Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LF
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

Neuntes Kapitel

2
Im Dom
3
4
K. bekam den Auftrag, einem italienischen Geschäftsfreund der Bank, der
5
für sie sehr wichtig war und sich zum erstenmal in dieser Stadt aufhielt,
6
einige Kunstdenkmäler zu zeigen. Es war ein Auftrag, den er zu anderer Zeit
7
gewiß für ehrend gehalten hätte, den er aber jetzt, da er nur mit großer
8
Anstrengung sein Ansehen in der Bank noch wahren konnte, widerwillig
9
übernahm. Jede Stunde, die er dem Büro entzogen wurde, machte ihm
10
Kummer; er konnte zwar die Bürozeit bei weitem nicht mehr so ausnutzen
11
wie früher, er brachte manche Stunden nur unter dem notdürftigsten
12
Anschein wirklicher Arbeit hin, aber desto größer waren seine Sorgen,
13
wenn er nicht im Büro war. Er glaubte dann zu sehen, wie der
14
Direktor-Stellvertreter, der ja immer auf der Lauer gewesen war, von Zeit zu
15
Zeit in sein Büro kam, sich an seinen Schreibtisch setzte, seine
16
Schriftstücke durchsuchte, Parteien, mit denen K. seit Jahren fast
17
befreundet gewesen war, empfing und ihm abspenstig machte, ja vielleicht
18
sogar Fehler aufdeckte, von denen sich K. während der Arbeit jetzt immer
19
aus tausend Richtungen bedroht sah und die er nicht mehr vermeiden
20
konnte. Wurde er daher einmal, sei es in noch so auszeichnender Weise, zu
21
einem Geschäftsweg oder gar zu einer kleinen Reise beauftragt – solche
22
Aufträge hatten sich in der letzten Zeit ganz zufällig gehäuft -, dann lag
23
immerhin die Vermutung nahe, daß man ihn für ein Weilchen aus dem Büro
24
entfernen und seine Arbeit überprüfen wolle oder wenigstens, daß man im
25
Büro ihn für leicht entbehrlich halte. Die meisten dieser Aufträge hätte er
26
ohne Schwierigkeit ablehnen können, aber er wagte es nicht, denn, wenn
27
seine Befürchtung auch nur im geringsten begründet war, bedeutete die
28
Ablehnung des Auftrags Geständnis seiner Angst. Aus diesem Grunde
29
nahm er solche Aufträge scheinbar gleichmütig hin und verschwieg sogar,
30
als er eine anstrengende zweitägige Geschäftsreise machen sollte, eine
31
ernstliche Verkühlung, um sich nur nicht der Gefahr auszusetzen, mit
32
Berufung auf das gerade herrschende regnerische Herbstwetter von der
33
Reise abgehalten zu werden. Als er von dieser Reise mit wütenden
34
Kopfschmerzen zurückkehrte, erfuhr er, daß er dazu bestimmt sei, am
35
nächsten Tag den italienischen Geschäftsfreund zu begleiten. Die
36
Verlockung, sich wenigstens dieses eine Mal zu weigern, war sehr groß, vor
37
allem war das, was man ihm hier zugedacht hatte, keine unmittelbar mit
38
dem Geschäft zusammenhängende Arbeit, aber die Erfüllung dieser
39
gesellschaftlichen Pflicht gegenüber dem Geschäftsfreund war an sich
40
zweifellos wichtig genug, nur nicht für K., der wohl wußte, daß er sich nur
41
durch Arbeitserfolge erhalten könne und daß es, wenn ihm das nicht
42
gelänge, vollständig wertlos war, wenn er diesen Italiener
43
unerwarteterweise sogar bezaubern sollte; er wollte nicht einmal für einen
44
Tag aus dem Bereich der Arbeit geschoben werden, denn die Furcht, nicht
45
mehr zurückgelassen zu werden, war zu groß, eine Furcht, die er sehr
46
genau als übertrieben erkannte, die ihn aber doch beengte. In diesem Fall
47
allerdings war es fast unmöglich, einen annehmbaren Einwand zu erfinden,
48
K.s Kenntnis des Italienischen war zwar nicht sehr groß, aber immerhin
49
genügend; das Entscheidende aber war, daß K. aus früherer Zeit einige
50
kunsthistorische Kenntnisse besaß, was in äußerst übertriebener Weise
51
dadurch in der Bank bekanntgeworden war, daß K. eine Zeitlang, übrigens
52
auch nur aus geschäftlichen Gründen, Mitglied des Vereins zur Erhaltung
53
der städtischen Kunstdenkmäler gewesen war. Nun war aber der Italiener,
54
wie man gerüchteweise erfahren hatte, ein Kunstliebhaber, und die Wahl
55
K.s zu seinem Begleiter war daher selbstverständlich.
56
Es war ein sehr regnerischer, stürmischer Morgen, als K. voll Ärger über
57
den Tag, der ihm bevorstand, schon um sieben Uhr ins Büro kam, um
58
wenigstens einige Arbeit noch fertigzubringen, ehe der Besuch ihn allem
59
entziehen würde. Er war sehr müde, denn er hatte die halbe Nacht mit dem
60
Studium einer italienischen Grammatik verbracht, um sich ein wenig
61
vorzubereiten; das Fenster, an dem er in der letzten Zeit viel zu oft zu sitzen
62
pflegte, lockte ihn mehr als der Schreibtisch, aber er widerstand und setzte
63
sich zur Arbeit. Leider trat gerade der Diener ein und meldete, der Herr
64
Direktor habe ihn geschickt, um nachzusehen, ob der Herr Prokurist schon
65
hier sei; sei er hier, dann möge er so freundlich sein und ins
66
Empfangszimmer hinüberkommen, der Herr aus Italien sei schon da. »Ich
67
komme schon«, sagte K., steckte ein kleines Wörterbuch in die Tasche,
68
nahm ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten, das er für den
69
Fremden vorbereitet hatte, unter den Arm und ging durch das Büro des
70
Direktor-Stellvertreters in das Direktionszimmer. Er war glücklich darüber,
71
so früh ins Büro gekommen zu sein und sofort zur Verfügung stehen zu
72
können, was wohl niemand ernstlich erwartet hatte. Das Büro des
73
Direktor-Stellvertreters war natürlich noch leer wie in tiefer Nacht,
74
wahrscheinlich hatte der Diener auch ihn ins Empfangszimmer berufen
75
sollen, es war aber erfolglos gewesen. Als K. ins Empfangszimmer eintrat,
76
erhoben sich die zwei Herren aus den tiefen Fauteuils. Der Direktor lächelte
77
freundlich, offenbar war er sehr erfreut über K.s Kommen, er besorgte
78
sofort die Vorstellung, der Italiener schüttelte K. kräftig die Hand und
79
nannte lächelnd irgend jemanden einen Frühaufsteher. K. verstand nicht
80
genau, wen er meinte, es war überdies ein sonderbares Wort, dessen Sinn
81
K. erst nach einem Weilchen erriet. Er antwortete mit einigen glatten
82
Sätzen, die der Italiener wieder lachend hinnahm, wobei er mehrmals mit
83
nervöser Hand über seinen graublauen, buschigen Schnurrbart fuhr. Dieser
84
Bart war offenbar parfümiert, man war fast versucht, sich zu nähern und zu
85
