Aufgabe 2
Thema:
Hajo Frerich: Wenn Schule „Schule macht“
Aufgabenstellung:
Aus: Wenn Schule „Schule macht“, letzter Zugriff am 07.07.2021.
- Beschreibe diesen Text.
- Berücksichtige dabei besonders inhaltliche, sprachliche und formale Aspekte.
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Es war schon immer ein Problem, Nina morgens aus dem Bett zu bekommen. Aber
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diesmal war es besonders schlimm. Als er sich nämlich über sie beugte, sie leicht am Arm
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rüttelte und sagte: „Viertel nach sieben – es wird knapp, wenn du noch rechtzeitig in der
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Schule sein willst“, kam nur ein gereiztes Stöhnen zurück. Also zog er gleich die ultimative
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Karte: „Wir hatten doch abgesprochen, dass wir morgens kein Theater machen. Ich wecke
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dich zum letztmöglichen Zeitpunkt – aber dann musst du auch raus.“ Was er dann zu
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hören bekam, verschlug ihm doch die Sprache. Nina meinte nur relativ locker, sich schon
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wieder wegdrehend: „Ach, Papa, mein Poli-Lehrer sagt dazu nur: Abmachungen müssen
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immer wieder neu verhandelt werden.“ Was sollte man als Vater in solch einer Situation
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dazu sagen. Also schlug er vor: „Okay, du stehst jetzt auf und dann haben wir beim
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Frühstück noch fünf Minuten Zeit für dein neues Verhandeln.“
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Tatsächlich erschien Nina dann einigermaßen schnell in der Küche und legte gleich los:
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„Wie ich schon sagte: Wir haben letztens im Politikunterricht besprochen.
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Abmachungen sind nichts als ein Trick der Mächtigen, um möglichst lange ihre Macht
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ungestört genießen zu können. Wenn aber immer wieder neu verhandelt wird, dann ist das
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viel gerechter.“ Was soll man dazu sagen. Er beschloss, es erst mal auf sich beruhen zu
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lassen. Wichtig war jetzt, dass Nina noch ihren Bus bekam.
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Sie war dann auch schnell in der Tür, drehte sich aber noch mal um, meinte: „Übrigens, ich
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muss Kim noch das Geld für den letzten Kinobesuch geben. Kannst du mir nicht schon mal
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das Taschengeld für den nächsten Monat geben?“ Jetzt rutschte es ihm einfach raus:
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„Meine Liebe, wie du schon sagtest: So was muss immer wieder neu verhandelt werden!“
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Das Letzte, was er von seiner Tochter sah, war ein unendlich verblüfftes Gesicht – und das
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Letzte, was er hörte, war die Tür, die krachend ins Schloss fiel.
Aus: Wenn Schule „Schule macht“, letzter Zugriff am 07.07.2021.
Einleitung
- Autor: Hajo Frerich
- Titel: Wenn Schule „Schule macht“
- Erscheinungsjahr: nicht genannt
- Textsorte: Prosa, Kurzgeschichte
- Quelle: Hajo Frerich: Wenn Schule „Schule macht“, letzter Zugriff am 13.11.2023.
- Thema: In der Kurzgeschichte wird thematisiert, inwiefern es vertretbar ist, Regeln zum eigenen Vorteil zu nutzen. In diesem Zuge stellt sich die Frage, ob es sich bei Regeln um feste Konventionen handelt, die aufgrund gesellschaftlicher Ordnung existieren, oder ob Regeln willkürlich modifizierbare Richtlinien sind.
- Inhalt: Wie jeden Morgen weckt ein Vater seine Tochter vor der Schule, nur um festzustellen, dass das Mädchen wie so oft weigert, das Bett zu verlassen. Nina argumentiert, in der Schule habe sie gelernt, dass Regeln immer wieder neu verhandelt werden müssten, damit sie ihre Gültigkeit behalten. Dennoch lässt sich die Tochter dazu bewegen, aufzustehen. Daraufhin wird die Diskussion über die Neuverhandlung von Regeln am Frühstückstisch zwischen Vater und Tochter fortgesetzt. Als Nina beim Abschied ihren Vater um einen Vorschuss ihres Taschengeldes bittet, erwidert ihr Vater, „so was muss immer wieder neu verhandelt werden“ (Z. 21) und verwendet damit ihr ursprüngliches Argument gegen sie.
