habe vergessen, Sie zunächst zu fragen,
1163
welche Art der Befreiung Sie wünschen. Es gibt drei Möglichkeiten, nämlich
1164
die wirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechung und die
1165
Verschleppung. Die wirkliche Freisprechung ist natürlich das Beste, nur
1166
habe ich nicht den geringsten Einfluß auf diese Art der Lösung. Es gibt
1167
meiner Meinung nach überhaupt keine einzelne Person, die auf die
1168
wirkliche Freisprechung Einfluß hätte. Hier entscheidet wahrscheinlich nur
1169
die Unschuld des Angeklagten. Da Sie unschuldig sind, wäre es wirklich
1170
möglich, daß Sie sich allein auf Ihre Unschuld verlassen. Dann brauchen
1171
Sie aber weder mich noch irgendeine andere Hilfe.«
1172
Diese geordnete Darstellung verblüffte K. anfangs, dann aber sagte er
1173
ebenso leise wie der Maler: »Ich glaube, Sie widersprechen sich.« »Wie
1174
denn?« fragte der Maler geduldig und lehnte sich lächelnd zurück. Dieses
1175
Lächeln erweckte in K. das Gefühl, als ob er jetzt daran gehe, nicht in den
1176
Worten des Malers, sondern in dem Gerichtsverfahren selbst Widersprüche
1177
zu entdecken. Trotzdem wich er aber nicht zurück und sagte: »Sie haben
1178
früher die Bemerkung gemacht, daß das Gericht für Beweisgründe
1179
unzugänglich ist, später haben Sie dies auf das öffentliche Gericht
1180
eingeschränkt, und jetzt sagen Sie sogar, daß der Unschuldige vor dem
1181
Gericht keine Hilfe braucht. Darin liegt schon ein Widerspruch. Außerdem
1182
aber haben Sie früher gesagt, daß man die Richter persönlich beeinflussen
1183
kann, stellen aber jetzt in Abrede, daß die wirkliche Freisprechung, wie Sie
1184
sie nennen, jemals durch persönliche Beeinflussung zu erreichen ist. Darin
1185
liegt der zweite Widerspruch.« »Diese Widersprüche sind leicht
1186
aufzuklären«, sagte der Maler. »Es ist hier von zwei verschiedenen Dingen
1187
die Rede, von dem, was im Gesetz steht, und von dem, was ich persönlich
1188
erfahren habe, das dürfen Sie nicht verwechseln. Im Gesetz, ich habe es
1189
allerdings nicht gelesen, steht natürlich einerseits, daß der Unschuldige
1190
freigesprochen wird, andererseits steht dort aber nicht, daß die Richter
1191
beeinflußt werden können. Nun habe aber ich gerade das Gegenteil dessen
1192
erfahren. Ich weiß von keiner wirklichen Freisprechung, wohl aber von
1193
vielen Beeinflussungen. Es ist natürlich möglich, daß in allen mir
1194
bekannten Fällen keine Unschuld vorhanden war. Aber ist das nicht
1195
unwahrscheinlich? In so vielen Fällen keine einzige Unschuld? Schon als
1196
Kind hörte ich dem Vater genau zu, wenn er zu Hause von Prozessen
1197
erzählte, auch die Richter, die in sein Atelier kamen, erzählten vom Gericht,
1198
man spricht in unseren Kreisen überhaupt von nichts anderem; kaum
1199
bekam ich die Möglichkeit, selbst zu Gericht zu gehen, nützte ich sie immer
1200
aus, unzählbare Prozesse habe ich in wichtigen Stadien angehört und,
1201
soweit sie sichtbar sind, verfolgt, und – ich muß es zugeben – nicht einen
1202
einzigen wirklichen Freispruch erlebt.« »Keinen einzigen Freispruch also«,
1203
sagte K., als rede er zu sich selbst und zu seinen Hoffnungen. »Das
1204
bestätigt aber die Meinung, die ich von dem Gericht schon habe. Es ist also
1205
auch von dieser Seite zwecklos. Ein einziger Henker könnte das ganze
1206
Gericht ersetzen.« »Sie dürfen nicht verallgemeinern«, sagte der Maler
1207
unzufrieden, »ich habe ja nur von meinen Erfahrungen gesprochen.« »Das
1208
genügt doch«, sagte K., »oder haben Sie von Freisprüchen aus früherer
1209
Zeit gehört?« »Solche Freisprüche«, antwortete der Maler, »soll es
1210
allerdings gegeben haben. Nur ist es sehr schwer, das festzustellen. Die
1211
abschließenden Entscheidungen des Gerichts werden nicht veröffentlicht,
1212
sie sind nicht einmal den Richtern zugänglich, infolgedessen haben sich
1213
über alte Gerichtsfälle nur Legenden erhalten. Diese enthalten allerdings
1214
sogar in der Mehrzahl wirkliche Freisprechungen, man kann sie glauben,
1215
nachweisbar sind sie aber nicht. Trotzdem muß man sie nicht ganz
1216
vernachlässigen, eine gewisse Wahrheit enthalten sie wohl gewiß, auch
1217
sind sie sehr schön, ich selbst habe einige Bilder gemalt, die solche
1218
Legenden zum Inhalt haben.« »Bloße Legenden ändern meine Meinung
1219
nicht«, sagte K., »man kann sich wohl auch vor Gericht auf diese Legenden
1220
nicht berufen?« Der Maler lachte. »Nein, das kann man nicht«, sagte er.
