Realismus
Epochenmerkmale
Auf einen Blick- Zeit: 1850-1890
- Geschichtlicher Hintergrund: In der Zeit des Realismus schritt die Modernisierung, d.h. die Industrialisierung und Technisierung rasend voran. Der Fortschritt veränderte die Gesellschaft grundlegend: Stände verloren allmählich ihre Bedeutung, der Besitz bestimmte nun die Klasse der Bürger.
- Autoren: Als bedeutende Lyriker des Realismus gelten u.a. Wilhelm Busch, Theodor Fontane und Conrad Ferdinand Meyer.
- Merkmale: Stilistisch grenzt sich der Realismus auch in der Lyrik durch eine schlicht gehaltene Sprache von der Überfülle an rhetorischen Stilmitteln aus den vorangegangenen Epochen ab. Er will nicht die Wirklichkeit durch die Kunst umgestalten, sondern darstellen.
- Themen: Der Realismus an sich verändert jedoch die Literaturwelt in Deutschland nachhaltig. Die neue, schlichte Sprache erreicht viele Menschen, Gesellschaft und Politik werden zu zentralen künstlerischen Themen.
Definition
- Die Bezeichnung Realismus geht vermutlich auf das lateinische Wort res (Sache, Ding, Wirklichkeit) zurück. Der Realismus als literarische Darstellungsform findet sich schon bei den alten griechischen Philosophen wie Platon und Aristoteles.
- Der Realismus beschäftigt sich sowohl in der Prosa wie in der Lyrik mit der Wirklichkeit, den Realitäten menschlichen Daseins und deshalb vor allem mit der Gesellschaft, die auch unsere individuelle Lebenserfahrung entscheidend prägt. Die Liebe wird aufgrund dessen auch meistens in ihrer sozialen Bedeutung thematisiert.
- Auch der Pathos verschwindet aus der Literatur, an seine Stelle tritt der feingeistige Humor – so wird die Liebe nicht als heiliges Gefühl dargestellt, sondern als gewissermaßen auch alltägliches Erleben. Die Realisten reagieren damit auf die starke Orientierung des Bürgertums auf die gesellschaftliche und politische Realität, die die Gründerzeit am Ende des 19. Jahrhundert ausmacht.
- Da die Lyrik aber nicht als das Hauptmedium der Gesellschaftskritik gilt – man hielt sie für zu subjektiv –, spielt sie nur eine Nebenrolle in der Epoche des Realismus. Teilweise zeigt sie sich noch von der Naturmetaphorik aus der Zeit des Sturm und Drang und der Klassik beeinflusst.
Allgemein
- Im Realismus vollführte die Schere von Arm und Reich einen erschreckenden Spagat. Während eine neue gesellschaftliche Elite entstand (die Bourgeoisie oder das Besitzbürgertum), wuchs die Armut der in die Stadt gezogenen ehemaligen Landbevölkerung, die in riesigen Armenvierteln am Existenzminimum darbte.
- Das Bürgertum, nun die gesellschaftlich wichtigste Gruppe, spaltete sich auf in das Besitzbürgertum, zu welchem Fabrikbesitzer und sonstige zu Wohlstand gekommene Bürger zählten, und das Bildungsbürgertum, das aus Professoren, Lehrern, sonstigen Akademikern und Beamten bestand.
- Die Literatur dieser Epoche wird ebenfalls von den Bürgern dominiert, die sich mit der gesellschaftlichen Problematik und Verfassung ihrer Zeit auseinandersetzten. Das höchste Prinzip war dabei die wirklichkeitsgetreue Abbildung der Realität – anders war die soziale Dynamik und Struktur nicht zu erfassen.
- In Deutschland herrschte der poetische Realismus vor, der zwar die Wirklichkeit abbildete, aber veränderte. Im Gegensatz zum sich ebenfalls in dieser Zeit entwickelnden Naturalismus wollte man die Welt nicht ungeschönt und künstlerisch ungeformt einfach übertragen, sondern literarisch behandeln.
- So sollte der Fokus nicht auf der Misere der armen Bevölkerung liegen, sondern die Kritik an der Gesellschaft durch Ironie und Feinsinn äußern.
- Liebe wurde im Realismus weniger als Grunderfahrung des Subjekts denn als gesellschaftlich bedingtes Gefühl beschrieben. Die Liebe zwischen den Ständen, Klassen und Milieus wurde thematisiert, nicht die Flucht aus der Gesellschaft und die Innerlichkeit des Individuums.