riechen. Als sich alle gesetzt hatten und ein kleines, einleitendes Gespräch
86
begann, bemerkte K. mit großem Unbehagen, daß er den Italiener nur
87
bruchstückweise verstand. Wenn er ganz ruhig sprach, verstand er ihn fast
88
vollständig, das waren aber nur seltene Ausnahmen, meistens quoll ihm die
89
Rede aus dem Mund, er schüttelte den Kopf wie vor Lust darüber. Bei
90
solchen Reden aber verwickelte er sich regelmäßig in irgendeinen Dialekt,
91
der für K. nichts Italienisches mehr hatte, den aber der Direktor nicht nur
92
verstand, sondern auch sprach, was K. allerdings hätte voraussehen
93
können, denn der Italiener stammte aus Süditalien, wo auch der Direktor
94
einige Jahre gewesen war. Jedenfalls erkannte K., daß ihm die Möglichkeit,
95
sich mit dem Italiener zu verständigen, zum größten Teil genommen war,
96
denn auch dessen Französisch war nur schwer verständlich, auch
97
verdeckte der Bart die Lippenbewegungen, deren Anblick vielleicht zum
98
Verständnis geholfen hätte. K. begann viel Unannehmlichkeiten
99
vorauszusehen, vorläufig gab er es auf, den Italiener verstehen zu wollen –
100
in der Gegenwart des Direktors, der ihn so leicht verstand, wäre es
101
unnötige Anstrengung gewesen -, und er beschränkte sich darauf, ihn
102
verdrießlich zu beobachten, wie er tief und doch leicht in dem Fauteuil
103
ruhte, wie er öfters an seinem kurzen, scharf geschnittenen Röckchen
104
zupfte und wie er einmal mit erhobenen Armen und lose in den Gelenken
105
bewegten Händen irgend etwas darzustellen versuchte, das K. nicht
106
begreifen konnte, obwohl er vorgebeugt die Hände nicht aus den Augen
107
ließ. Schließlich machte sich bei K., der sonst unbeschäftigt, nur
108
mechanisch mit den Blicken dem Hin und Her der Reden folgte, die frühere
109
Müdigkeit geltend, und er ertappte sich einmal zu seinem Schrecken,
110
glücklicherweise noch rechtzeitig, dabei, daß er in der Zerstreutheit gerade
111
hatte aufstehen, sich umdrehen und weggehen wollen. Endlich sah der
112
Italiener auf die Uhr und sprang auf. Nachdem er sich vom Direktor
113
verabschiedet hatte, drängte er sich an K., und zwar so dicht, daß K. seinen
114
Fauteuil zurückschieben mußte, um sich bewegen zu können. Der Direktor,
115
der gewiß an K.s Augen die Not erkannte, in der er sich gegenüber diesem
116
Italienisch befand, mischte sich in das Gespräch, und zwar so klug und so
117
zart, daß es den Anschein hatte, als füge er nur kleine Ratschläge bei,
118
während er in Wirklichkeit alles, was der Italiener, unermüdlich ihm in die
119
Rede fallend, vorbrachte, in aller Kürze K. verständlich machte. K. erfuhr
120
von ihm, daß der Italiener vorläufig noch einige Geschäfte zu besorgen
121
habe, daß er leider auch im ganzen nur wenig Zeit haben werde, daß er
122
auch keinesfalls beabsichtige, in Eile alle Sehenswürdigkeiten abzulaufen,
123
daß er sich vielmehr – allerdings nur, wenn K. zustimme, bei ihm allein liege
124
die Entscheidung – entschlossen habe, nur den Dom, diesen aber
125
gründlich, zu besichtigen. Er freue sich ungemein, diese Besichtigung in
126
Begleitung eines so gelehrten und liebenswürdigen Mannes – damit war K.
127
gemeint, der mit nichts anderem beschäftigt war, als den Italiener zu
128
überhören und die Worte des Direktors schnell aufzufassen – vornehmen
129
zu können, und er bitte ihn, wenn ihm die Stunde gelegen sei, in zwei
130
Stunden, etwa um zehn Uhr, sich im Dom einzufinden. Er selbst hoffe, um
131
diese Zeit schon bestimmt dort sein zu können. K. antwortete einiges
132
Entsprechende, der Italiener drückte zuerst dem Direktor, dann K., dann
133
nochmals dem Direktor die Hand und ging, von beiden gefolgt, nur noch
134
halb ihnen zugewendet, im Reden aber noch immer nicht aussetzend, zur
135
Tür. K. blieb dann noch ein Weilchen mit dem Direktor beisammen, der
136
heute besonders leidend aussah. Er glaubte, sich bei K. irgendwie
137
entschuldigen zu müssen und sagte – sie standen vertraulich nahe
138
beisammen -, zuerst hätte er beabsichtigt, selbst mit dem Italiener zu
139
gehen, dann aber – er gab keinen näheren Grund an – habe er sich
140
entschlossen, lieber K. zu schicken. Wenn er den Italiener nicht gleich im
141
Anfang verstehe, so müsse er sich dadurch nicht verblüffen lassen, das
142
Verständnis komme sehr rasch, und wenn er auch viel überhaupt nicht
143
verstehen sollte, so sei es auch nicht so schlimm, denn für den Italiener sei
144
es nicht gar so wichtig, verstanden zu werden. Übrigens sei K.s Italienisch
145
überraschend gut, und er werde sich gewiß ausgezeichnet mit der Sache
146
abfinden. Damit war K. verabschiedet. Die Zeit, die ihm noch freiblieb,
147
verbrachte er damit, seltene Vokabeln, die er zur Führung im Dom
148
benötigte, aus dem Wörterbuch herauszuschreiben. Es war eine äußerst
149
lästige Arbeit, Diener brachten die Post, Beamte kamen mit verschiedenen
150
Anfragen und blieben, da sie K. beschäftigt sahen, bei der Tür stehen,
151
rührten sich aber nicht weg, bevor sie K. angehört hatte, der
152
Direktor-Stellvertreter ließ es sich nicht entgehen, K. zu stören, kam öfters
153
herein, nahm ihm das Wörterbuch aus der Hand und blätterte offenbar ganz
154
sinnlos darin, selbst Parteien tauchten, wenn sich die Tür öffnete, im
155
Halbdunkel des Vorzimmers auf und verbeugten sich zögernd – sie wollten
156
auf sich aufmerksam machen, waren aber dessen nicht sicher, ob sie
157
gesehen wurden –, das alles bewegte sich um K. als um seinen Mittelpunkt,
158
während er selbst die Wörter, die er brauchte, zusammenstellte, dann im
159
Wörterbuch suchte, dann herausschrieb, dann ihre Aussprache übte und
160
schließlich auswendig zu lernen versuchte. Sein früheres gutes Gedächtnis
161
schien ihn aber ganz verlassen zu haben, manchmal wurde er auf den
162
Italiener, der ihm diese Anstrengung verursachte, so wütend, daß er das
163
Wörterbuch unter Papieren vergrub, mit der festen Absicht, sich nicht mehr
164
vorzubereiten, dann aber sah er ein, daß er doch nicht stumm mit dem
165
Italiener vor den Kunstwerken im Dom auf und ab gehen könne, und er zog
166
mit noch größerer Wut das Wörterbuch wieder hervor.
