20. Kapitel
2
Innstetten, der Effi, als er sie aus dem Schlitten hob, scharf beobachtete,
3
aber doch ein Sprechen über die sonderbare Fahrt zu zweien vermieden
4
hatte, war am anderen Morgen früh auf und suchte seiner Verstimmung, die
5
noch nachwirkte, so gut es ging, Herr zu werden.
6
»Du hast gut geschlafen?« sagte er, als Effi zum Frühstück kam.
7
»Ja.«
8
»Wohl dir. Ich kann dasselbe von mir nicht sagen. Ich träumte, daß du mit
9
dem Schlitten im Schloon verunglückt seist, und Crampas mühte sich, dich
10
zu retten; ich muß es so nennen, aber er versank mit dir.«
11
»Du sprichst das alles so sonderbar, Geert. Es verbirgt sich ein Vorwurf
12
dahinter, und ich ahne, weshalb.«
13
»Sehr merkwürdig.«
14
»Du bist nicht einverstanden damit, daß Crampas kam und uns seine Hilfe
15
anbot.«
16
»Uns?«
17
»Ja, uns. Sidonien und mir. Du mußt durchaus vergessen haben, daß der
18
Major in deinem Auftrag kam. Und als er mir erst gegenübersaß, beiläufig
19
jämmerlich genug auf der elenden schmalen Leiste, sollte ich ihn da
20
ausweisen, als die Grasenabbs kamen und mit einem Male die Fahrt
21
weiterging? Ich hätte mich lächerlich gemacht, und dagegen bist du doch
22
so empfindlich. Erinnere dich, daß wir unter deiner Zustimmung viele Male
23
gemeinschaftlich spazierengeritten sind, und nun sollte ich nicht
24
gemeinschaftlich mit ihm fahren? Es ist falsch, so hieß es bei uns zu Haus,
25
einem Edelmanne Mißtrauen zu zeigen.«
26
»Einem Edelmanne«, sagte Innstetten mit Betonung.
27
»Ist er keiner? Du hast ihn selbst einen Kavalier genannt, sogar einen
28
perfekten Kavalier.«
29
»Ja«, fuhr Innstetten fort, und seine Stimme wurde freundlicher, trotzdem
30
ein leiser Spott noch darin nachklang. »Kavalier, das ist er, und ein
31
perfekter Kavalier, das ist er nun schon ganz gewiß. Aber Edelmann! Meine
32
liebe Effi, ein Edelmann sieht anders aus. Hast du schon etwas Edles an
33
ihm bemerkt? Ich nicht.«
34
Effi sah vor sich hin und schwieg.
35
»Es scheint, wir sind gleicher Meinung. Im übrigen, wie du schon sagtest,
36
bin ich selber schuld; von einem Fauxpas mag ich nicht sprechen, das ist
37
in diesem Zusammenhang kein gutes Wort. Also selber schuld, und es soll
38
nicht wieder vorkommen, soweit ich's hindern kann. Aber auch du, wenn
39
ich dir raten darf, sei auf deiner Hut. Er ist ein Mann der
40
Rücksichtslosigkeiten und hat so seine Ansichten über junge Frauen. Ich
41
kenne ihn von früher.«
42
»Ich werde mir deine Worte gesagt sein lassen. Nur soviel, ich glaube, du
43
verkennst ihn.«
44
»Ich verkenne ihn nicht.«
45
»Oder mich«, sagte sie mit einer Kraftanstrengung und versuchte seinem
46
Blick zu begegnen.
47
»Auch dich nicht, meine liebe Effi Du bist eine reizende kleine Frau, aber
48
Festigkeit ist nicht eben deine Spezialität.«
49
Er erhob sich, um zu gehen. Als er bis an die Tür gegangen war, trat
50
Friedrich ein, um ein Gieshüblersches Billett abzugeben, das natürlich an
51
die gnädige Frau gerichtet war.