1221
»Dann ist es nutzlos, darüber zu reden«, sagte K., er wollte vorläufig alle
1222
Meinungen des Malers hinnehmen, selbst wenn er sie für unwahrscheinlich
1223
hielt und sie anderen Berichten widersprachen. Er hatte jetzt nicht die Zeit,
1224
alles was der Maler sagte, auf die Wahrheit hin zu überprüfen oder gar zu
1225
widerlegen, es war schon das Äußerste erreicht, wenn er den Maler dazu
1226
bewog, ihm in irgendeiner, sei es auch in einer nicht entscheidenden Weise
1227
zu helfen. Darum sagte er: »Sehen wir also von der wirklichen
1228
Freisprechung ab, Sie erwähnten aber noch zwei andere Möglichkeiten.«
1229
»Die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung. Um die allein kann
1230
es sich handeln«, sagte der Maler. »Wollen Sie aber nicht, ehe wir davon
1231
reden, den Rock ausziehen? Es ist Ihnen wohl heiß.« »Ja«, sagte K., der
1232
bisher auf nichts als auf die Erklärungen des Malers geachtet hatte, dem
1233
aber jetzt, da er an die Hitze erinnert worden war, starker Schweiß auf der
1234
Stirn ausbrach. »Es ist fast unerträglich.« Der Maler nickte, als verstehe er
1235
K.s Unbehagen sehr gut. »Könnte man nicht das Fenster öffnen?« fragte K.
1236
»Nein«, sagte der Maler. »Es ist bloß eine fest eingesetzte Glasscheibe,
1237
man kann es nicht öffnen.« Jetzt erkannte K., daß er die ganze Zeit über
1238
darauf gehofft hatte, plötzlich werde der Maler oder er zum Fenster gehen
1239
und es aufreißen. Er war darauf vorbereitet, selbst den Nebel mit offenem
1240
Mund einzuatmen. Das Gefühl, hier von der Luft vollständig abgesperrt zu
1241
sein, verursachte ihm Schwindel. Er schlug leicht mit der Hand auf das
1242
Federbett neben sich und sagte mit schwacher Stimme: »Das ist ja
1243
unbequem und ungesund.« »O nein«, sagte der Maler zur Verteidigung
1244
seines Fensters, »dadurch, daß es nicht aufgemacht werden kann, wird,
1245
obwohl es nur eine einfache Scheibe ist, die Wärme hier besser
1246
festgehalten als durch ein Doppelfenster. Will ich aber lüften, was nicht
1247
sehr notwendig ist, da durch die Balkenritzen überall Luft eindringt, kann
1248
ich eine meiner Türen oder sogar beide öffnen.« K., durch diese Erklärung
1249
ein wenig getröstet, blickte herum, um die zweite Tür zu finden. Der Maler
1250
bemerkte das und sagte: »Sie ist hinter Ihnen, ich mußte sie durch das Bett
1251
verstellen.« Jetzt erst sah K. die kleine Tür in der Wand. »Es ist eben hier
1252
alles viel zu klein für ein Atelier«, sagte der Maler, als wolle er einem Tadel
1253
K.s zuvorkommen. »Ich mußte mich einrichten, so gut es ging. Das Bett vor
1254