167
Gerade um halb zehn Uhr, als er weggehen wollte, erfolgte ein
168
telephonischer Anruf, Leni wünschte ihm guten Morgen und fragte nach
169
seinem Befinden, K. dankte eilig und bemerkte, er könne sich jetzt
170
unmöglich in ein Gespräch einlassen, denn er müsse in den Dom. »In den
171
Dom?« fragte Leni. »Nun ja, in den Dom.« »Warum denn in den Dom?«
172
sagte Leni. K. suchte es ihr in Kürze zu erklären, aber kaum hatte er damit
173
angefangen, sagte Leni plötzlich: »Sie hetzen dich.« Bedauern, das er nicht
174
herausgefordert und nicht erwartet hatte, vertrug K. nicht, er
175
verabschiedete sich mit zwei Worten, sagte aber doch, während er den
176
Hörer an seinen Platz hängte, halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen,
177
das es nicht mehr hörte: »Ja, sie hetzen mich.«
178
Nun war es aber schon spät, es bestand schon fast die Gefahr, daß er
179
nicht rechtzeitig ankam. Im Automobil fuhr er hin, im letzten Augenblick
180
hatte er sich noch an das Album erinnert, das er früh zu übergeben keine
181
Gelegenheit gefunden hatte und das er deshalb jetzt mitnahm. Er hielt es
182
auf seinen Knien und trommelte darauf unruhig während der ganzen Fahrt.
183
Der Regen war schwächer geworden, aber es war feucht, kühl und dunkel,
184
man würde im Dom wenig sehen, wohl aber würde sich dort, infolge des
185
langen Stehens auf den kalten Fliesen, K.s Verkühlung sehr verschlimmern.
186
Der Domplatz war ganz leer, K. erinnerte sich, daß es ihm schon als kleinem
187
Kind aufgefallen war, daß in den Häusern dieses engen Platzes immer fast
188
alle Fenstervorhänge herabgelassen waren. Bei dem heutigen Wetter war
189
es allerdings verständlicher als sonst. Auch im Dom schien es leer zu sein,
190
es fiel natürlich niemandem ein, jetzt hierherzukommen. K. durchlief beide
191
Seitenschiffe, er traf nur ein altes Weib, das, eingehüllt in ein warmes Tuch,
192
vor einem Marienbild kniete und es anblickte. Von weitem sah er dann noch
193
einen hinkenden Diener in einer Mauertür verschwinden. K. war pünktlich
194
gekommen, gerade bei seinem Eintritt hatte es zehn geschlagen, der
195
Italiener war aber noch nicht hier. K. ging zum Haupteingang zurück, stand
196
dort eine Zeitlang unentschlossen und machte dann im Regen einen
197
Rundgang um den Dom, um nachzusehen, ob der Italiener nicht vielleicht
198
bei irgendeinem Seiteneingang warte. Er war nirgends zu finden. Sollte der
199
Direktor etwa die Zeitangabe mißverstanden haben? Wie konnte man auch
200
diesen Menschen richtig verstehen? Wie es aber auch sein mochte,
201
jedenfalls mußte K. zumindest eine halbe Stunde auf ihn warten. Da er
202
müde war, wollte er sich setzen, er ging wieder in den Dom, fand auf einer
203
Stufe einen kleinen, teppichartigen Fetzen, zog ihn mit der Fußspitze vor
204
eine nahe Bank, wickelte sich fester in seinen Mantel, schlug den Kragen in
205
die Höhe und setzte sich. Um sich zu zerstreuen, schlug er das Album auf,
206
blätterte darin ein wenig, mußte aber bald aufhören, denn es wurde so
207
dunkel, daß er, als er aufblickte, in dem nahen Seitenschiff kaum eine
208
Einzelheit unterscheiden konnte.
209
In der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck von
210
Kerzenlichtern, K. hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob er sie
211
schon früher gesehen hatte. Vielleicht waren sie erst jetzt angezündet
212
worden. Die Kirchendiener sind berufsmäßige Schleicher, man bemerkt sie
213
nicht. Als sich K. zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter sich eine hohe,
214
starke, an einer Säule befestigte Kerze gleichfalls brennen. So schön das
215
war, zur Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in der Finsternis der
216
Seitenaltäre hingen, war das gänzlich unzureichend, es vermehrte vielmehr
217
die Finsternis. Es war vom Italiener ebenso vernünftig als unhöflich
218
gehandelt, daß er nicht gekommen war, es wäre nichts zu sehen gewesen,
219
man hätte sich damit begnügen müssen, mit K.s elektrischer Taschenlampe
220
einige Bilder zollweise abzusuchen. Um zu versuchen, was man davon
221
erwarten könnte, ging K. zu einer nahen Seitenkapelle, stieg ein paar Stufen
222
bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und, über sie vorgebeugt,
223
beleuchtete er mit der Lampe das Altarbild. Störend schwebte das ewige
224
Licht davor. Das erste, was K. sah und zum Teil erriet, war ein großer,
225
gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er
226
stützte sich auf sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich – nur
227
einige Grashalme kamen hie und da hervor – gestoßen hatte. Er schien
228
aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich vor ihm abspielte. Es
229
war erstaunlich, daß er so stehenblieb und sich nicht näherte. Vielleicht war
230
er dazu bestimmt, Wache zu stehen. K., der schon lange keine Bilder
231
gesehen hatte, betrachtete den Ritter längere Zeit, obwohl er immerfort mit
232
den Augen zwinkern mußte, da er das grüne Licht der Lampe nicht vertrug.
233
Als er dann das Licht über den übrigen Teil des Bildes streichen ließ, fand
234
er eine Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung, es war übrigens
235
ein neueres Bild. Er steckte die Lampe ein und kehrte wieder zu seinem
236
Platz zurück.
