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Inhaltsverzeichnis

22. Kapitel

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Am andern Morgen nahmen beide gemeinschaftlich ihr etwas verspätetes
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Frühstück. Innstetten hatte seine Mißstimmung und Schlimmeres
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überwunden, und Effi lebte so ganz dem Gefühl ihrer Befreiung, daß sie
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nicht bloß die Fähigkeit einer gewissen erkünstelten Laune, sondern fast
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auch ihre frühere Unbefangenheit wiedergewonnen hatte. Sie war noch in
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Kessin, und doch war ihr schon zumute, als läge es weit hinter ihr.
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»Ich habe mir's überlegt, Effi«, sagte Innstetten, »du hast nicht so ganz
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unrecht mit allem, was du gegen unser Haus hier gesagt hast. Für Kapitän
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Thomsen war es gerade gut genug, aber nicht für eine junge verwöhnte
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Frau; alles altmodisch, kein Platz. Da sollst du's in Berlin besser haben,
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auch einen Saal, aber einen andern als hier, und auf Flur und Treppe hohe
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bunte Glasfenster, Kaiser Wilhelm mit Zepter und Krone oder auch was
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Kirchliches, heilige Elisabeth oder Jungfrau Maria. Sagen wir Jungfrau
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Maria, das sind wir Roswitha schuldig.«
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Effi lachte. »So soll es sein. Aber wer sucht uns eine Wohnung? Ich kann
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doch nicht Vetter Briest auf die Suche schicken. Oder gar die Tanten! Die
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finden alles gut genug.«
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Ja, das Wohnungssuchen. Das macht einem keiner zu Dank. Ich denke,
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da mußt du selber hin.«
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»Und wann meinst du?«
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Mitte März.«
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»Oh, das ist viel zu spät, Geert, dann ist ja alles fort. Die guten
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Wohnungen werden schwerlich auf uns warten!«
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Ist schon recht. Aber ich bin erst seit gestern wieder hier und kann doch
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nicht sagen 'reise morgen'. Das würde mich schlecht kleiden und paßt mir
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auch wenig; ich bin froh, daß ich dich wiederhabe.«
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»Nein«, sagte sie, während sie das Kaffeegeschirr, um eine aufsteigende
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Verlegenheit zu verbergen, ziemlich geräuschvoll zusammenrückte, »nein,
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so soll's auch nicht sein, nicht heut und nicht morgen, aber doch in den
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nächsten Tagen. Und wenn ich etwas finde, so bin ich rasch wieder zurück.
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Aber noch eins, Roswitha und Annie müssen mit. Am schönsten wär es, du
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auch. Aber ich sehe ein, das geht nicht. Und ich denke, die Trennung soll
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nicht lange dauern. Ich weiß auch schon, wo ich miete ...«
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»Nun?«
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»Das bleibt mein Geheimnis. Ich will auch ein Geheimnis haben. Damit
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will ich dich dann überraschen.« In diesem Augenblick trat Friedrich ein,
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um die Postsachen abzugeben. Das meiste war Dienstliches und Zeitungen.
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»Ah, da ist auch ein Brief für dich«, sagte Innstetten. »Und wenn ich nicht
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irre, die Handschrift der Mama.« Effi nahm den Brief. »Ja, von der Mama.
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Aber das ist ja nicht der Friesacker Poststempel; sieh nur, das heißt ja
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deutlich Berlin.«
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»Freilich«, lachte Innstetten. »Du tust, als ob es ein Wunder wäre. Die
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Mama wird in Berlin sein und hat ihrem Liebling von ihrem Hotel aus einen
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Brief geschrieben.«
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Ja«, sagte Effi, »so wird es sein. Aber ich ängstige mich doch beinah und
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kann keinen rechten Trost darin finden, daß Hulda Niemeyer immer sagte:
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Wenn man sich ängstigt, ist es besser, als wenn man hofft. Was meinst du
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dazu?«
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»Für eine Pastorstochter nicht ganz auf der Höhe. Aber nun lies den Brief.
