Was ist Chemie?

Um was geht es hier?

Schauen wir in einem Lexikon oder dem Duden unter dem Begriff Chemie, dann finden wir eine Definition wie: „Die Chemie ist eine Naturwissenschaft, die sich mit dem Aufbau, den Eigenschaften und der Umwandlung von Stoffen und ihren Verbindungen beschäftigt.“

Achtung: Dieses Skript unterscheidet sich erheblich von allen anderen. Wir werfen hier einen Blick auf die Chemie und das was dahinter verborgen ist. Das Ziel sollte sein dir den ein oder anderen Aspekt aufzeigen zu können, der dir bisher fremd war. Die Inhalte dieses Skripts sind nicht in dem Sinn für dein Abitur relevant, wie die Inhalte anderer Skripte!

Definitionen sind gut und schön, nur bringen sie uns oft nicht weiter, wenn uns der Bezug zu ihrem Inhalt fehlt. Deshalb wollen wir hier ein wenig provokativ fragen, was die Chemie überhaupt zu bieten hat, warum wir uns mit ihr beschäftigen sollten und warum es für nahezu jeden Interessierten eine Sparte geben wird, in welcher er oder sie die persönlichen Interessen ausleben kann.

Wichtig: Dieses Skript wird mit Sicherheit an einigen Stellen subjektive Ansichten präsentieren. Nimm die hier vertretenen Meinungen deshalb nicht einfach als gegeben hin, sondern verwende einige Minuten darauf die Inhalte dieses Skripts vor deinem eigenen Interesse bzw. deiner Demotivation zu hinterfragen. Vielleicht findest du sogar den ein oder anderen Aspekt, der den Funken der Chemie in dir entfacht oder bestärkt.

Die Chemie

Werfen wir einen Blick auf die Darstellung der Chemie im Alltag, dann kommt sie nicht gut davon. Chemie wird oft mit Begriffen wie Umweltverschmutzung, kompliziert und Gefahr verbunden. Dieses Bild wird durch die Medien bestärkt, die von diversen Unfällen im Sektor Chemie sowie deren Auswirkungen und Gefährdungen ausführlich berichten.



Ist es gerechtfertigt eine ganze Naturwissenschaft auf diesen Grundlagen von vorne herein zu brandmarken oder wäre es nicht gerechtfertigt sich fünf Minuten Zeit zu nehmen und ein wenig differenzierter zu bewerten? Leider sind in der Werbung Sätze wie

  • Waschpulver ganz ohne Chemie
  • natürliche Nahrungsmittel ohne Chemie
  • Kleidung ganz ohne Chemie

allgegenwärtig. Doch was sollte eigentlich die Intention dieser Aussagen sein. Welche Aspekte sind hier tatsächlich gemeint, werden aber auf äußerst ungeschickte Weise stark verallgemeinert? Wir wollen einen Blick wagen, der uns in dieser Hinsicht ein wenig mehr Klarheit verschaffen kann, als die Medien.

Chemie ist mehr als nur DIE Chemie

Disziplinen und Interdisziplinarität

Wenn wir über die Chemie reden, dann ist es im 21. Jahrhundert unmöglich über die eine Chemie zu reden. Dazu ist diese Naturwissenschaft viel zu umfangreich und umfasst viel zu viele unterschiedliche Disziplinen (vgl. Abb. 1).