237
Es war nun schon wahrscheinlich unnötig, auf den Italiener zu warten,
238
draußen war aber gewiß strömender Regen, und da es hier nicht so kalt
239
war, wie K. erwartet hatte, beschloß er, vorläufig hierzubleiben. In seiner
240
Nachbarschaft war die große Kanzel, auf ihrem kleinen, runden Dach waren
241
halb liegend zwei leere, goldene Kreuze angebracht, die einander mit ihrer
242
äußersten Spitze überquerten. Die Außenwand der Brüstung und der
243
Übergang zur tragenden Säule war von grünem Laubwerk gebildet, in das
244
kleine Engel griffen, bald lebhaft, bald ruhend. K. trat vor die Kanzel und
245
untersuchte sie von allen Seiten, die Bearbeitung des Steines war überaus
246
sorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk und hinter ihm schien
247
wie eingefangen und festgehalten, K. legte seine Hand in eine solche Lücke
248
und tastete dann den Stein vorsichtig ab, von dem Dasein dieser Kanzel
249
hatte er bisher gar nicht gewußt. Da bemerkte er zufällig hinter der
250
nächsten Bankreihe einen Kirchendiener, der dort in einem hängenden,
251
faltigen, schwarzen Rock stand, in der linken Hand eine Schnupftabakdose
252
hielt und ihn betrachtete. Was will denn der Mann? dachte K. Bin ich ihm
253
verdächtig? Will er ein Trinkgeld? Als sich aber nun der Kirchendiener von
254
K. bemerkt sah, zeigte er mit der Rechten, zwischen zwei Fingern hielt er
255
noch eine Prise Tabak, in irgendeiner unbestimmten Richtung. Sein
256
Benehmen war fast unverständlich, K. wartete noch ein Weilchen, aber der
257
Kirchendiener hörte nicht auf, mit der Hand etwas zu zeigen und bekräftigte
258
es noch durch Kopfnicken. »Was will er denn?« fragte K. leise, er wagte es
259
nicht, hier zu rufen; dann aber zog er die Geldtasche und drängte sich
260
durch die nächste Bank, um zu dem Mann zu kommen. Doch dieser machte
261
sofort eine abwehrende Bewegung mit der Hand, zuckte die Schultern und
262
hinkte davon. Mit einer ähnlichen Gangart, wie es dieses eilige Hinken war,
263
hatte K. als Kind das Reiten auf Pferden nachzuahmen versucht. »Ein
264
kindischer Alter«, dachte K., »sein Verstand reicht nur noch zum
265
Kirchendienst aus. Wie er stehenbleibt, wenn ich stehe, und wie er lauert,
266
ob ich weitergehen will.« Lächelnd folgte K. dem Alten durch das ganze
267
Seitenschiff fast bis zur Höhe des Hauptaltars, der Alte hörte nicht auf,
268
etwas zu zeigen, aber K. drehte sich absichtlich nicht um, das Zeigen hatte
269
keinen anderen Zweck, als ihn von der Spur des Alten abzubringen.
270
Schließlich ließ er wirklich von ihm, er wollte ihn nicht zu sehr ängstigen,
271
auch wollte er die Erscheinung, für den Fall, daß der Italiener doch noch
272
kommen sollte, nicht ganz verscheuchen.
273
Als er in das Hauptschiff trat, um seinen Platz zu suchen, auf dem er das
274
Album liegengelassen hatte, bemerkte er an einer Säule, fast angrenzend
275
an die Bänke des Altarchors, eine kleine Nebenkanzel, ganz einfach, aus
276
kahlem, bleichem Stein. Sie war so klein, daß sie aus der Ferne wie eine
277
noch leere Nische erschien, die für die Aufnahme einer Heiligenstatue
278
bestimmt war. Der Prediger konnte gewiß keinen vollen Schritt von der
279
Brüstung zurücktreten. Außerdem begann die steinerne Einwölbung der
280
Kanzel ungewöhnlich tief und stieg, zwar ohne jeden Schmuck, aber
281
derartig geschweift in die Höhe, daß ein mittelgroßer Mann dort nicht
282
aufrecht stehen konnte, sondern sich dauernd über die Brüstung
283
vorbeugen mußte. Das Ganze war wie zur Qual des Predigers bestimmt, es
284
war unverständlich, wozu man diese Kanzel benötigte, da man doch die
285
andere, große und so kunstvoll geschmückte zur Verfügung hatte.
286
K. wäre auch diese kleine Kanzel gewiß nicht aufgefallen, wenn nicht
287
oben eine Lampe befestigt gewesen wäre, wie man sie kurz vor einer
288
Predigt bereitzustellen pflegt. Sollte jetzt etwa eine Predigt stattfinden? In
289
der leeren Kirche? K. sah an der Treppe hinab, die an die Säule sich
290
anschmiegend zur Kanzel führte und so schmal war, als sollte sie nicht für
291
Menschen, sondern nur zum Schmuck der Säule dienen. Aber unten an der
292
Kanzel, K. lächelte vor Staunen, stand wirklich der Geistliche, hielt die Hand
293
am Geländer, bereit aufzusteigen, und sah auf K. hin. Dann nickte er ganz
294
leicht mit dem Kopf, worauf K. sich bekreuzigte und verbeugte, was er
295
schon früher hätte tun sollen. Der Geistliche gab sich einen kleinen
296
Aufschwung und stieg mit kurzen, schnellen Schritten die Kanzel hinauf.
297
Sollte wirklich eine Predigt beginnen? War vielleicht der Kirchendiener
298
doch nicht so ganz vom Verstand verlassen und hatte K. dem Prediger
299
zutreiben wollen, was allerdings in der leeren Kirche äußerst notwendig
300
gewesen war? Übrigens gab es ja noch irgendwo vor einem Marienbild ein
301
altes Weib, das auch hätte kommen sollen. Und wenn es schon eine Predigt
302
sein sollte, warum wurde sie nicht von der Orgel eingeleitet? Aber die blieb
303
still und blinkte nur schwach aus der Finsternis ihrer großen Höhe.
304
K. dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn er es
305
jetzt nicht tat, war keine Aussicht, daß er es während der Predigt tun
306
könnte, er mußte dann bleiben, solange sie dauerte, im Büro verlor er
307
soviel Zeit, auf den Italiener zu warten, war er längst nicht mehr verpflichtet,
308
er sah auf seine Uhr, es war elf. Aber konnte denn wirklich gepredigt
309
werden? Konnte K. allein die Gemeinde darstellen? Wie, wenn er ein
310
Fremder gewesen wäre, der nur die Kirche besichtigen wollte? Im Grunde
311
war er auch nichts anderes. Es war unsinnig, daran zu denken, daß
312
gepredigt werden sollte, jetzt um elf Uhr, an einem Werktag, bei
313
gräßlichstem Wetter. Der Geistliche – ein Geistlicher war es zweifellos, ein
314
junger Mann mit glattem, dunklem Gesicht – ging offenbar nur hinauf, um
315
die Lampe zu löschen, die irrtümlich angezündet worden war.
316
Es war aber nicht so, der Geistliche prüfte vielmehr das Licht und
317
schraubte es noch ein wenig auf, dann drehte er sich langsam der
318
Brüstung zu, die er vorn an der kantigen Einfassung mit beiden Händen
319
erfaßte. So stand er eine Zeitlang und blickte, ohne den Kopf zu rühren,
320
umher. K. war ein großes Stück zurückgewichen und lehnte mit den
321
Ellbogen an der vordersten Kirchenbank. Mit unsicheren Augen sah er
322
irgendwo, ohne den Ort genau zu bestimmen, den Kirchendiener, mit
323
krummem Rücken, friedlich, wie nach beendeter Aufgabe, sich
324
zusammenkauern. Was für eine Stille herrschte jetzt im Dom! Aber K.