Hauptteil
Formale Analyse- Kurzer Text: 23 Zeilen
- 4 unterschiedlich lange Absätze
- Einleitend schildert der Vater, dass seine Tochter seit jeher protestiert, wenn man sie morgens zum Aufstehen bewegen will. Der Einstieg in die Kurzgeschichte erfolgt jedoch unvermittelt, was typisch für die vorliegende literarische Gattung ist.
- Die Tochter wird namentlich („Nina“ Z. 1) erwähnt, die Beschreibung des Vaters hingegen beschränkt sich auf dessen Vaterfigur. Grundsätzlich werden die beiden Figuren nicht ausführlich charakterisiert, sondern lediglich grob umrissen.
- Die Diskussion zwischen Eltern und Kind morgens aufzustehen, stellt eine typische Alltagssituation dar und auch die daraufhin anschließende Grundsatzdebatte über die Neuverhandlung von Regeln bildet einen üblichen Gesprächsgegenstand zwischen Eltern und Kindern.
- Gegen Ende der Kurzgeschichte kommt es zu einem plötzlichen Wendepunkt, als der Vater die Oberhand über die Situation zurückerlangt. Er reagiert auf Ninas Bitte nach einem Taschengeldvorschuss mit der Äußerung, dies müsse erst einmal neu verhandelt werden, bevor er ihr das Geld geben könne.
- Das Ende bleibt offen, da der Leser nicht erfährt, ob die Diskussion über den Taschengeldvorschuss sowie das morgendliche Aufstehen noch weiter geht oder hiermit beendet ist.
- Die Handlung gliedert sich in einen äußeren sowie einen inneren Handlungsteil. Die innere Handlung besteht aus den Gedanken Ninas Vater zur Situation, die äußere Handlung aus dem Wecken Ninas, ihrem späteren Auftauchen in der Küche sowie ihrem Weggang aus letzterer.
- 1. Sinnesabschnitt (Z. 1): Ein Vater möchte seine Tochter Nina wecken, damit sie nicht zu spät zur Schule kommt und stößt auf deren Protest.
- 2. Sinnesabschnitt (Z. 2-16): Die Tochter reagiert auf das Drängen des Vaters, endlich aufzustehen mit der Aussage, sie habe neulich in der Schule über die Notwendigkeit des Neuverhandelns von Regeln gelernt und bezieht sich damit auf eine neue Regelung für das Aufwecken morgens. Damit verwickelt sie ihren Vater in eine Diskussion, begibt sich jedoch auch in die Küche zum Frühstück. Dieser Paragraph beinhaltet sowohl Elemente einer äußeren als auch einer inneren Handlung. Der Zeitpunkt des Weckens (Z. 2 ff.) markiert einen äußeren, und der darauffolgende innere Monolog des Vaters (Z. 7, Z. 9 f.) einen inneren Handlungsstrang. Nina kommt zum Frühstück (Z. 12 f.) und führt die Diskussion über Regeln fort, was ebenfalls als äußere Handlung eingeordnet werden kann.
- 3. Sinnesabschnitt (Z. 16-17): Da der Vater das von Nina angeschnittene Thema aufgrund des nahenden Schulbeginns vertagen möchte, reagiert er verständnisvoll auf die Tirade seiner Tochter und kürzt damit die Diskussion ab. In diesem Sinnabschnitt findet wieder eine innere Handlung statt, die sich im Gedankengang des Vaters (Z. 16) darstellt.