der Tür steht natürlich an einem sehr schlechten Platz. Der Richter zum
1255
Beispiel, den ich jetzt male, kommt immer durch die Tür beim Bett, und ich
1256
habe ihm auch einen Schlüssel von dieser Tür gegeben, damit er, auch
1257
wenn ich nicht zu Hause bin, hier im Atelier auf mich warten kann. Nun
1258
kommt er aber gewöhnlich früh am Morgen, während ich noch schlafe. Es
1259
reißt mich natürlich immer aus dem tiefsten Schlaf, wenn sich neben dem
1260
Bett die Tür öffnet. Sie würden jede Ehrfurcht vor den Richtern verlieren,
1261
wenn Sie die Flüche hörten, mit denen ich ihn empfange, wenn er früh über
1262
mein Bett steigt. Ich könnte ihm allerdings den Schlüssel wegnehmen, aber
1263
es würde dadurch nur ärger werden. Man kann hier alle Türen mit der
1264
geringsten Anstrengung aus den Angeln brechen.« Während dieser ganzen
1265
Rede überlegte K., ob er den Rock ausziehen sollte, er sah aber schließlich
1266
ein, daß er, wenn er es nicht tat, unfähig war, hier noch länger zu bleiben, er
1267
zog daher den Rock aus, legte ihn aber über die Knie, um ihn, falls die
1268
Besprechung zu Ende wäre, wieder anziehen zu können. Kaum hatte er den
1269
Rock ausgezogen, rief eines der Mädchen: »Er hat schon den Rock
1270
ausgezogen!« und man hörte, wie sich alle zu den Ritzen drängten, um das
1271
Schauspiel selbst zu sehen. »Die Mädchen glauben nämlich«, sagte der
1272
Maler, »daß ich Sie malen werde und daß Sie sich deshalb ausziehen.«
1273
»So«, sagte K., nur wenig belustigt, denn er fühlte sich nicht viel besser als
1274
früher, obwohl er jetzt in Hemdärmeln dasaß. Fast mürrisch fragte er: »Wie
1275
nannten Sie die zwei anderen Möglichkeiten?« Er hatte die Ausdrücke
1276
schon wieder vergessen. »Die scheinbare Freisprechung und die
1277
Verschleppung«, sagte der Maler. »Es liegt an Ihnen, was Sie davon wählen.
1278
Beides ist durch meine Hilfe erreichbar, natürlich nicht ohne Mühe, der
1279
Unterschied in dieser Hinsicht ist der, daß die scheinbare Freisprechung
1280
eine gesammelte zeitweilige, die Verschleppung eine viel geringere, aber
1281
dauernde Anstrengung verlangt. Zunächst also die scheinbare
1282
Freisprechung. Wenn Sie diese wünschen sollten, schreibe ich auf einem
1283
Bogen Papier eine Bestätigung Ihrer Unschuld auf. Der Text für eine solche
1284
Bestätigung ist mir von meinem Vater überliefert und ganz unangreifbar. Mit
1285
dieser Bestätigung mache ich nun einen Rundgang bei den mir bekannten
1286
Richtern. Ich fange also etwa damit an, daß ich dem Richter, den ich jetzt
1287
male, heute abend, wenn er zur Sitzung kommt, die Bestätigung vorlege.