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Hier ist ein Papiermesser.«
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Effi schnitt das Kuvert auf und las: »Meine liebe Effi. Seit 24 Stunden bin
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ich hier in Berlin; Konsultationen bei Schweigger. Als er mich sieht,
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beglückwünscht er mich, und als ich erstaunt ihn frage, wozu, erfahre ich,
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daß Ministerialdirektor Wüllersdorf bei ihm gewesen und ihm erzählt habe:
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Innstetten sei ins Ministerium berufen. Ich bin ein wenig ärgerlich, daß man
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dergleichen von einem Dritten erfahren muß. Aber in meinem Stolz und
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meiner Freude sei Euch verziehen. Ich habe es übrigens immer gewußt
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(schon als 1. noch bei den Rathenowern war), daß etwas aus ihm werden
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würde. Nun kommt es Dir zugute. Natürlich müßt Ihr eine Wohnung haben
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und eine andere Einrichtung. Wenn Du, meine liebe Effi, glaubst, meines
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Rates dabei bedürfen zu können, so komme, so rasch es Dir Deine Zeit
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erlaubt. Ich bleibe acht Tage hier in Kur, und wenn es nicht anschlägt,
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vielleicht noch etwas länger; Schweigger drückt sich unbestimmt darüber
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aus. Ich habe eine Privatwohnung in der Schadowstraße genommen; neben
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dem meinigen sind noch Zimmer frei. Was es mit meinem Auge ist, darüber
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mündlich; vorläufig beschäftigt mich nur Eure Zukunft. Briest wird
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unendlich glücklich sein, er tut immer so gleichgültig gegen dergleichen,
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eigentlich hängt er aber mehr daran als ich. Grüße Innstetten, küsse Annie,
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die Du vielleicht mitbringst. Wie immer Deine Dich zärtlich liebende Mutter
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Luise von B.«
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Effi legte den Brief aus der Hand und sagte nichts. Was sie zu tun habe,
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das stand bei ihr fest; aber sie wollte es nicht selber aussprechen.
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Innstetten sollte damit kommen, und dann wollte sie zögernd ja sagen.
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Innstetten ging auch wirklich in die Falle.
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»Nun, Effi, du bleibst so ruhig.«
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»Ach, Geert, es hat alles so seine zwei Seiten. Auf der einen Seite
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beglückt es mich, die Mama wiederzusehen, und vielleicht sogar schon in
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wenigen Tagen. Aber es spricht auch so vieles dagegen.«
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»Was?«
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»Die Mama, wie du weißt, ist sehr bestimmt und kennt nur ihren eignen
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Willen. Dem Papa gegenüber hat sie alles durchsetzen können. Aber ich
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möchte gern eine Wohnung haben, die nach meinem Geschmack ist, und
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eine neue Einrichtung, die mir gefällt.«
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Innstetten lachte. »Und das ist alles?«
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»Nun, es wäre grade genug. Aber es ist nicht alles.« Und nun nahm sie
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sich zusammen und sah ihn an und sagte: »Und dann, Geert, ich möchte
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nicht gleich wieder von dir fort.«
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Schelm, das sagst du so, weil du meine Schwäche kennst. Aber wir sind
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alle so eitel, und ich will es glauben. Ich will es glauben und doch zugleich
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auch den Heroischen spielen, den Entsagenden. Reise, sobald du's für
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nötig hältst und vor deinem Herzen verantworten kannst.«
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»So darfst du nicht sprechen, Geert. Was heißt das 'vor meinem Herzen
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verantworten'. Damit schiebst du mir, halb gewaltsam, eine
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Zärtlichkeitsrolle zu, und ich muß dir dann aus reiner Kokettene sagen:
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Ach, Geert, dann reise ich nie.' Oder doch so etwas Ähnliches.«
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Innstetten drohte ihr mit dem Finger. »Effi, du bist mir zu fein. Ich dachte
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immer, du wärst ein Kind, und ich sehe nun, daß du das Maß hast wie alle
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andern. Aber lassen wir das, oder wie dein Papa immer sagte: 'Das ist ein
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zu weites Feld.' Sage lieber, wann willst du fort?«
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»Heute haben wir Dienstag. Sagen wir also Freitag mittag mit dem Schiff.