- 4. Sinnesabschnitt (Z. 18-23): Im finalen Paragraphen der Kurzgeschichte kommt es zu Ninas Bitte an ihren Vater, ihr einen Vorschuss des „Taschengeld[es] für den nächsten Monat“ (Z. 20) zu gewähren. Doch ihr Vater gibt ihr wider Erwarten nicht die Summe, sondern fertigt sie mit den Worten: „So was muss immer wieder neu verhandelt werden!“ (Z. 21) ab. Daraufhin stürmt Nina aus dem Haus (Z. 22 f.), was wiederum als finaler Part der geschlossenen Handlung angesehen werden kann.
- Erzähler alias Vater: Ninas Vater wird nicht namentlich erwähnt, noch werden nähere Informationen hinsichtlich seines Alters oder Aussehens preisgegeben. Da in der Geschichte keine Mutterfigur erwähnt wird, bleibt anzunehmen, dass der Vater mit seiner seine Tochter alleine lebt. Der Vater erzieht sich sein Kind auf kooperative (Z. 5 f.) anstatt autoritäre Art und Weise und dennoch setzt er Nina gesunde Grenzen (Z. 10 f., 17). Auf die Versuche seiner Tochter, ihn aus der Reserve zu locken und zu reizen, reagiert der Mann gelassen und ruhig (Z. 7, 9 f.). Schnell ist ersichtlich, dass es nicht in seinem Interesse liegt, sich mit Nina zu streiten (Z. 16), vielmehr möchte er ihr mit einem subtilen Ansatz verdeutlichen, dass Regeln nicht dazu da sind, willkürlich ausgelegt zu werden. Letzteres bewerkstelligt er, indem er Ninas eigene Argumentation gegen sie verwendet (Z. 20), ohne dabei aus der Haut zu fahren und den Respekt seiner Tochter zu verlieren (Z. 22).
- Nina: Die Schülerin befindet sich vermutlich im Teenager-Alter, da sie noch zur Schule geht (vgl. Unterricht Z. 13). Wie viele Jugendliche ihres Alters würde sie morgens am liebsten nicht aufstehen (Z. 1) und testet gerne ihre Grenzen, insbesondere an ihrem Vater (Z. 8 f.) aus. Um ihr trotziges Verhalten zu begründen, bindet sie das von ihr im Politikunterricht erlangte Wissen mit in ihre Argumentationskette mit ein (Z. 8 f., 13 ff.). Nach außen hin gibt sich Nina sicher und souverän (Z. 13 ff.), jedoch versteckt sie dahinter ihre eigene Unsicherheit. Ganz nach dem Motto, „Hochmut kommt vor dem Fall“, muss die Schülerin zugeben, dass ihr Vater sie am Ende mit ihren eigenen Waffen schlägt (Z. 22 f.). Die eben genannte Erkenntnis übt einen derartigen Überraschungseffekt auf Nina aus, dass sie „unendlich verblüfft[...]“ (Z. 22) zurückbleibt.
- Ninas Politiklehrer: Der Lehrer wird von Nina im Zuge ihrer Erzählung über das Thema Neuverhandlung von Regeln im Politikunterricht erwähnt (Z. 8 f.). Demzufolge stellt er keine aktive Figur dar. Das aktuelle Thema, welches der Lehrer seine Schüler lehrt befasst sich damit, dass Regeln teils dem Machtmissbrauch dienen (Z. 13 ff.) und deshalb „Abmachungen [...] immer wieder neu verhandelt werden [müssen]“ (Z. 8 f.).
- Ort: Die Kurzgeschichte spielt sich in den eigenen vier Wänden des Vaters und seiner Tochter ab. Es handelt sich um einen vertrauten Raum der beiden, der einen Blick in ihren Alltag zulässt.
- Zeit: Dem Akt des Aufweckens nach zufolge lässt darauf schließen, dass es sich beim Zeitpunkt des Geschehens um die frühen Morgenstunden handelt. Allerdings besteht eine Diskrepanz.
- Zeitform: Präsens (z. B. „Ich wecke dich“, Z. 5 f.); es wird eine abgeschlossene Handlung erzählt, an der der Leser durch die Gegenwartsform quasi teilhaben kann. Auch unterstützen die Parts, in welchen die wörtliche Rede gehalten wird den dialogischen Charakter, welcher in der Diskussion zwischen Vater und Tochter vorherrscht. Gleichzeitig findet der Text, welcher nicht in wörtlicher Rede verfasst ist, im Präteritum (z. B. „Es war“, Z. 1) statt. Damit wird der erzählerische Charakter der Kurzgeschichte unterstrichen.