52
Effi nahm es. »Eine Geheimkorrespondenz mit Gieshübler«, sagte sie;
53
»Stoff zu neuer Eifersucht für meinen gestrengen Herrn. Oder nicht?«
54
»Nein, nicht ganz, meine liebe Effi. Ich begehe die Torheit, zwischen
55
Crampas und Gieshübler einen Unterschied zu machen. Sie sind
56
sozusagen nicht von gleichem Karat; nach Karat berechnet man nämlich
57
den reinen Goldeswert, unter Umständen auch der Menschen. Mir
58
persönlich, um auch das noch zu sagen, ist Gieshüblers weißes Jabot,
59
trotzdem kein Mensch mehr Jabots trägt, erheblich lieber als Crampas'
60
rot-blonder Sappeurbart. Aber ich bezweifle, daß dies weiblicher
61
Geschmack ist.«
62
»Du hältst uns für schwächer, als wir sind.«
63
»Eine Tröstung von praktisch außerordentlicher Geringfügigkeit. Aber
64
lassen wir das. Lies lieber.«
65
Und Effi las: »Darf ich mich nach der gnäd'gen Frau Befinden
66
erkundigen? Ich weiß nur, daß Sie dem Schloon glücklich entronnen sind;
67
aber es blieb auch durch den Wald immer noch Fährlichkeit genug. Eben
68
kommt Doktor Hannemann von Uvagla zurück und beruhigt mich über
69
Mirambo; gestern habe er die Sache für bedenklicher angesehen, als er uns
70
habe sagen wollen, heute nicht mehr. Es war eine reizende Fahrt. – In drei
71
Tagen feiern wir Silvester. Auf eine Festlichkeit wie die vorjährige müssen
72
wir verzichten; aber einen Ball haben wir natürlich, und Sie erscheinen zu
73
sehen würde die Tanzwelt beglücken und nicht am wenigsten Ihren
74
respektvollst ergebenen Alonzo G.«
75
Effi lachte. »Nun, was sagst du?«
76
»Nach wie vor nur das eine, daß ich dich lieber mit Gieshübler als mit
77
Crampas sehe.«
78
»Weil du den Crampas zu schwer und den Gieshübler zu leicht nimmst.«
79
Innstetten drohte ihr scherzhaft mit dem Finger.
80
Drei Tage später war Silvester. Effi erschien in einer reizenden Balltoilette,
81
einem Geschenk, das ihr der Weihnachtstisch gebracht hatte; sie tanzte
82
aber nicht, sondern nahm ihren Platz bei den alten Damen, für die, ganz in
83
der Nähe der Musikempore, die Fauteuils gestellt waren. Von den adligen
84
Familien, mit denen Innstettens vorzugsweise verkehrten, war niemand da,
85
weil kurz vorher ein kleines Zerwürfnis mit dem städtischen
86
Ressourcenvorstand, der, namentlich seitens des alten Güldenklee, mal
87
wieder »destruktiver Tendenzen« beschuldigt worden war, stattgefunden
88
hatte; drei, vier andere adlige Familien aber, die nicht Mitglieder der
89
Ressource, sondern immer nur geladene Gäste waren und deren Güter an
90
der anderen Seite der Kessine lagen, waren aus zum Teil weiter Entfernung
91
über das Flußeis gekommen und freuten sich, an dem Fest teilnehmen zu
92
können. Effi saß zwischen der alten Ritterschaftsrätin von Padden und
93
einer etwas jüngeren Frau von Titzewitz.
94
Die Ritterschaftsrätin, eine vorzügliche alte Dame, war in allen Stücken
95
ein Original und suchte das, was die Natur, besonders durch starke
96
Backenknochenbildung, nach der wendisch-heidnischen Seite hin für sie
97
getan hatte, durch christlich-germanische Glaubensstrenge wieder in
98
Ausgleich zu bringen.