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Dann bin ich am Abend in Berlin.«
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»Abgemacht. Und wann zurück?«
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»Nun, sagen wir Montag abend. Das sind dann drei Tage.«
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Geht nicht. Das ist zu früh. In drei Tagen kannst du's nicht zwingen. Und
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so rasch läßt dich die Mama auch nicht fort.«
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Also auf Diskretion.«
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»Gut.« Und damit erhob sich Innstetten, um nach dem Landratsamte
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hinüberzugehen.
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Die Tage bis zur Abreise vergingen wie im Fluge. Roswitha war sehr
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glücklich. »Ach, gnädigste Frau, Kessin, nun ja ... aber Berlin ist es nicht.
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Und die Pferdebahn. Und wenn es dann so klingelt und man nicht weiß, ob
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man links oder rechts soll, und mitunter ist mir schon gewesen, als ginge
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alles grad über mich weg. Nein, so was ist hier nicht. Ich glaube, manchen
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Tag sehen wir keine sechs Menschen. Und immer bloß die Dünen und
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draußen die See. Und das rauscht und rauscht, aber weiter ist es auch
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nichts.«
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»Ja, Roswitha, du hast recht. Es rauscht und rauscht immer, aber es ist
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kein richtiges Leben. Und dann kommen einem allerhand dumme
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Gedanken. Das kannst du doch nicht bestreiten, das mit dem Kruse war
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nicht in der Richtigkeit.«
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Ach, gnädigste Frau ...«
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»Nun, ich will nicht weiter nachforschen. Du wirst es natürlich nicht
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zugeben. Und nimm nur nicht zu wenig Sachen mit. Deine Sachen kannst
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du eigentlich ganz mitnehmen und Annies auch.«
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»Ich denke, wir kommen noch mal wieder.«
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»Ja, ich. Der Herr wünscht es. Aber ihr könnt vielleicht dableiben, bei
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meiner Mutter. Sorge nur, daß sie Anniechen nicht zu sehr verwöhnt. Gegen
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mich war sie mitunter streng, aber ein Enkelkind ...«
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»Und dann ist Anniechen ja auch so zum Anbeißen. Da muß ja jeder
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zärtlich sein.«
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Das war am Donnerstag, am Tag vor der Abreise. Innstetten war über
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Land gefahren und wurde erst gegen Abend zurückerwartet.
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Am Nachmittag ging Effi in die Stadt, bis auf den Marktplatz, und trat hier
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in die Apotheke und bat um eine Flasche Sal volatile. »Man weiß nie, mit
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wem man reist«, sagte sie zu dem alten Gehilfen, mit dem sie auf dem
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Plauderfuße stand und der sie anschwärmte wie Gieshübler selbst.
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»Ist der Herr Doktor zu Hause?« fragte sie weiter, als sie das Fläschchen
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eingesteckt hatte.
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»Gewiß, gnädige Frau; er ist hier nebenan und liest die Zeitungen. «
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»Ich werde ihn doch nicht stören?«
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Oh, nie.«
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Und Effi trat ein. Es war eine kleine, hohe Stube, mit Regalen ringsherum,
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auf denen allerlei Kolben und Retorten standen; nur an der einen Wand
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befanden sich alphabetisch geordnete, vorn mit einem Eisenringe
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versehene Kästen, in denen die Rezepte lagen.
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Gieshübler war beglückt und verlegen. »Welche Ehre. Hier unter meinen
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Retorten. Darf ich die gnädige Frau auffordern, einen Augenblick Platz zu
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nehmen?«
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»Gewiß, lieber Gieshübler. Aber auch wirklich nur einen Augenblick. Ich
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will Ihnen adieu sagen.«
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»Aber meine gnädigste Frau, Sie kommen ja doch wieder. Ich habe
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gehört, nur auf drei, vier Tage ...«
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»Ja, lieber Freund, ich soll wiederkommen, und es ist sogar verabredet,
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daß ich spätestens in einer Woche wieder in Kessin bin. Aber ich könnte
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doch auch nicht wiederkommen. Muß ich Ihnen sagen, welche tausend
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Möglichkeiten es gibt ... Ich sehe, Sie wollen mir sagen, daß ich noch zu
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jung sei ..., auch Junge können sterben. Und dann so vieles andre noch.