Abb. 2: Eine Auswahl der Disziplinen innerhalb der Chemie

Wir können uns mit Kohlenstoff und seinen Verbindungen beschäftigen (organische Chemie) oder wir kümmern uns um die Entwicklung neuer anorganischer Festkörper, die in der Energiespeichertechnik ihre Anwendung finden (anorganische Chemie). Des Weiteren können wir uns auch für makromolekulare Materialien interessieren und die Synthese und Eigenschaften von Hochleistungskunststoffen studieren (makromolekulare Chemie). Daneben bieten die Werkzeuge der Mathematik und Erkenntnisse der Physik einerseits die Möglichkeit molekulare Strukturen und ihre Eigenschaften theoretisch zu beschreiben und so Zugang zu experimentell schwer bzw. kaum zugänglichen Informationen zu erhalten. Andererseits können die experimentellen Methoden der Physik auf chemische Fragestellungen angewandt werden, um neue Erkenntnisse zu erlangen (physikalische und theoretische Chemie}). Du kannst sehen, dass es sich hierbei bereits um die verschiedensten Gebiete handelt, obwohl wir hier gerade einmal an der Oberfläche dessen gekratzt haben, was tatsächlich möglich ist.
Insbesondere der letzte Punkt bzgl. der Physik deutet eines bereits an: Die Grenzen der modernen Chemie hin zu anderen Naturwissenschaften (Physik, Biologie, Geowissenschaften bspw.) und Ingenieurwissenschaften (Chemieingenieurwesen, Verfahrenstechnik bspw.) wird immer undeutlicher. Das Ergebnis ist, dass moderne Fragen der Forschung hochgradig interdisziplinär ausgerichtet sind, sodass viele Menschen verschiedenster Fachrichtungen zusammenarbeiten.

Die Schul-Chemie und die große Chemie da draußen!

Vielleicht hast du dich schon einmal gefragt, was du mit deinem chemischen Grundwissen überhaupt anfangen sollst bzw. ob es sich dabei nicht einfach nur um einen wild zusammengewürfelten Haufen an Wissen handelt, der so effektiv kaum zu zähmen ist. Grundsätzlich können wir dich beruhigen, dass dem nicht so ist. In Abbildung 2 siehst du die Inhalte den einzelnen Disziplinen zugeordnet.


Abb. 3: Zuordnung der schulischen Inhalte (Oberstufe) zu den einzelnen Disziplinen der Chemie

Demzufolge erhältst du ein breites Grundwissen, dass dich sowohl mit den theoretischen Grundlagen im Bezug auf chemische Reaktionen (allgemeine Chemie und physikalische Chemie) ausrüstet, als auch Einblicke in speziellere Themengebiete erlaubt (organische und makromolekulare Chemie sowie die Elektrochemie).
Die „ ganz große Chemie“ ist also gar nicht so weit weg, wie du vielleicht denken magst. Die Grundlagen, die du in der Schule kennen lernst, bleiben auch außerhalb der Schule erhalten und werden dann weiter verfeinert und vertieft. Du stehst mit deinem Wissen demnach nicht abseits, sondern direkt am Anfang einer unheimlich interessanten Naturwissenschaft, die entdeckt werden kann und will.

Die Chemie vor dem Laborfenster!

Hast du dir schon einmal überlegt, ob die Chemie, die scheinbar durch das Labor personifiziert wird aufhört zu existieren, wenn du das Labor verlässt? Oder anders formuliert: Gibt es eine Chemie außerhalb des Laborfensters?
Und ob! Das wird dir spätestens dann klar, wenn du dir zu Hause ein Heißgetränk zubereiten willst und der Wasserkocher dir in großem Umfang Kalkflocken als unerwünschtes Extra mitliefert. Interessanterweise unterscheidet sich der Kalk (\(\text{CaCO}_{3}\)), der sich dann in deinem Heißgetränk befindet nicht sonderlich von dem Kalk, den du als Bestandteil der Kreidefelsen von Dover findest.