99
In dieser Strenge ging sie so weit, daß selbst Sidonie von Grasenabb eine
100
Art Esprit fort neben ihr war, wogegen sie freilich – vielleicht weil sich die
101
Radegaster und die Swantowiter Linie des Hauses in ihr vereinigten – über
102
jenen alten Paddenhumor verfügte, der von langer Zeit her wie ein Segen
103
auf der Familie ruhte und jeden, der mit derselben in Berührung kam, auch
104
wenn es Gegner in Politik und Kirche waren, herzlich erfreute.
105
»Nun, Kind«, sagte die Ritterschaftsrätin, »wie geht es Ihnen denn
106
eigentlich?«
107
»Gut, gnädigste Frau; ich habe einen sehr ausgezeichneten Mann. «
108
»Weiß ich. Aber das hilft nicht immer. Ich hatte auch einen
109
ausgezeichneten Mann. Wie steht es hier? Keine Anfechtungen?«
110
Effi erschrak und war zugleich wie gerührt.
111
Es lag etwas ungemein Erquickliches in dem freien und natürlichen Ton,
112
in dem die alte Dame sprach, und daß es eine so fromme Frau war, das
113
machte die Sache nur noch erquicklicher.
114
»Ach, gnädigste Frau ...«
115
»Da kommt es schon. Ich kenne das. Immer dasselbe. Darin ändern die
116
Zeiten nichts. Und vielleicht ist es auch recht gut so. Denn worauf es
117
ankommt, meine liebe junge Frau, das ist das Kämpfen. Man muß immer
118
ringen mit dem natürlichen Menschen. Und wenn man sich dann so unter
119
hat und beinah schreien möchte, weil's weh tut, dann jubeln die lieben
120
Engel!«
121
»Ach, gnädigste Frau. Es ist oft recht schwer.«
122
»Freilich ist es schwer. Aber je schwerer, desto besser. Darüber müssen
123
Sie sich freuen. Das mit dem Fleisch, das bleibt, und ich habe Enkel und
124
Enkelinnen, da seh ich es jeden Tag. Aber im Glauben sich unterkriegen,
125
meine liebe Frau, darauf kommt es an, das ist das Wahre. Das hat uns
126
unser alter Martin Luther zur Erkenntnis gebracht, der Gottesmann. Kennen
127
Sie seine Tischreden?«
128
»Nein, gnädigste Frau.«
129
»Die werde ich Ihnen schicken.«
130
In diesem Augenblick trat Major Crampas an Effi heran und bat, sich nach
131
ihrem Befinden erkundigen zu dürfen. Effi war wie mit Blut übergossen;
132
aber ehe sie noch antworten konnte, sagte Crampas: »Darf ich Sie bitten,
133
gnädigste Frau, mich den Damen vorstellen zu wollen?«
134
Effi nannte nun Crampas' Namen, der seinerseits schon vorher
135
vollkommen orientiert war und in leichtem Geplauder alle Paddens und
136
Titzewitze, von denen er je gehört hatte, Revue passieren ließ. Zugleich
137
entschuldigte er sich, den Herrschaften jenseits der Kessine noch immer
138
nicht seinen Besuch gemacht und seine Frau vorgestellt zu haben; aber es
139
sei sonderbar, welche trennende Macht das Wasser habe. Es sei dasselbe
140
wie mit dem Canal La Manche ...
141
»Wie?« fragte die alte Titzewitz.