325
mußte sie stören, er hatte nicht die Absicht, hierzubleiben; wenn es die
326
Pflicht des Geistlichen war, zu einer bestimmten Stunde, ohne Rücksicht
327
auf die Umstände, zu predigen, so mochte er es tun, es würde auch ohne
328
K.s Beistand gelingen, ebenso wie die Anwesenheit K.s die Wirkung gewiß
329
nicht steigern würde. Langsam setzte sich also K. in Gang, tastete sich auf
330
den Fußspitzen an der Bank hin, kam dann in den breiten Hauptweg und
331
ging dort ganz ungestört, nur daß der steinerne Boden unter dem leisesten
332
Schritt erklang und die Wölbungen schwach, aber ununterbrochen, in
333
vielfachem, gesetzmäßigem Fortschreiten davon widerhallten. K. fühlte sich
334
ein wenig verlassen, als er dort, vom Geistlichen vielleicht beobachtet,
335
zwischen den leeren Bänken allein hindurchging, auch schien ihm die
336
Größe des Doms gerade an der Grenze des für Menschen noch Erträglichen
337
zu liegen. Als er zu seinem früheren Platz kam, haschte er förmlich, ohne
338
weiteren Aufenthalt, nach dem dort liegengelassenen Album und nahm es
339
an sich. Fast hatte er schon das Gebiet der Bänke verlassen und näherte
340
sich dem freien Raum, der zwischen ihnen und dem Ausgang lag, als er
341
zum erstenmal die Stimme des Geistlichen hörte. Eine mächtige, geübte
342
Stimme. Wie durchdrang sie den zu ihrer Aufnahme bereiten Dom! Es war
343
aber nicht die Gemeinde, die der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig,
344
und es gab keine Ausflüchte, er rief: »Josef K.!«
345
K. stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er noch frei, er
346
konnte noch weitergehen und durch eine der drei kleinen, dunklen
347
Holztüren, die nicht weit vor ihm waren, sich davonmachen. Es würde eben
348
bedeuten, daß er nicht verstanden hatte, oder daß er zwar verstanden hatte,
349
sich aber darum nicht kümmern wollte. Falls er sich aber umdrehte, war er
350
festgehalten, denn dann hatte er das Geständnis gemacht, daß er gut
351
verstanden hatte, daß er wirklich der Angerufene war und daß er auch
352
folgen wollte. Hätte der Geistliche nochmals gerufen, wäre K. gewiß
353
fortgegangen, aber da alles still blieb, solange K. auch wartete, drehte er
354
doch ein wenig den Kopf, denn er wollte sehen, was der Geistliche jetzt
355
mache. Er stand ruhig auf der Kanzel wie früher, es war aber deutlich zu
356
sehen, daß er K.s Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindliches
357
Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht vollständig umgedreht
358
hätte. Er tat es und wurde vom Geistlichen durch ein Winken des Fingers
359
näher gerufen. Da jetzt alles offen geschehen konnte, lief er – er tat es auch
360
aus Neugierde und um die Angelegenheit abzukürzen – mit langen,
361
fliegenden Schritten der Kanzel entgegen. Bei den ersten Bänken machte er
362
halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte
363
die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine
364
Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf diesem Platz
365
den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehen.
366
»Du bist Josef K.«, sagte der Geistliche und erhob eine Hand auf der
367
Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. »Ja«, sagte K., er dachte
368
daran, wie offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger
369
Zeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit
370
denen er zum erstenmal zusammenkam, wie schön war es, sich zuerst
371
vorzustellen und dann erst gekannt zu werden. »Du bist angeklagt«, sagte
372
der Geistliche besonders leise. »Ja«, sagte K., »man hat mich davon
373
verständigt.« »Dann bist du der, den ich suche«, sagte der Geistliche. »Ich
374
bin der Gefängniskaplan.« »Ach so«, sagte K. »Ich habe dich hierher rufen
375
lassen«, sagte der Geistliche, »um mit dir zu sprechen.« »Ich wußte es
376
nicht«, sagte K. »Ich bin hierhergekommen, um einem Italiener den Dom zu
377
zeigen.« »Laß das Nebensächliche«, sagte der Geistliche. »Was hältst du in
378
der Hand? Ist es ein Gebetbuch?« »Nein«, antwortete K., »es ist ein Album
379
der städtischen Sehenswürdigkeiten.« »Leg es aus der Hand«, sagte der
380
Geistliche. K. warf es so heftig weg, daß es aufklappte und mit zerdrückten
381
Blättern ein Stück über den Boden schleifte. »Weißt du, daß dein Prozeß
382
schlecht steht?« fragte der Geistliche. »Es scheint mir auch so«, sagte K.
383
»Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe
384
ich die Eingabe noch nicht fertig.« »Wie stellst du dir das Ende vor?« fragte
385
der Geistliche. »Früher dachte ich, es müsse gut enden«, sagte K., »jetzt
386
zweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt
387
du es?« »Nein«, sagte der Geistliche, »aber ich fürchte, es wird schlecht
388
enden. Man hält dich für schuldig. Dein Prozeß wird vielleicht über ein
389
niedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig
390
deine Schuld für erwiesen.« »Ich bin aber nicht schuldig«, sagte K., »es ist
391
ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind
392
hier doch alle Menschen, einer wie der andere.« »Das ist richtig«, sagte der
393
Geistliche, »aber so pflegen die Schuldigen zu reden.« »Hast auch du ein
394
Vorurteil gegen mich?« fragte K. »Ich habe kein Vorurteil gegen dich«,
395
sagte der Geistliche. »Ich danke dir«, sagte K., »alle anderen aber, die an
396
dem Verfahren beteiligt sind, haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es
397
auch den Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger.« »Du
398
mißverstehst die Tatsachen«, sagte der Geistliche, »das Urteil kommt nicht
399
mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.« »So ist es
400
also«, sagte K. und senkte den Kopf. »Was willst du nächstens in deiner
401
Sache tun?« fragte der Geistliche. »Ich will noch Hilfe suchen«, sagte K.
402
und hob den Kopf, um zu sehen, wie der Geistliche es beurteile. »Es gibt
403
noch gewisse Möglichkeiten, die ich nicht ausgenutzt habe.« »Du suchst
404
zuviel fremde Hilfe«, sagte der Geistliche mißbilligend, »und besonders bei
405
Frauen. Merkst du denn nicht, daß es nicht die wahre Hilfe ist?« »Manchmal
406
und sogar oft könnte ich dir recht geben«, sagte K., »aber nicht immer. Die
407
Frauen haben eine große Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne,
408
dazu bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müßte ich
409
durchdringen. Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus
410
Frauenjägern besteht. Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der
411
Ferne, und er überrennt, um nur rechtzeitig hinzukommen, den
412
Gerichtstisch und den Angeklagten.« Der Geistliche neigte den Kopf zur
413
Brüstung, jetzt erst schien die Überdachung der Kanzel ihn
414
niederzudrücken. Was für ein Unwetter mochte draußen sein? Das war kein
415
trüber Tag mehr, das war schon tiefe Nacht. Keine Glasmalerei der großen
416
Fenster war imstande, die dunkle Wand auch nur mit einem Schimmer zu
417
unterbrechen. Und gerade jetzt begann der Kirchendiener, die Kerzen auf
418
dem Hauptaltar, eine nach der anderen, auszulöschen. »Bist du mir böse?«
419
fragte K. den Geistlichen. »Du weißt vielleicht nicht, was für einem Gericht
420
du dienst.« Er bekam keine Antwort. »Es sind doch nur meine
421
Erfahrungen«, sagte K. Oben blieb es noch immer still. »Ich wollte dich
422
nicht beleidigen«, sagte K. Da schrie der Geistliche zu K. hinunter: »Siehst
423
du denn nicht zwei Schritte weit?« Es war im Zorn geschrien, aber
424
gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und, weil er selbst
425
erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit.