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Und da will ich doch lieber Abschied nehmen von Ihnen, als wär es für
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immer.«
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»Aber meine gnädigste Frau ...«
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»Als wär es für immer. Und ich will Ihnen danken, lieber Gieshübler. Denn
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Sie waren das Beste hier; natürlich, weil Sie der Beste waren. Und wenn ich
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hundert Jahre alt würde, so werde ich Sie nicht vergessen. Ich habe mich
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hier mitunter einsam gefühlt, und mitunter war mir so schwer ums Herz,
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schwerer, als Sie wissen können; ich habe es nicht immer richtig
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eingerichtet; aber wenn ich Sie gesehen habe, vom ersten Tag an, dann
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habe ich mich immer wohler gefühlt und auch besser.«
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»Aber meine gnädigste Frau.«
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»Und dafür wollte ich Ihnen danken. Ich habe mir eben ein Fläschchen mit
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Sal volatile gekauft; im Coupé sind mitunter so merkwürdige Menschen und
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wollen einem nicht mal erlauben, daß man ein Fenster aufmacht; und wenn
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mir dann vielleicht – denn es steigt einem ja ordentlich zu Kopf, ich meine
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das Salz – die Augen übergehen, dann will ich an Sie denken. Adieu, lieber
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Freund, und grüßen Sie Ihre Freundin, die Trippelli. Ich habe in den letzten
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Wochen öfter an sie gedacht und an Fürst Kotschukoff. Ein eigentümliches
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Verhältnis bleibt es doch. Aber ich kann mich hineinfinden ... Und lassen
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Sie einmal von sich hören. Oder ich werde schreiben.« Damit ging Effi.
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Gieshübler begleitete sie bis auf den Platz hinaus. Er war wie benommen,
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so sehr, daß er über manches Rätselhafte, was sie gesprochen, ganz
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hinwegsah.
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Effi ging wieder nach Haus. »Bringen Sie mir die Lampe, Johanna«, sagte
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sie, »aber in mein Schlafzimmer. Und dann eine Tasse Tee. Ich hab es so
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kalt und kann nicht warten, bis der Herr wieder da ist.«
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Beides kam. Effi saß schon an ihrem kleinen Schreibtisch, einen
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Briefbogen vor sich, die Feder in der Hand. »Bitte, Johanna, den Tee auf
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den Tisch da.«
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Als Johanna das Zimmer wieder verlassen hatte, schloß Effi sich ein, sah
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einen Augenblick in den Spiegel und setzte sich dann wieder.
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Und nun schrieb sie: »Ich reise morgen mit dem Schiff, und dies sind
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Abschiedszeilen. Innstetten erwartet mich in wenigen Tagen zurück, aber
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ich komme nicht wieder ... Warum ich nicht wiederkomme, Sie wissen es ...
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Es wäre das beste gewesen, ich hätte dies Stück Erde nie gesehen. Ich
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beschwöre Sie, dies nicht als einen Vorwurf zu fassen; alle Schuld ist bei
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mir. Blick ich auf Ihr Haus ..., Ihr Tun mag entschuldbar sein, nicht das
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meine. Meine Schuld ist sehr schwer, aber vielleicht kann ich noch heraus.
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Daß wir hier abberufen wurden, ist mir wie ein Zeichen, daß ich noch zu
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Gnaden angenommen werden kann. Vergessen Sie das Geschehene,
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vergessen Sie mich. Ihre Effi.«
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Sie überflog die Zeilen noch einmal, am fremdesten war ihr das »Sie«;
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aber auch das mußte sein; es sollte ausdrücken, daß keine Brücke mehr da
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sei. Und nun schob sie die Zeilen in ein Kuvert und ging auf ein Haus zu,
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zwischen dem Kirchhof und der Waldecke. Ein dünner Rauch stieg aus dem
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halb eingefallenen Schornstein. Da gab sie die Zeilen ab.