142
Crampas seinerseits hielt es für unangebracht, Aufklärungen zu geben,
143
die doch zu nichts geführt haben würden, und fuhr fort: »Auf zwanzig
144
Deutsche, die nach Frankreich gehen, kommt noch nicht einer, der nach
145
England geht. Das macht das Wasser; ich wiederhole, das Wasser hat eine
146
scheidende Kraft.«
147
Frau von Padden, die darin mit feinem Instinkt etwas Anzügliches
148
witterte, wollte für das Wasser eintreten, Crampas aber sprach mit immer
149
wachsendem Redefluß weiter und lenkte die Aufmerksamkeit der Damen
150
auf ein schönes Fräulein von Stojentin, »das ohne Zweifel die Ballkönigin«
151
sei, wobei sein Blick übrigens Effi bewundernd streifte. Dann empfahl er
152
sich rasch unter Verbeugung gegen alle drei. »Schöner Mann«, sagte die
153
Padden. »Verkehrt er in Ihrem Hause?«
154
»Flüchtig.«
155
»Wirklich«, wiederholte die Padden, »ein schöner Mann. Ein bißchen zu
156
sicher. Und Hochmut kommt vor dem Fall ... Aber sehen Sie nur, da tritt er
157
wirklich mit der Grete Stojentin an. Eigentlich ist er doch zu alt; wenigstens
158
Mitte Vierzig.«
159
»Er wird vierundvierzig.«
160
»Ei, ei, Sie scheinen ihn ja gut zu kennen.«
161
Es kam Effi sehr zupaß, daß das neue Jahr gleich in seinem Anfang
162
allerlei Aufregungen brachte. Seit Silvesternacht ging ein scharfer Nordost,
163
der sich in den nächsten Tagen fast bis zum Sturm steigerte, und am 3.
164
Januar nachmittags hieß es, daß ein Schiff draußen mit der Einfahrt nicht
165
zustande gekommen und hundert Schritt vor der Mole gescheitert sei; es
166
sei ein englisches, von Sunderland her, und soweit sich erkennen lasse,
167
sieben Mann an Bord; die Lotsen könnten beim Ausfahren, trotz aller
168
Anstrengung, nicht um die Mole herum, und vom Strand aus ein Boot
169
abzulassen, daran sei nun vollends nicht zu denken, die Brandung sei viel
170
zu stark. Das klang traurig genug. Aber Johanna, die die Nachricht brachte,
171
hatte doch auch Trost bei der Hand: Konsul Eschrich, mit dem
172
Rettungsapparat und der Raketenbatterie, sei schon unterwegs, und es
173
würde gewiß glücken; die Entfernung sei nicht voll so weit wie Anno 75,
174
wo's doch auch gegangen, und sie hätten damals sogar den Pudel mit
175
gerettet, und es wäre ordentlich rührend gewesen, wie sich das Tier gefreut
176
und die Kapitänsfrau und das liebe kleine Kind, nicht viel größer als
177
Anniechen, immer wieder mit seiner roten Zunge geleckt habe.
178
»Geert, da muß ich mit hinaus, das muß ich sehen«, hatte Effi sofort
179
erklärt, und beide waren aufgebrochen, um nicht zu spät zu kommen, und
180
hatten denn auch den rechten Moment abgepaßt; denn im Augenblick, als
181
sie von der Plantage her den Strand erreichten, fiel der erste Schuß, und sie
182
sahen ganz deutlich, wie die Rakete mit dem Fangseil unter dem
183
Sturmgewölk hinflog und über das Schiff hinweg jenseits niederfiel. Alle
184
Hände regten sich sofort an Bord, und nun holten sie mit Hilfe der kleinen
185
Leine das dickere Tau samt dem Korb heran, und nicht lange, so kam der
186
Korb in einer Art Kreislauf wieder zurück, und einer der Matrosen, ein
187
schlanker, bildhübscher Mensch mit einer wachsleinenen Kappe, war
188
geborgen an Land und wurde neugierig ausgefragt, während der Korb aufs
189
neue seinen Weg machte, zunächst den zweiten und dann den dritten
190
heranzuholen und so fort. Alle wurden gerettet, und Effi hätte sich, als sie
191
nach einer halben Stunde mit ihrem Manne wieder heimging, in die Dünen
192
werfen und sich ausweinen mögen. Ein schönes Gefühl hatte wieder Platz
193
in ihrem Herzen gefunden, und es beglückte sie unendlich, daß es so war.