426
Nun schwiegen beide lange. Gewiß konnte der Geistliche in dem Dunkel,
427
das unten herrschte, K. nicht genau erkennen, während K. den Geistlichen
428
im Licht der kleinen Lampe deutlich sah. Warum kam der Geistliche nicht
429
herunter? Eine Predigt hatte er ja nicht gehalten, sondern K. nur einige
430
Mitteilungen gemacht, die ihm, wenn er sie genau beachtete,
431
wahrscheinlich mehr schaden als nützen würden. Wohl aber schien K. die
432
gute Absicht des Geistlichen zweifellos zu sein, es war nicht unmöglich,
433
daß er sich mit ihm, wenn er herunterkäme, einigen würde, es war nicht
434
unmöglich, daß er von ihm einen entscheidenden und annehmbaren Rat
435
bekäme, der ihm zum Beispiel zeigen würde, nicht etwa wie der Prozeß zu
436
beeinflussen war, sondern wie man aus dem Prozeß ausbrechen, wie man
437
ihn umgehen, wie man außerhalb des Prozesses leben könnte. Diese
438
Möglichkeit mußte bestehen, K. hatte in der letzten Zeit öfters an sie
439
gedacht. Wußte aber der Geistliche eine solche Möglichkeit, würde er sie
440
vielleicht, wenn man ihn darum bat, verraten, obwohl er selbst zum
441
Gerichte gehörte und obwohl er, als K. das Gericht angegriffen hatte, sein
442
sanftes Wesen unterdrückt und K. sogar angeschrien hatte.
443
»Willst du nicht herunterkommen?« sagte K. »Es ist doch keine Predigt
444
zu halten. Komm zu mir herunter.« »Jetzt kann ich schon kommen«, sagte
445
der Geistliche, er bereute vielleicht sein Schreien. Während er die Lampe
446
von ihrem Haken löste, sagte er: »Ich mußte zuerst aus der Entfernung mit
447
dir sprechen. Ich lasse mich sonst zu leicht beeinflussen und vergesse
448
meinen Dienst.«
449
K. erwartete ihn unten an der Treppe. Der Geistliche streckte ihm schon
450
von einer oberen Stufe im Hinuntergehen die Hand entgegen. »Hast du ein
451
wenig Zeit für mich?« fragte K. »Soviel Zeit, als du brauchst«, sagte der
452
Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der
453
Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. »Du
454
bist sehr freundlich zu mir«, sagte K., sie gingen nebeneinander im dunklen
455
Seitenschiff auf und ab. »Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum
456
Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu irgend jemandem
457
von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich offen reden.«
458
»Täusche dich nicht«, sagte der Geistliche. »Worin sollte ich mich denn
459
täuschen?« fragte K. »In dem Gericht täuschst du dich«, sagte der
460
Geistliche, »in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser
461
Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt
462
ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter
463
sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt
464
und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ›Es ist möglich‹,
465
sagt der Türhüter, ›jetzt aber nicht‹. Da das Tor zum Gesetz offensteht wie
466
immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das
467
Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt:
468
›Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meinem Verbot
469
hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste
470
Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der
471
andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr
472
vertragen.‹ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet,
473
das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als
474
er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große
475
Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen, tartarischen Bart, entschließt er
476
sich doch, lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der
477
Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich
478
niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche,
479
eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der
480
Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn nach seiner
481
Heimat aus und nach vielem anderen, es sind aber teilnahmslose Fragen,
482
wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder,
483
daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise
484
mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll,
485
um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt
486
dabei: ›Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu
487
haben.‹ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast
488
ununterbrochen. Er vergißt die anderen Türhüter, und dieser erste scheint
489
ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den
490
unglücklichen Zufall in den ersten Jahren laut, später, als er alt wird,
491
brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und da er in dem
492
jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen
493
erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter
494
umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß
495
nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur die Augen
496
täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der
497
unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr
498
lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der
499
ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt
500
hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr
501
aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn
502
die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des Mannes
503
verändert. ›Was willst du denn jetzt noch wissen?‹ fragt der Türhüter, ›du
504
bist unersättlich.‹ ›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagt der Mann, ›wie
505
kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt
506
hat?‹ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist, und um sein
507
vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ›Hier konnte
508
niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich
509
bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹«
510
»Der Türhüter hat also den Mann getäuscht«, sagte K. sofort, von der
511
Geschichte sehr stark angezogen. »Sei nicht übereilt«, sagte der Geistliche,
512
»übernimm nicht die fremde Meinung ungeprüft. Ich habe dir die
513
Geschichte im Wortlaut der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin
514
nichts.« »Es ist aber klar«, sagte K., »und deine erste Deutung war ganz
515
richtig. Der Türhüter hat die erlösende Mitteilung erst dann gemacht, als sie
516
dem Manne nicht mehr helfen konnte.« »Er wurde nicht früher gefragt«,
517
sagte der Geistliche, »bedenke auch, daß er nur Türhüter war, und als
518
solcher hat er seine Pflicht erfüllt.« »Warum glaubst du, daß er seine Pflicht
519
erfüllt hat?« fragte K., »er hat sie nicht erfüllt. Seine Pflicht war es vielleicht,
520
alle Fremden abzuwehren, diesen Mann aber, für den der Eingang bestimmt
521
war, hätte er einlassen müssen.« »Du hast nicht genug Achtung vor der
522
Schrift und veränderst die Geschichte«, sagte der Geistliche. »Die
523
Geschichte enthält über den Einlaß ins Gesetz zwei wichtige Erklärungen
524
des Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet: daß er
525
ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne, und die andere: dieser Eingang
526
war nur für dich bestimmt. Bestände zwischen diesen beiden Erklärungen
527
ein Widerspruch, dann hättest du recht, und der Türhüter hätte den Mann
528
getäuscht. Nun besteht aber kein Widerspruch. Im Gegenteil, die erste
529
Erklärung deutet sogar auf die zweite hin. Man könnte fast sagen, der
530
Türhüter ging über seine Pflicht hinaus, indem er dem Mann eine
531