1288
Ich lege ihm die Bestätigung vor, erkläre ihm, daß Sie unschuldig sind, und
1289
verbürge mich für Ihre Unschuld. Das ist aber keine bloß äußerliche,
1290
sondern eine wirkliche, bindende Bürgschaft.« In den Blicken des Malers
1291
lag es wie ein Vorwurf, daß K. ihm die Last einer solchen Bürgschaft
1292
auferlegen wolle. »Das wäre ja sehr freundlich«, sagte K. »Und der Richter
1293
würde Ihnen glauben und mich trotzdem nicht wirklich freisprechen?« »Wie
1294
ich schon sagte«, antwortete der Maler. »Übrigens ist es durchaus nicht
1295
sicher, daß jeder mir glauben würde, mancher Richter wird zum Beispiel
1296
verlangen, daß ich Sie selbst zu ihm hinführe. Dann müßten Sie also einmal
1297
mitkommen. Allerdings ist in einem solchen Falle die Sache schon halb
1298
gewonnen, besonders da ich Sie natürlich vorher genau darüber
1299
unterrichten würde, wie Sie sich bei dem betreffenden Richter zu verhalten
1300
haben. Schlimmer ist es bei den Richtern, die mich – auch das wird
1301
vorkommen – von vornherein abweisen. Auf diese müssen wir, wenn ich es
1302
auch an mehrfachen Versuchen gewiß nicht fehlen lassen werde,
1303
verzichten, wir dürfen das aber auch, denn einzelne Richter können hier
1304
nicht den Ausschlag geben. Wenn ich nun auf dieser Bestätigung eine
1305
genügende Anzahl von Unterschriften der Richter habe, gehe ich mit dieser
1306
Bestätigung zu dem Richter, der Ihren Prozeß gerade führt. Möglicherweise
1307
habe ich auch seine Unterschrift, dann entwickelt sich alles noch ein wenig
1308
rascher als sonst. Im allgemeinen gibt es aber dann überhaupt nicht mehr
1309
viel Hindernisse, es ist dann für den Angeklagten die Zeit der höchsten
1310
Zuversicht. Es ist merkwürdig, aber wahr, die Leute sind in dieser Zeit
1311
zuversichtlicher als nach dem Freispruch. Es bedarf jetzt keiner
1312
besonderen Mühe mehr. Der Richter besitzt in der Bestätigung die
1313
Bürgschaft einer Anzahl von Richtern, kann Sie unbesorgt freisprechen
1314
und wird es, allerdings nach Durchführung verschiedener Formalitäten, mir
1315
und anderen Bekannten zu Gefallen zweifellos tun. Sie aber treten aus dem
1316
Gericht und sind frei.« »Dann bin ich also frei«, sagte K. zögernd. »Ja«,
1317
sagte der Maler, »aber nur scheinbar frei oder, besser ausgedrückt,
1318
zeitweilig frei. Die untersten Richter nämlich, zu denen meine Bekannten
1319
gehören, haben nicht das Recht, endgültig freizusprechen, dieses Recht
1320
hat nur das oberste, für Sie, für mich und für uns alle ganz unerreichbare
1321
Gericht. Wie es dort aussieht, wissen wir nicht und wollen wir, nebenbei
1322
gesagt, auch nicht wissen. Das große Recht, von der Anklage zu befreien,
1323
haben also unsere Richter nicht, wohl aber haben sie das Recht, von der
1324
Anklage loszulösen. Das heißt, wenn Sie auf diese Weise freigesprochen
1325
werden, sind Sie für den Augenblick der Anklage entzogen, aber sie
1326
schwebt auch weiterhin über Ihnen und kann, sobald nur der höhere Befehl
1327
kommt, sofort in Wirkung treten. Da ich mit dem Gericht in so guter
1328
Verbindung stehe, kann ich Ihnen auch sagen, wie sich in den Vorschriften
1329
für die Gerichtskanzleien der Unterschied zwischen der wirklichen und der
1330
scheinbaren Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei einer wirklichen
1331
Freisprechung sollen die Prozeßakten vollständig abgelegt werden, sie
1332
verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht nur die Anklage, auch der
1333
Prozeß und sogar der Freispruch sind vernichtet, alles ist vernichtet.