194
Das war am 3. gewesen. Schon am 5. kam ihr eine neue Aufregung,
195
freilich ganz anderer Art. Innstetten hatte Gieshübler, der natürlich auch
196
Stadtrat und Magistratsmitglied war, beim Herauskommen aus dem
197
Rathaus getroffen und im Gespräch mit ihm erfahren, daß seitens des
198
Kriegsministeriums angefragt worden sei, wie sich die Stadtbehörden
199
eventuell zur Garnisonsfrage zu stellen gedächten. Bei nötigem
200
Entgegenkommen, also bei Bereitwilligkeit zu Stall- und Kasernenbauten,
201
könnten ihnen zwei Schwadronen Husaren zugesagt werden. »Nun, Effi,
202
was sagst du dazu?« Effi war wie benommen. All das unschuldige Glück
203
ihrer Kinderjahre stand mit einemmal wieder vor ihrer Seele, und im
204
Augenblick war es ihr, als ob rote Husaren – denn es waren auch rote wie
205
daheim in Hohen-Cremmen – so recht eigentlich die Hüter von Paradies
206
und Unschuld seien. Und dabei schwieg sie noch immer.
207
»Du sagst ja nichts, Effi.«
208
»Ja, sonderbar, Geert. Aber es beglückt mich so, daß ich vor Freude
209
nichts sagen kann. Wird es denn auch sein? Werden sie denn auch
210
kommen?«
211
»Damit hat's freilich noch gute Wege, ja, Gieshübler meinte sogar, die
212
Väter der Stadt, seine Kollegen, verdienten es gar nicht. Statt einfach über
213
die Ehre, und wenn nicht über die Ehre, so doch wenigstens über den
214
Vorteil einig und glücklich zu sein, wären sie mit allerlei 'Wenns' und
215
Abers' gekommen und hätten geknausert wegen der neuen Bauten: Ja,
216
Pefferküchler Michelsen habe sogar gesagt, es verderbe die Sitten der
217
Stadt, und wer eine Tochter habe, der möge sich vorsehen und
218
Gitterfenster anschaffen.
219
»Es ist nicht zu glauben. Ich habe nie manierlichere Leute gesehen als
220
unsere Husaren; wirklich, Geert. Nun, du weißt es ja selbst. Und nun will
221
dieser Michelsen alles vergittern. Hat er denn Töchter?«
222
»Gewiß; sogar drei. Aber sie sind sämtlich hors concours.« Effi lachte so
223
herzlich, wie sie seit langem nicht mehr gelacht hatte. Doch es war von
224
keiner Dauer, und als Innstetten ging und sie allein ließ, setzte sie sich an
225
die Wiege des Kindes, und ihre Tränen fielen auf die Kissen. Es brach
226
wieder über sie herein, und sie fühlte, daß sie wie eine Gefangene sei und
227
nicht mehr heraus könne.
228
Sie litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl sie starker
229
Empfindungen fähig war, so war sie doch keine starke Natur; ihr fehlte die
230
Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen wieder vorüber. So
231
trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht ändern konnte, morgen, weil
232
sie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine
233
Macht über sie.