zukünftige Möglichkeit des Einlasses in Aussicht stellte. Zu jener Zeit
532
scheint es nur seine Pflicht gewesen zu sein, den Mann abzuweisen, und
533
tatsächlich wundern sich viele Erklärer der Schrift darüber, daß der
534
Türhüter jene Andeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint die
535
Genauigkeit zu lieben und wacht streng über sein Amt. Durch viele Jahre
536
verläßt er seinen Posten nicht und schließt das Tor erst ganz zuletzt, er ist
537
sich der Wichtigkeit seines Dienstes sehr bewußt, denn er sagt: ›Ich bin
538
mächtig‹, er hat Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, denn er sagt: ›Ich bin nur
539
der unterste Türhüter‹, er ist nicht geschwätzig, denn während der vielen
540
Jahre stellt er nur, wie es heißt, ›teilnahmslose Fragen‹, er ist nicht
541
bestechlich, denn er sagt über ein Geschenk: ›Ich nehme es nur an, damit
542
du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben‹, er ist, wo es um
543
Pflichterfüllung geht, weder zu rühren noch zu erbittern, denn es heißt von
544
dem Mann, ›er ermüdet den Türhüter durch sein Bitten‹, schließlich deutet
545
auch sein Äußeres auf einen pedantischen Charakter hin, die große
546
Spitznase und der lange, dünne, schwarze, tartarische Bart. Kann es einen
547
pflichttreueren Türhüter geben? Nun mischen sich aber in den Türhüter
548
noch andere Wesenszüge ein, die für den, der Einlaß verlangt, sehr günstig
549
sind und welche es immerhin begreiflich machen, daß er in jener
550
Andeutung einer zukünftigen Möglichkeit über seine Pflicht etwas
551
hinausgehen konnte. Es ist nämlich nicht zu leugnen, daß er ein wenig
552
einfältig und im Zusammenhang damit ein wenig eingebildet ist. Wenn auch
553
seine Äußerungen über seine Macht und über die Macht der anderen
554
Türhüter und über deren sogar für ihn unerträglichen Anblick – ich sage,
555
wenn auch alle diese Äußerungen an sich richtig sein mögen, so zeigt doch
556
die Art, wie er diese Äußerungen vorbringt, daß seine Auffassung durch
557
Einfalt und Überhebung getrübt ist. Die Erklärer sagen hiezu: ›Richtiges
558
Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen
559
einander nicht vollständig aus.‹ Jedenfalls aber muß man annehmen, daß
560
jene Einfalt und Überhebung, so geringfügig sie sich vielleicht auch
561
äußern, doch die Bewachung des Eingangs schwächen, es sind Lücken im
562
Charakter des Türhüters. Hiezu kommt noch, daß der Türhüter seiner
563
Naturanlage nach freundlich zu sein scheint, er ist durchaus nicht immer
564
Amtsperson. Gleich in den ersten Augenblicken macht er den Spaß, daß er
565
den Mann trotz dem ausdrücklich aufrechterhaltenen Verbot zum Eintritt
566
einlädt, dann schickt er ihn nicht etwa fort, sondern gibt ihm, wie es heißt,
567
einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Die
568
Geduld, mit der er durch alle die Jahre die Bitten des Mannes erträgt, die
569
kleinen Verhöre, die Annahme der Geschenke, die Vornehmheit, mit der er
570
es zuläßt, daß der Mann neben ihm laut den unglücklichen Zufall verflucht,
571
der den Türhüter hier aufgestellt hat – alles dieses läßt auf Regungen des
572
Mitleids schließen. Nicht jeder Türhüter hätte so gehandelt. Und schließlich
573
beugt er sich noch auf einen Wink hin tief zu dem Mann hinab, um ihm
574
Gelegenheit zur letzten Frage zu geben. Nur eine schwache Ungeduld – der
575
Türhüter weiß ja, daß alles zu Ende ist – spricht sich in den Worten aus: ›Du
576
bist unersättlich.‹ Manche gehen sogar in dieser Art der Erklärung noch
577
weiter und meinen, die Worte ›Du bist unersättlich‹ drücken eine Art
578
freundschaftlicher Bewunderung aus, die allerdings von Herablassung
579
nicht frei ist. Jedenfalls schließt sich so die Gestalt des Türhüters anders
580
ab, als du es glaubst.« »Du kennst die Geschichte genauer als ich und
581
längere Zeit«, sagte K. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte K.: »Du
582
glaubst also, der Mann wurde nicht getäuscht?« »Mißverstehe mich nicht«,
583
sagte der Geistliche, »ich zeige dir nur die Meinungen, die darüber
584
bestehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist
585
unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der
586
Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar eine Meinung, nach
587
welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist.« »Das ist eine weitgehende
588
Meinung«, sagte K. »Wie wird sie begründet?« »Die Begründung«,
589
antwortete der Geistliche, »geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man
590
sagt, daß er das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg,
591
den er vor dem Eingang immer wieder abgehen muß. Die Vorstellungen, die
592
er von dem Innern hat, werden für kindlich gehalten, und man nimmt an,
593
daß er das, wovor er dem Manne Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja, er
594
fürchtet es mehr als der Mann, denn dieser will ja nichts anderes als
595
eintreten, selbst als er von den schrecklichen Türhütern des Innern gehört
596
hat, der Türhüter dagegen will nicht eintreten, wenigstens erfährt man
597
nichts darüber. Andere sagen zwar, daß er bereits im Innern gewesen sein
598
muß, denn er ist doch einmal in den Dienst des Gesetzes aufgenommen
599
worden, und das könne nur im Innern geschehen sein. Darauf ist zu
600
antworten, daß er wohl auch durch einen Ruf aus dem Innern zum Türhüter
601
bestellt worden sein könnte und daß er zumindest tief im Innern nicht
602
gewesen sein dürfte, da er doch schon den Anblick des dritten Türhüters
603
nicht mehr ertragen kann. Außerdem aber wird auch nicht berichtet daß er
604
während der vielen Jahre außer der Bemerkung über die Türhüter irgend
605
etwas von dem Innern erzählt hätte. Es könnte ihm verboten sein, aber
606
auch vom Verbot hat er nichts erzählt. Aus alledem schließt man, daß er
607
über das Aussehen und die Bedeutung des Innern nichts weiß und sich
608
darüber in Täuschung befindet. Aber auch über den Mann vom Lande soll
609
er sich in Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann untergeordnet und
610
weiß es nicht. Daß er den Mann als einen Untergeordneten behandelt,
611
erkennt man aus vielem, das dir noch erinnerlich sein dürfte. Daß er ihm
612
aber tatsächlich untergeordnet ist, soll nach dieser Meinung ebenso
613
deutlich hervorgehen. Vor allem ist der Freie dem Gebundenen
614
übergeordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kann hingehen, wohin er
615
will, nur der Eingang in das Gesetz ist ihm verboten, und überdies nur von
616
einem einzelnen, vom Türhüter. Wenn er sich auf den Schemel seitwärts
617
vom Tor niedersetzt und dort sein Leben lang bleibt, so geschieht dies
618
freiwillig, die Geschichte erzählt von keinem Zwang. Der Türhüter dagegen
619
ist durch sein Amt an seinen Posten gebunden, er darf sich nicht auswärts
620
entfernen, allem Anschein nach aber auch nicht in das Innere gehen, selbst
621
wenn er es wollte. Außerdem ist er zwar im Dienst des Gesetzes, dient aber
622
nur für diesen Eingang, also auch nur für diesen Mann, für den dieser
623
Eingang allein bestimmt ist. Auch aus diesem Grunde ist er ihm
624
untergeordnet. Es ist anzunehmen, daß er durch viele Jahre, durch ein
625
ganzes Mannesalter gewissermaßen nur leeren Dienst geleistet hat, denn
626
es wird gesagt, daß ein Mann kommt, also jemand im Mannesalter, daß also
627
der Türhüter lange warten mußte, ehe sich sein Zweck erfüllte, und zwar so
628
lange warten mußte, als es dem Mann beliebte, der doch freiwillig kam.