1334
Anders beim scheinbaren Freispruch. Mit dem Akt ist keine weitere
1335
Veränderung vor sich gegangen, als daß er um die Bestätigung der
1336
Unschuld, um den Freispruch und um die Begründung des Freispruchs
1337
bereichert worden ist. Im übrigen aber bleibt er im Verfahren, er wird, wie
1338
es der ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanzleien erfordert, zu den
1339
höheren Gerichten weitergeleitet, kommt zu den niedrigeren zurück und
1340
pendelt so mit größeren und kleineren Schwingungen, mit größeren und
1341
kleineren Stockungen auf und ab. Diese Wege sind unberechenbar. Von
1342
außen gesehen, kann es manchmal den Anschein bekommen, daß alles
1343
längst vergessen, der Akt verloren und der Freispruch ein vollkommener
1344
ist. Ein Eingeweihter wird das nicht glauben. Es geht kein Akt verloren, es
1345
gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines Tages – niemand erwartet es –
1346
nimmt irgendein Richter den Akt aufmerksamer in die Hand, erkennt, daß in
1347
diesem Fall die Anklage noch lebendig ist, und ordnet die sofortige
1348
Verhaftung an. Ich habe hier angenommen, daß zwischen dem scheinbaren
1349
Freispruch und der neuen Verhaftung eine lange Zeit vergeht, das ist
1350
möglich, und ich weiß von solchen Fällen, es ist aber ebensogut möglich,
1351
daß der Freigesprochene vom Gericht nach Hause kommt und dort schon
1352
Beauftragte warten, um ihn wieder zu verhaften. Dann ist natürlich das freie
1353
Leben zu Ende.« »Und der Prozeß beginnt von neuem?« fragte K. fast
1354
ungläubig. »Allerdings«, sagte der Maler, »der Prozeß beginnt von neuem,
1355
es besteht aber wieder die Möglichkeit, ebenso wie früher, einen
1356
scheinbaren Freispruch zu erwirken. Man muß wieder alle Kräfte
1357
zusammennehmen und darf sich nicht ergeben.« Das letztere sagte der
1358
Maler vielleicht unter dem Eindruck, den K., der ein wenig
1359
zusammengesunken war, auf ihn machte. »Ist aber«, fragte K., als wolle er
1360
jetzt irgendwelchen Enthüllungen des Malers zuvorkommen, »die
1361
Erwirkung eines zweiten Freispruchs nicht schwieriger als die des ersten?«
1362
»Man kann«, antwortete der Maler, »in dieser Hinsicht nichts Bestimmtes
1363
sagen. Sie meinen wohl, daß die Richter durch die zweite Verhaftung in
1364
ihrem Urteil zuungunsten des Angeklagten beeinflußt werden? Das ist nicht
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der Fall. Die Richter haben ja schon beim Freispruch diese Verhaftung
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vorgesehen. Dieser Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber kann aus
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zahllosen sonstigen Gründen die Stimmung der Richter sowie ihre
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rechtliche Beurteilung des Falles eine andere geworden sein, und die
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Bemühungen um den zweiten Freispruch müssen daher den veränderten
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Umständen angepaßt werden und im allgemeinen ebenso kräftig sein wie
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die vor dem ersten Freispruch.« »Aber dieser zweite Freispruch ist doch
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wieder nicht endgültig«, sagte K. und drehte abweisend den Kopf.
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»Natürlich nicht«, sagte der Maler, »dem zweiten Freispruch folgt die dritte
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Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte Verhaftung, und so fort. Das
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liegt schon im Begriff des scheinbaren Freispruchs.« K. schwieg. »Der
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scheinbare Freispruch scheint Ihnen offenbar nicht vorteilhaft zu sein«,
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sagte der Maler, »vielleicht entspricht Ihnen die Verschleppung besser. Soll
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ich Ihnen das Wesen der Verschleppung erklären?« K. nickte. Der Maler
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hatte sich breit in seinen Sessel zurückgelehnt, das Nachthemd war weit
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offen, er hatte eine Hand daruntergeschoben, mit der er über die Brust und
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die Seiten strich. »Die Verschleppung«, sagte der Maler und sah einen
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Augenblick vor sich hin, als suche er eine vollständig zutreffende
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Erklärung, »die Verschleppung besteht darin, daß der Prozeß dauernd im
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niedrigsten Prozeßstadium erhalten wird. Um dies zu erreichen, ist es nötig,
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daß der Angeklagte und der Helfer, insbesondere aber der Helfer in
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ununterbrochener persönlicher Fühlung mit dem Gericht bleibt. Ich
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wiederhole, es ist hierfür kein solcher Kraftaufwand nötig wie bei der
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Erreichung eines scheinbaren Freispruchs, wohl aber ist eine viel größere
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Aufmerksamkeit nötig. Man darf den Prozeß nicht aus den Augen verlieren,
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man muß zu dem betreffenden Richter in regelmäßigen Zwischenräumen
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und außerdem bei besonderen Gelegenheiten gehen und ihn auf jede Weise
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sich freundlich zu erhalten suchen; ist man mit dem Richter nicht
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persönlich bekannt, so muß man durch bekannte Richter ihn beeinflussen
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lassen, ohne daß man etwa deshalb die unmittelbaren Besprechungen
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aufgeben dürfte. Versäumt man in dieser Hinsicht nichts, so kann man mit
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genügender Bestimmtheit annehmen, daß der Prozeß über sein erstes
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Stadium nicht hinauskommt. Der Prozeß hört zwar nicht auf, aber der
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Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie wenn er
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frei wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch hat die Verschleppung
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den Vorteil, daß die Zukunft des Angeklagten weniger unbestimmt ist, er
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bleibt vor dem Schrecken der plötzlichen Verhaftungen bewahrt und muß
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nicht fürchten, etwa gerade zu Zeiten, wo seine sonstigen Umstände dafür
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am wenigsten günstig sind, die Anstrengungen und Aufregungen auf sich
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nehmen zu müssen, welche mit der Erreichung des scheinbaren
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Freispruchs verbunden sind. Allerdings hat auch die Verschleppung für
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den Angeklagten gewisse Nachteile, die man nicht unterschätzen darf. Ich
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denke hierbei nicht daran, das hier der Angeklagte niemals frei ist, das ist
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er ja auch bei der scheinbaren Freisprechung im eigentlichen Sinne nicht.