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Als sie wieder zurück war, war Innstetten schon da, und sie setzte sich zu
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ihm und erzählte ihm von Gieshübler und dem Sal volatile.
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Innstetten lachte. »Wo hast du nur dein Latein her, Effi?«
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Das Schiff, ein leichtes Segelschiff (die Dampfboote gingen nur
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sommers), fuhr um zwölf. Schon eine Viertelstunde vorher waren Effi und
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Innstetten an Bord; auch Roswitha und Annie.
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Das Gepäck war größer, als es für einen auf so wenige Tage geplanten
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Ausflug geboten schien. Innstetten sprach mit dem Kapitän; Effi, in einem
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Regenmantel und hellgrauem Reisehut, stand auf dem Hinterdeck, nahe am
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Steuer, und musterte von hier aus das Bollwerk und die hübsche
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Häuserreihe, die dem Zuge des Bollwerks folgte. Gerade der
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Landungsbrücke gegenüber lag Hoppensacks Hotel, ein drei Stock hohes
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Gebäude, von dessen Giebeldach eine gelbe Flagge, mit Kreuz und Krone
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darin, schlaff in der stillen, etwas nebeligen Luft herniederhing. Effi sah
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eine Weile nach der Flagge hinauf, ließ dann aber ihr Auge wieder abwärts
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gleiten und verweilte zuletzt auf einer Anzahl von Personen, die neugierig
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am Bollwerk herumstanden. In diesem Augenblick wurde geläutet. Effi war
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ganz eigen zumut; das Schiff setzte sich langsam in Bewegung, und als sie
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die Landungsbrücke noch einmal musterte, sah sie, daß Crampas in
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vorderster Reihe stand. Sie erschrak bei seinem Anblick und freute sich
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doch auch. Er seinerseits, in seiner ganzen Haltung verändert, war sichtlich
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bewegt und grüßte ernst zu ihr hinüber, ein Gruß, den sie ebenso, aber
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doch zugleich in großer Freundlichkeit erwiderte; dabei lag etwas Bittendes
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in ihrem Auge. Dann ging sie rasch auf die Kajüte zu, wo sich Roswitha mit
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Annie schon eingerichtet hatte. Hier in dem etwas stickigen Raum blieb sie,
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bis man aus dem Fluß in die weite Bucht des Breitling eingefahren war; da
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kam Innstetten und rief sie nach oben, daß sie sich an dem herrlichen
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Anblick erfreue, den die Landschaft gerade an dieser Stelle bot. Sie ging
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dann auch hinauf. Über dem Wasserspiegel hingen graue Wolken, und nur
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dann und wann schoß ein halb umschleierter Sonnenblick aus dem Gewölk
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hervor. Effi gedachte des Tages, wo sie, vor jetzt Fünfvierteljahren, im
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offenen Wagen am Ufer ebendieses Breitlings hin entlanggefahren war.
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Eine kurze Spanne Zeit, und das Leben oft so still und einsam. Und doch,
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was war alles seitdem geschehen!
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So fuhr man die Wasserstraße hinauf und war um zwei an der Station
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oder doch ganz in Nähe derselben. Als man gleich danach das Gasthaus
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des »Fürsten Bismarck« passierte, stand auch Golchowski wieder in der
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Tür und versäumte nicht, den Herrn Landrat und die gnädige Frau bis an
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die Stufen der Böschung zu geleiten. Oben war der Zug noch nicht
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angemeldet, und Effi und Innstetten schritten auf dem Bahnsteig auf und
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ab. Ihr Gespräch drehte sich um die Wohnungsfrage; man war einig über
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den Stadtteil, und daß es zwischen dem Tiergarten und dem Zoologischen
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Garten sein müsse. »Ich will den Finkenschlag hören und die Papageien
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auch«, sagte Innstetten, und Effi stimmte ihm zu.
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Nun aber hörte man das Signal, und der Zug lief ein; der
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Bahnhofsinspektor war voller Entgegenkommen, und Effi erhielt ein Coupé
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für sich. Noch ein Händedruck, ein Wehen mit dem Tuch, und der Zug
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setzte sich wieder in Bewegung.

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