234
So kam es, daß sie sich, von Natur frei und offen, in ein verstecktes
235
Komödienspiel mehr und mehr hineinlebte. Mitunter erschrak sie, wie leicht
236
es ihr wurde. Nur in einem blieb sie sich gleich: Sie sah alles klar und
237
beschönigte nichts. Einmal trat sie spätabends vor den Spiegel in ihrer
238
Schlafstube; die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo schlug
239
draußen an, und im selben Augenblick war es ihr, als sähe ihr wer über die
240
Schulter. Aber sie besann sich rasch. »Ich weiß schon, was es ist; es war
241
nicht der«, und sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. »Es
242
war was anderes ... mein Gewissen ... Effi, du bist verloren.«
243
Es ging aber doch weiter so, die Kugel war im Rollen, und was an einem
244
Tage geschah, machte das Tun des andern zur Notwendigkeit. Um die Mitte
245
des Monats kamen Einladungen aufs Land. Über die dabei innezuhaltende
246
Reihenfolge hatten sich die vier Familien, mit denen Innstettens
247
vorzugsweise verkehrten, geeinigt: Die Borckes sollten beginnen, die
248
Flemmings und Grasenabbs folgten, die Güldenklees schlossen ab. Immer
249
eine Woche dazwischen. Alle vier Einladungen kamen am selben Tag; sie
250
sollten ersichtlich den Eindruck des Ordentlichen und Wohlerwogenen
251
machen, auch wohl den einer besonderen freundschaftlichen
252
Zusammengehörigkeit.
253
»Ich werde nicht dabeisein, Geert, und du mußt mich der Kur halber, in
254
der ich nun seit Wochen stehe, von vornherein entschuldigen.«
255
Innstetten lachte. »Kur. Ich soll es auf die Kur schieben. Das ist das
256
Vorgebliche; das Eigentliche heißt: du willst nicht.«
257
Nein, es ist doch mehr Ehrlichkeit dabei, als du zugeben willst. Du hast
258
selbst gewollt, daß ich den Doktor zu Rate ziehe. Das hab ich getan, und
259
nun muß ich doch seinem Rat folgen. Der gute Doktor, er hält mich für
260
bleichsüchtig, sonderbar genug, und du weißt, daß ich jeden Tag von dem
261
Eisenwasser trinke. Wenn du dir ein Borckesches Diner dazu vorstellst,
262
vielleicht mit Preßkopf und Aal in Aspik, so mußt du den Eindruck haben,
263
es wäre mein Tod. Und so wirst du dich doch zu deiner Effi nicht stellen
264
wollen. Freilich, mitunter ist es mir ...«
265
»Ich bitte dich, Effi ...«
266
»... Übrigens freu ich mich, und das ist das einzige Gute dabei, dich
267
jedesmal, wenn du fährst, eine Strecke Wegs begleiten zu können, bis an
268
die Mühle gewiß oder bis an den Kirchhof oder auch bis an die Waldecke,
269
da, wo der Morgnitzer Querweg einmündet. Und dann steig ich ab und
270
schlendere wieder zurück. In den Dünen ist es immer am schönsten. «
271
Innstetten war einverstanden, und als drei Tage später der Wagen vorfuhr,
272
stieg Effi mit auf und gab ihrem Manne das Geleit bis an die Waldecke.
273
»Hier laß halten, Geert. Du fährst nun links weiter, ich gehe rechts bis an
274
den Strand und durch die Plantage zurück. Es ist etwas weit, aber doch
275
nicht zu weit. Doktor Hannemann sagt mir jeden Tag, Bewegung sei alles,
276
Bewegung und frische Luft. Und ich glaube beinah, daß er recht hat.
277
Empfiehl mich all den Herrschaften; nur bei Sidonie kannst du schweigen.«
278
Die Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis an die Waldecke begleitete,
279
wiederholten sich allwöchentlich; aber auch in der zwischenliegenden Zeit
280
hielt Effi darauf, daß sie der ärztlichen Verordnung streng nachkam. Es
281
verging kein Tag, wo sie nicht ihren vorgeschriebenen Spaziergang
282
gemacht hätte, meist nachmittags, wenn sich Innstetten in seine Zeitungen
283
zu vertiefen begann. Das Wetter war schön, eine milde, frische Luft, der
284
Himmel bedeckt. Sie ging in der Regel allein und sagte zu Roswitha:
285
»Roswitha, ich gehe nun also die Chaussee hinunter und dann rechts an
286
den Platz mit dem Karussell; da will ich auf dich warten, da hole mich ab.