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Es ist ein anderer Nachteil. Der Prozeß kann nicht stillstehen, ohne daß
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wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Es muß deshalb im Prozeß
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nach außen hin etwas geschehen. Es müssen also von Zeit zu Zeit
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verschiedene Anordnungen getroffen werden, der Angeklagte muß verhört
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werden, Untersuchungen müssen stattfinden und so weiter. Der Prozeß
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muß eben immerfort in dem kleinen Kreis, auf den er künstlich
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eingeschränkt worden ist, gedreht werden. Das bringt natürlich gewisse
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Unannehmlichkeiten für den Angeklagten mit sich, die sie sich aber
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wiederum nicht zu schlimm vorstellen dürfen. Es ist ja alles nur äußerlich,
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die Verhöre beispielsweise sind also nur ganz kurz, wenn man einmal keine
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Zeit oder keine Lust hat, hinzugehen, darf man sich entschuldigen, man
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kann sogar bei gewissen Richtern die Anordnungen für eine lange Zeit im
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voraus gemeinsam festsetzen, es handelt sich im Wesen nur darum, daß
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man, da man Angeklagter ist, von Zeit zu Zeit bei seinem Richter sich
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meldet.« Schon während der letzten Worte hatte K. den Rock über den Arm
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gelegt und war aufgestanden. »Er steht schon auf!« rief es sofort draußen
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vor der Tür. »Sie wollen schon fortgehen?« fragte der Maler, der auch
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aufgestanden war. »Es ist gewiß die Luft, die Sie von hier vertreibt. Es ist
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mir sehr peinlich. Ich hätte Ihnen auch noch manches zu sagen. Ich mußte
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mich ganz kurz fassen. Ich hoffe aber, verständlich gewesen zu sein.« »O
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ja«, sagte K., dem von der Anstrengung, mit der er sich zum Zuhören
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gezwungen hatte, der Kopf schmerzte. Trotz dieser Bestätigung sagte der
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Maler, alles noch einmal zusammenfassend, als wolle er K. auf den
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Heimweg einen Trost mitgeben: »Beide Methoden haben das Gemeinsame,
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daß sie eine Verurteilung des Angeklagten verhindern.« »Sie verhindern
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aber auch die wirkliche Freisprechung«, sagte K. leise, als schäme er sich,
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das erkannt zu haben. »Sie haben den Kern der Sache erfaßt«, sagte der
1436
Maler schnell. K. legte die Hand auf seinen Winterrock, konnte sich aber
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nicht einmal entschließen, den Rock anzuziehen. Am liebsten hätte er alles
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zusammengepackt und wäre damit an die frische Luft gelaufen. Auch die
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Mädchen konnten ihn nicht dazu bewegen, sich anzuziehen, obwohl sie,
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verfrüht, einander schon zuriefen, daß er sich anziehe. Dem Maler lag
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daran, K.s Stimmung irgendwie zu deuten, er sagte deshalb: »Sie haben
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sich wohl hinsichtlich meiner Vorschläge noch nicht entschieden. Ich
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billige das. Ich hätte Ihnen sogar davon abgeraten, sich sofort zu
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entscheiden. Die Vorteile und Nachteile sind haarfein. Man muß alles genau
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abschätzen. Allerdings darf man auch nicht zuviel Zeit verlieren.« »Ich
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werde bald wiederkommen«, sagte K., der in einem plötzlichen Entschluß
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den Rock anzog, den Mantel über die Schulter warf und zur Tür eilte, hinter
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der jetzt die Mädchen zu schreien anfingen. K. glaubte, die schreienden
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Mädchen durch die Tür zu sehen. »Sie müssen aber Wort halten«, sagte der