- Die Lyrik und damit auch die Liebeslyrik spielten nur eine untergeordnete Rolle und zeigten sich in ihrer Motivik noch von der Klassik, der Romantik und dem Biedermeier beeinflusst: Romane und Novellen konnten die Gesellschaft umfassender analysieren und kritisieren, die Lyrik empfanden die Realisten als zu subjektiv, um die Wirklichkeit ganzheitlich zu erfassen.
- In der Liebeslyrik fand die gesellschaftliche Problematik wenig Entsprechung, sie beschäftigte sich, gewissermaßen als Nischenliteratur des objektiven Realismus, mit den Empfindungen des Ichs, wobei die Erklärung der Liebe als göttliche Kraft und Mysterium wegfällt – nicht das Zauberhafte, sondern das Tatsächliche der Liebe herrschte in den Gedichten vor.
- Die wissenschaftliche Betrachtungsweise und der Materialismus des späten neunzehnten Jahrhunderts bewirkt somit auch eine Entmystifizierung der Liebe, wobei dieser von den poetischen Realisten eine besondere Stellung eingeräumt wird.
Sprache und Form
- Die Realisten waren keine Grenzgänger wie die Romantiker, die meisten waren Bürgerliche mit einigem gesellschaftlichen Ansehen. Die Lyrik des Realismus wollte keine radikale Erneuerung der Literaturwelt sein.
- Als wichtigste Gattung der Lyrik des Realismus gilt die Ballade, welche ein Erlebnis oder ein Geschehen umfassend wiedergeben kann.
- Der Einfluss vorangegangener Epochen zeigt sich an einer weitgehenden Beachtung von Regelmäßigkeit in Reim und Metrum. Johann Wolfgang von Goethes Naturmetaphorik fand auch im Realismus Anwendung.
- Als Neuerung kann die Entwicklung einer schlichten Sprache gelten, die den Realisten als Medium galt, die Wirklichkeit abzubilden, ohne sie künstlerisch zu überhöhen. Die künstlerische Sprache näherte sich der Alltagssprache an, wodurch die verschlungenen Metaphern und metaphysischen Vergleiche der Romantik an Bedeutung verloren.
Beispiel für die Liebeslyrik des Realismus
Die Liebe Wilhelm Busch
1
Die Liebe war nicht geringe.
2
Sie wurden ordentlich blass;
3
Sie sagten sich tausend Dinge
4
Und wussten noch immer was.
5
Sie mussten sich lange quälen.
6
Doch schließlich kam‘s dazu,
7
Dass sie sich konnten vermählen.
8
Jetzt haben die Seelen Ruh.
9
Bei eines Strumpfes Bereitung
10
Sitzt sie im Morgenhabit;
11
Er liest in der Kölnischen Zeitung
12
Und teilt ihr das Nötige mit.
- Wilhelm Buschs Gedicht ist keine Hymne an die Bedeutung der Liebe, sondern stellt diese humoristisch dar - das lyrische Ich betrachtet die Liebe nicht als Liebender, sondern als Außenstehender, der die Geschichte eines bürgerlichen Paares erzählt.
- Die Heirat ist nicht der große, ekstatische Höhepunkt der großen Gefühle, sondern die Ruhe der Seelen. Busch thematisiert hier die bürgerliche Ehe. Diese war im späten neunzehnten Jahrhundert immer noch in erster Linie gesellschaftlicher Zwang.
- Wer als bürgerlicher Mann oder bürgerliche Frau ein Leben lang alleine blieb, galt als gescheiterte Existenz. Heirat war demnach notwendig, um einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, damit in „Ruhe“ zu leben. Nach der Ehe verfliegt im Gedicht das Gefühl des Mannes und der Frau. Sie widmet sich der häuslichen Arbeit, während er Zeitung liest und nur wenig mit ihr spricht, nämlich nur„das Nötige“, nicht mehr „tausend Dinge“.
- Wilhelm Busch stellt hier nicht das Gefühl Liebe an sich dar, sondern die Liebe in der Gesellschaft. Humoristisch stellt er dem Titel „Die Liebe“ die Geschichte eines Paars entgegen, welches nach der Heirat die Leidenschaft verliert.
- Durch die Verwendung von Stereotypen (die Frau strickt, der Mann liest Zeitung) erzeugt Busch zusätzlich Ironie. In schnörkelloser, verhältnismäßig schlichter Sprache, die ganz ohne Metaphern auskommt, karikiert er das mittelmäßige Leben der Bürgerlichen.