287
Und dann gehen wir durch die Birkenallee oder durch die Reeperbahn
288
wieder zurück. Aber komme nur, wenn Annie schläft. Und wenn sie nicht
289
schläft, so schicke Johanna. Oder laß es lieber ganz; es ist nicht nötig, ich
290
finde mich schon zurecht.«
291
Den ersten Tag, als es so verabredet war, trafen sie sich auch wirklich.
292
Effi saß auf einer an einem langen Holzschuppen sich hinziehenden Bank
293
und sah nach einem niedrigen Fachwerkhaus hinüber, gelb mit
294
schwarzgestrichenen Balken, einer Wirtschaft für kleine Bürger, die hier ihr
295
Glas Bier tranken oder Solo spielten. Es dunkelte noch kaum, die Fenster
296
aber waren schon hell, und ihr Lichtschimmer fiel auf die Schneemassen
297
und etliche zur Seite stehende Bäume. »Sieh, Roswitha, wie schön das
298
aussieht.«
299
Ein paar Tage wiederholte sich das. Meist aber, wenn Roswitha bei dem
300
Karussell und dem Holzschuppen ankam, war niemand da, und wenn sie
301
dann zurückkam und in den Hausflur eintrat, kam ihr Effi schon entgegen
302
und sagte:
303
»Wo du nur bleibst, Roswitha, ich bin schon lange wieder hier.«
304
In dieser Art ging es durch Wochen hin. Das mit den Husaren hatte sich
305
wegen der Schwierigkeiten, die die Bürgerschaft machte, so gut wie
306
zerschlagen; aber da die Verhandlungen noch nicht geradezu
307
abgeschlossen waren und neuerdings durch eine andere Behörde, das
308
Generalkommando, gingen, so war Crampas nach Stettin berufen worden,
309
wo man seine Meinung in dieser Angelegenheit hören wollte. Von dort
310
schrieb er den zweiten Tag an Innstetten:
311
»Pardon, Innstetten, daß ich mich auf französisch empfohlen. Es kam
312
alles so schnell. Ich werde übrigens die Sache hinauszuspinnen suchen,
313
denn man ist froh, einmal draußen zu sein. Empfehlen Sie mich der
314
gnädigen Frau, meiner liebenswürdigen Gönnerin.«
315
Er las es Effi vor. Diese blieb ruhig. Endlich sagte sie: »Es ist recht gut
316
so.«
317
»Wie meinst du das?«
318
»Daß er fort ist. Er sagt eigentlich immer dasselbe. Wenn er wieder da ist,
319
wird er wenigstens vorübergehend was Neues zu sagen haben.«
320
Innstettens Blick flog scharf über sie hin. Aber er sah nichts, und sein
321
Verdacht beruhigte sich wieder. »Ich will auch fort«, sagte er nach einer
322
Weile, »sogar nach Berlin; vielleicht kann ich dann, wie Crampas, auch mal
323
was Neues mitbringen. Meine liebe Effi will immer gern was Neues hören;
324
sie langweilt sich in unserm guten Kessin. Ich werde gegen acht Tage fort
325
sein, vielleicht noch einen Tag länger. Und ängstige dich nicht ... es wird ja
326
wohl nicht wiederkommen ... du weißt schon, das da oben ... Und wenn
327
doch, du hast ja Rollo und Roswitha.«
328
Effi lächelte vor sich hin, und es mischte sich etwas von Wehmut mit ein.
329
Sie mußte des Tages gedenken, wo Crampas ihr zum erstenmal gesagt
330
hatte, daß er mit dem Spuk und ihrer Furcht eine Komödie spiele. Der große
331
Erzieher! Aber hatte er nicht recht? War die Komödie nicht am Platz? Und
332
allerhand Widerstreitendes, Gutes und Böses, ging ihr durch den Kopf.
333
Den dritten Tag reiste Innstetten ab.
334
Über das, was er in Berlin vorhabe, hatte er nichts gesagt.