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Maler, der ihm nicht gefolgt war, »sonst komme ich in die Bank, um selbst
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nachzufragen.« »Sperren Sie doch die Tür auf«, sagte K. und riß an der
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Klinke, die die Mädchen, wie er an dem Gegendruck merkte, draußen
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festhielten. »Wollen Sie von den Mädchen belästigt werden?« fragte der
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Maler. »Benützen Sie doch lieber diesen Ausgang«, und er zeigte auf die
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Tür hinter dem Bett. K. war damit einverstanden und sprang zum Bett
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zurück. Aber statt die Tür dort zu öffnen, kroch der Maler unter das Bett
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und fragte von unten: »Nur noch einen Augenblick; wollen Sie nicht noch
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ein Bild sehen, das ich Ihnen verkaufen könnte?« K. wollte nicht unhöflich
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sein, der Maler hatte sich wirklich seiner angenommen und versprochen,
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ihm weiterhin zu helfen, auch war infolge der Vergeßlichkeit K.s über die
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Entlohnung für die Hilfe noch gar nicht gesprochen worden, deshalb
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konnte ihn K. jetzt nicht abweisen und ließ sich das Bild zeigen, wenn er
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auch vor Ungeduld zitterte, aus dem Atelier wegzukommen. Der Maler zog
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unter dem Bett einen Haufen ungerahmter Bilder hervor, die so mit Staub
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bedeckt waren, daß dieser, als ihn der Maler vom obersten Bild
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wegzublasen suchte, längere Zeit atemraubend K. vor den Augen wirbelte.
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»Eine Heidelandschaft«, sagte der Maler und reichte K. das Bild. Es stellte
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zwei schwache Bäume dar, die weit voneinander entfernt im dunklen Gras
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standen. Im Hintergrund war ein vielfarbiger Sonnenuntergang. »Schön«,
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sagte K., »ich kaufe es.« K. hatte unbedacht sich so kurz geäußert, er war
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daher froh, als der Maler, statt dies übelzunehmen, ein zweites Bild vom
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Boden aufhob. »Hier ist ein Gegenstück zu diesem Bild«, sagte der Maler.
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Es mochte als Gegenstück beabsichtigt sein, es war aber nicht der
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geringste Unterschied gegenüber dem ersten Bild zu merken, hier waren
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die Bäume, hier das Gras und dort der Sonnenuntergang. Aber K. lag wenig
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daran. »Es sind schöne Landschaften«, sagte er, »ich kaufe beide und
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werde sie in meinem Büro aufhängen.« »Das Motiv scheint Ihnen zu
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gefallen«, sagte der Maler und holte ein drittes Bild herauf, »es trifft sich
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gut, daß ich noch ein ähnliches Bild hier habe.« Es war aber nicht ähnlich,
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es war vielmehr die völlig gleiche Heidelandschaft. Der Maler nützte diese
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Gelegenheit, alte Bilder zu verkaufen, gut aus. »Ich nehme auch dieses
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noch« , sagte K. »Wieviel kosten die drei Bilder?« »Darüber werden wir
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nächstens sprechen«, sagte der Maler. »Sie haben jetzt Eile, und wir
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bleiben doch in Verbindung. Im übrigen freut es mich, daß Ihnen die Bilder
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gefallen, ich werde Ihnen alle Bilder mitgeben, die ich hier unten habe. Es
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sind lauter Heidelandschaften, ich habe schon viele Heidelandschaften
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gemalt. Manche Leute weisen solche Bilder ab, weil sie zu düster sind,
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andere aber, und Sie gehören zu ihnen, lieben gerade das Düstere.« Aber K.
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hatte jetzt keinen Sinn für die beruflichen Erfahrungen des Bettelmalers.