629
Aber auch das Ende des Dienstes wird durch das Lebensende des Mannes
630
bestimmt, bis zum Ende also bleibt er ihm untergeordnet. Und immer
631
wieder wird betont, daß von alledem der Türhüter nichts zu wissen scheint.
632
Daran wird aber nichts Auffälliges gesehen, denn nach dieser Meinung
633
befindet sich der Türhüter noch in einer viel schwereren Täuschung, sie
634
betrifft seinen Dienst. Zuletzt spricht er nämlich vom Eingang und sagt: ›Ich
635
gehe jetzt und schließe ihn‹, aber am Anfang heißt es, daß das Tor zum
636
Gesetz offensteht wie immer, steht es aber immer offen, immer, das heißt
637
unabhängig von der Lebensdauer des Mannes, für den es bestimmt ist,
638
dann wird es auch der Türhüter nicht schließen können. Darüber gehen die
639
Meinungen auseinander, ob der Türhüter mit der Ankündigung, daß er das
640
Tor schließen wird, nur eine Antwort geben oder seine Dienstpflicht
641
betonen oder den Mann noch im letzten Augenblick in Reue und Trauer
642
setzen will. Darin aber sind viele einig, daß er das Tor nicht wird schließen
643
können. Sie glauben sogar, daß er, wenigstens am Ende, auch in seinem
644
Wissen dem Manne untergeordnet ist, denn dieser sieht den Glanz, der aus
645
dem Eingang des Gesetzes bricht, während der Türhüter als solcher wohl
646
mit dem Rücken zum Eingang steht und auch durch keine Äußerung zeigt,
647
daß er eine Veränderung bemerkt hätte.« »Das ist gut begründet«, sagte K.,
648
der einzelne Stellen aus der Erklärung des Geistlichen halblaut für sich
649
wiederholt hatte. »Es ist gut begründet, und ich glaube nun auch, daß der
650
Türhüter getäuscht ist. Dadurch bin ich aber von meiner früheren Meinung
651
nicht abgekommen, denn beide decken sich teilweise. Es ist
652
unentscheidend, ob der Türhüter klar sieht oder getäuscht wird. Ich sagte,
653
der Mann wird getäuscht. Wenn der Türhüter klar sieht, könnte man daran
654
zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist, dann muß sich seine
655
Täuschung notwendig auf den Mann übertragen. Der Türhüter ist dann zwar
656
kein Betrüger, aber so einfältig, daß er sofort aus dem Dienst gejagt werden
657
müßte. Du mußt doch bedenken, daß die Täuschung, in der sich der
658
Türhüter befindet, ihm nichts schadet, dem Mann aber tausendfach.« »Hier
659
stößt du auf eine Gegenmeinung«, sagte der Geistliche. »Manche sagen
660
nämlich, daß die Geschichte niemandem ein Recht gibt, über den Türhüter
661
zu urteilen. Wie er uns auch erscheinen mag, ist er doch ein Diener des
662
Gesetzes, also zum Gesetz gehörig, also dem menschlichen Urteil entrückt.
663
Man darf dann auch nicht glauben, daß der Türhüter dem Manne
664
untergeordnet ist. Durch seinen Dienst auch nur an den Eingang des
665
Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu
666
leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort. Er ist
667
vom Gesetz zum Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am
668
Gesetz zweifeln.« »Mit dieser Meinung stimme ich nicht überein«, sagte K.
669
kopfschüttelnd, »denn wenn man sich ihr anschließt, muß man alles, was
670
der Türhüter sagt, für wahr halten. Daß das aber nicht möglich ist, hast du
671
ja selbst ausführlich begründet.« »Nein«, sagte der Geistliche, »man muß
672
nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.«
673
»Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.«
674
K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu
675
müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können, es waren
676
auch ungewohnte Gedankengänge, in die sie ihn führte, unwirkliche Dinge,
677
besser geeignet zur Besprechung für die Gesellschaft der Gerichtsbeamten
678
als für ihn. Die einfache Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sie
679
von sich abschütteln, und der Geistliche, der jetzt ein großes Zartgefühl
680
bewies, duldete es und nahm K.s Bemerkung schweigend auf, obwohl sie
681
mit seiner eigenen Meinung gewiß nicht übereinstimmte.
682
Sie gingen eine Zeitlang schweigend weiter, K. hielt sich eng neben dem
683
Geistlichen, ohne zu wissen, wo er sich befand. Die Lampe in seiner Hand
684
war längst erloschen. Einmal blinkte gerade vor ihm das silberne Standbild
685
eines Heiligen nur mit dem Schein des Silbers und spielte gleich wieder ins
686
Dunkel über. Um nicht vollständig auf den Geistlichen angewiesen zu
687
bleiben, fragte ihn K.: »Sind wir jetzt nicht in der Nähe des
688
Haupteinganges?« »Nein«, sagte der Geistliche, »wir sind weit von ihm
689
entfernt. Willst du schon fortgehen?« Obwohl K. gerade jetzt nicht daran
690
gedacht hatte, sagte er sofort. »Gewiß, ich muß fortgehen. Ich bin Prokurist
691
einer Bank, man wartet auf mich, ich bin nur hergekommen, um einem
692
ausländischen Geschäftsfreund den Dom zu zeigen.« »Nun«, sagte der
693
Geistliche, und reichte K. die Hand, »dann geh.« »Ich kann mich aber im
694
Dunkel allein nicht zurechtfinden«, sagte K. »Geh links zur Wand«, sagte
695
der Geistliche, »dann weiter die Wand entlang, ohne sie zu verlassen, und
696
du wirst einen Ausgang finden.« Der Geistliche hatte sich erst ein paar
697
Schritte entfernt, aber K. rief schon sehr laut: »Bitte, warte noch!« »Ich
698
warte«, sagte der Geistliche. »Willst du nicht noch etwas von mir?« fragte
699
K. »Nein«, sagte der Geistliche. »Du warst früher so freundlich zu mir«,
700
sagte K., »und hast mir alles erklärt, jetzt aber entläßt du mich, als läge dir
701
nichts an mir.« »Du mußt doch fortgehen«, sagte der Geistliche. »Nun ja«,
702
sagte K., »sieh das doch ein.« »Sieh du zuerst ein, wer ich bin«, sagte der
703
Geistliche. »Du bist der Gefängniskaplan«, sagte K. und ging näher zum
704
Geistlichen hin, seine sofortige Rückkehr in die Bank war nicht so
705
notwendig, wie er sie dargestellt hatte, er konnte recht gut noch
706
hierbleiben. »Ich gehöre also zum Gericht«, sagte der Geistliche. »Warum
707
sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es
708
nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.«

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?