Abb. 4: Kalk

Die Chemie im Kontext der Erde

Wenn wir den Schritt wagen und vor unsere Haustüren blicken, dann finden wir dort ein extrem reichhaltiges Angebot der Chemie. Betrachten wir die Atmosphäre, die darin enthaltenen Gase und ihre Reaktivität, dann finden wir uns direkt im Bereich der Atmosphärenchemie wieder. Begeben wir uns auf die Erdoberfläche, dann fällt auf, dass \(71\,\%\) davon von Wasser bedeckt ist. Wasser ist das Lösungsmittel schlechthin auf unserem Planeten und dir ist bereits aus der Schule bewusst, wie breit gefächert die Chemie in diesem Lösungsmittel ist: Wir beschäftigen uns in diesem Fall effektiv mit der aquatischen Chemie. Verlassen wir die Erdoberfläche und begeben uns ins Erdinnere, dann ändern sich die Bedingungen bzgl. Temperatur und Druck extrem. Dennoch laufen hier chemische Prozesse ab, die zur Mineral und Gesteinsbildung führen. Wir betreten das Fachgebiet der Geochemie. Verlassen wir das Erdinnere wieder, dann fällt uns auf, dass wir bisher nur die unbelebte Welt betrachtet haben. Beziehen wir das Reich der Mikroorganismen in unsere Betrachtungen mit ein, dann betreten wir das sehr reichhaltige Fachgebiet der Biogeochemie.
Hierbei handelt es sich um einen kleinen Auszug dessen, was uns tatsächlich vor dem Laborfenster an Chemie erwartet. Du kannst sehen, dass wir alltäglich in direkten Kontakt mit dieser Chemie kommen ohne sie tatsächlich bewusst wahrzunehmen. Wagst du einen Blick hinter die Kulissen, dann wirst du erstaunt sein, wie viele Analogien und Konzepte sowohl in der Natur als auch im Labor wiederzufinden sind und wie beide Seiten vom Wissen der anderen profitieren können.

Ein Ausblick oder „Was soll das Ganze überhaupt?“

Natürlich fällt es schwer der Chemie auch nur eine gute Sache zuzuschreiben, wenn du weder den „seltsamen Symbolen“ noch dem „langweiligen“ und anspruchsvollen „Rumgerechne“ irgendetwas Gutes abgewinnen kannst. Wo sich die Physik wenigstens auf eine Ausdrucksweise (die Sprache der Mathematik) beschränken kann, die es nebenbei gesagt schon ganz schön in sich hat, taucht in der Chemie zu allem Überfluss noch eine weitere „Geheimsprache“ in Form von Summen- und Strukturformeln auf. Das macht die ganze Sache nicht unbedingt besser. Zumindest auf den ersten Blick! Auch wenn du es vielleicht nicht sofort zugeben würdest, aber die Chemie ist allgegenwärtig in deinem Leben. Ob morgens beim Frühstück in deinem Körper, auf dem Schulweg im Zusammenhang mit deinem High-Tech Fahrrad oder beim Gewitter am Abend. Wenn du dir fünf Minuten Zeit nimmst und dir überlegst, dass dein Computer insbesondere auch deshalb existieren kann, weil Chemiker die passenden Materialien entwickeln konnten oder dass die chemischen Prozesse, die beim Kochen von Eiern ablaufen dermaßen komplex sind, dass wir sie immer noch nicht ganz verstanden haben, dann bemerkst du vielleicht für dich selbst, dass hier viel mehr versteckt ist als langweiliger Schulstoff.
Wir möchten dieses Skript mit einem Zitat des Physikers Richard Feynman abschließen: „There is plenty of room at the bottom.“ Feynman machte diese Aussage 1954 in Zusammenhang mit der Nanotechnologie, dennoch lässt sie sich wunderbar für unsere Sache zweckentfremden: Die Welt der Atome und Moleküle hat tatsächlich noch niemand mit eigenen Augen gesehen und dennoch ist sie unermesslich groß und reich im Bezug auf die Wunder der Natur. Wir können dich an dieser Stelle nur ermutigen einen Blick in diese Welt zu riskieren. Natürlich wird es zu Beginn nicht einfach werden, aber die Resultate und die Einblicke die du hier erhältst werden dich in jedem Fall dafür entschädigen. Und bedenke hierbei immer zwei Sachen:

  • Deine Neugierde kann dir niemand nehmen und es gibt wohl nichts Spannenderes als etwas komplett Neues (auch wenn es nur für dich neu sein sollte) zu entdecken.
  • Du bist ständig von der Chemie umgeben und verdankst ihr auch, dass du durch die Gegend spazieren kannst; du kannst sie erfolgreich ignorieren, aber entkommen kannst du ihr glücklicherweise nicht.
Bildnachweise [nach oben]
[1]
Public Domain
[2]
© SchulLV
[3]
© SchulLV
[4]
https://goo.gl/cbwckU © Die Kreidefelsen von Dover, Fanny;
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