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»Packen Sie alle Bilder ein!« rief er, dem Maler in die Rede fallend, »morgen
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kommt mein Diener und wird sie holen.« »Es ist nicht nötig«, sagte der
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Maler. »Ich hoffe, ich werde Ihnen einen Träger verschaffen können, der
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gleich mit Ihnen gehen wird.« Und er beugte sich endlich über das Bett und
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sperrte die Tür auf. »Steigen Sie ohne Scheu auf das Bett«, sagte der Maler,
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»das tut jeder, der hier hereinkommt.« K. hätte auch ohne diese
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Aufforderung keine Rücksicht genommen, er hatte sogar schon einen Fuß
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mitten auf das Federbett gesetzt, da sah er durch die offene Tür hinaus und
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zog den Fuß wieder zurück. »Was ist das?« fragte er den Maler. »Worüber
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staunen Sie?« fragten dieser, seinerseits staunend. »Es sind die
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Gerichtskanzleien. Wußten Sie nicht, daß hier Gerichtskanzleien sind?
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Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden, warum sollten sie
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gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehört eigentlich zu den
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Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir aber zur Verfügung gestellt.« K.
1504
erschrak nicht so sehr darüber, daß er auch hier Gerichtskanzleien
1505
gefunden hatte, er erschrak hauptsächlich über sich, über seine
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Unwissenheit in Gerichtssachen. Als eine Grundregel für das Verhalten
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eines Angeklagten erschien es ihm, immer vorbereitet zu sein, sich niemals
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überraschen zu lassen, nicht ahnungslos nach rechts zu schauen, wenn
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links der Richter neben ihm stand – und gerade gegen diese Grundregel
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verstieß er immer wieder. Vor ihm dehnte sich ein langer Gang, aus dem
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eine Luft wehte, mit der verglichen die Luft im Atelier erfrischend war.
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Bänke waren zu beiden Seiten des Ganges aufgestellt, genau so wie im
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Wartezimmer der Kanzlei, die für K. zuständig war. Es schienen genaue
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Vorschriften für die Einrichtung von Kanzleien zu bestehen. Augenblicklich
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war der Parteienverkehr hier nicht sehr groß. Ein Mann saß dort halb
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liegend, das Gesicht hatte er auf der Bank in seine Arme vergraben und
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schien zu schlafen; ein anderer stand im Halbdunkel am Ende des Ganges.
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K. stieg nun über das Bett, der Maler folgte ihm mit den Bildern. Sie trafen
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bald einen Gerichtsdiener – K. erkannte jetzt schon alle Gerichtsdiener an
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dem Goldknopf, den diese an ihrem Zivilanzug unter den gewöhnlichen
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Knöpfen hatten – und der Maler gab ihm den Auftrag, K. mit den Bildern zu
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begleiten. K. wankte mehr, als er ging, das Taschentuch hielt er an den
1523
Mund gedrückt. Sie waren schon nahe am Ausgang, da stürmten ihnen die
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Mädchen entgegen, die also K. auch nicht erspart geblieben waren. Sie
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hatten offenbar gesehen, daß die zweite Tür des Ateliers geöffnet worden
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war und hatten den Umweg gemacht, um von dieser Seite einzudringen.
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»Ich kann Sie nicht mehr begleiten!« rief der Maler lachend unter dem
1528
Andrang der Mädchen. »Auf Wiedersehen! Und überlegen Sie nicht zu
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lange!« K. sah sich nicht einmal nach ihm um. Auf der Gasse nahm er den
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ersten Wagen, der ihm in den Weg kam. Es lag ihm daran, den Diener
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loszuwerden, dessen Goldknopf ihm unaufhörlich in die Augen stach, wenn
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er auch sonst wahrscheinlich niemandem auffiel. In seiner Dienstfertigkeit
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wollte sich der Diener noch auf den Kutschbock setzen. K. jagte ihn aber
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hinunter. Mittag war schon längst vorüber, als K. vor der Bank ankam. Er
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hätte gern die Bilder im Wagen gelassen, fürchtete aber, bei irgendeiner
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Gelegenheit genötigt zu werden, sich dem Maler gegenüber mit ihnen
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auszuweisen. Er ließ sie daher in sein Büro schaffen und versperrte sie in
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die unterste Lade seines Tisches, um sie wenigstens für die allernächsten
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Tage vor den Blicken des Direktor-Stellvertreters in Sicherheit zu bringen.