- Personalpromomen: Anstelle von Namen werden nur Personalpronomen für die Figuren verwendet; die Person wird damit aufs Wesentliche reduziert und allgemeingültiger
- Erzählperspektive: Personaler Erzähler; es wird aus der Innensicht des Vaters berichtet (z.B. „Er beschloss, es erst mal auf sich beruhen zu lassen.“ (Z. 16 f.).
- Sprache: Die Verwendung rhetorischer Fragen kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Vater zu Beginn nicht weiß, wie er auf die Provokation seiner Tochter reagieren soll (z. B. „Was soll man als Vater in solch einer Situation dazu sagen.“, Z. 9 f.). Das aufmüpfige Verhalten seiner Tochter „verschlug ihm doch die Sprache“ (Z. 6 f.), hier wird abermals die Perplexität des Vaters auf die Übergriffigkeit seiner Tochter dargestellt. Anhand des saloppen Sprachstils (z. B. „Ach, Papa, mein Poli-Lehrer [...]“, Z. 8 f.) seitens Nina ist erkennbar, dass das Mädchen weder die Situation noch ihren Vater ernst nimmt. Auch ironische Elemente sind in der Kurzgeschichte zu verzeichnen: Etwa die Anrede des Vaters „Meine Liebe“ (Z. 21) ist in diesem Zusammenhang weniger liebevoll als ironisch zu verstehen.
- Bei der Überschrift der Kurzgeschichte wird zweimal der Begriff Schule verwendet, einmal im herkömmlichen und einmal im übertragenen Sinne.
- Da es sich bei dem Titel um einen fragmentartigen Konditionalsatz handelt, endet er mit einem imaginären Fragezeichen. Diese offene Frage bewirkt, dass der Leser gespannt auf die daraufhin folgende Geschichte ist.
- Welche Signifikanz und welchen Zweck besitzen Regeln? Zum einen kreieren feste Absprachen wie Regeln einen sicheren Rahmen im Alltag. Zum anderen können sie dafür sorgen, dass sich die Befolger der jeweiligen Regeln in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt oder fremdgesteuert fühlen. Letzteres Empfinden kann beispielsweise auch bei Nina nachgewiesen werden, die sich eindeutig durch die Abmachung mit ihrem Vater morgens ohne Widerworte aufzustehen, ihrer jugendlichen Freiheit beraubt fühlt (Z. 7 ff.). Gleichzeitig verunsichert sie der Umstand, dass ihr Vater gegen Ende der Kurzgeschichte selbst die Regeln für den Taschengeldvorschuss neu verhandeln möchte (Z. 21 f.).
- Eine Frage der Perspektive: Je nachdem, in welcher Position man sich befindet, können Argumente, welche auf den ersten Blick förderlich wirken, ebenso ins Gegenteil umgekehrt werden. Beispielhaft für dieses Szenario ist Nina, die zu anfangs stark darauf plädiert, die morgendlichen Regeln des Aufstehens neu verhandeln zu wollen (z. 13 ff.). Nachdem ihr Vater sich jedoch eben dieser Regeln bedient, ist ihre Verblüffung (vgl. Z. 22 f.) groß.
- Die Umkehrung der anfänglichen Szenerie und ihrer Rollen zeigt deutlich auf, wie subjektiv eine Argumentation oder eine Stellungnahme im Hinblick auf die individuelle Lage ist. So ist es möglich, dass ein und dieselbe Person am Abend eben jene Argumente verwünscht, auf Basis derer sie noch am selben Morgen handelte.
- Indem der Autor konträr zueinanderstehende Ausdrücke wie „immer“ (Z. 1) und „diesmal“ (Z. 2) gleich anfangs in Verbindung mit „schlimmer“ (Z. 2) verwendet, erzeugt er eine Spannung. Letztere weist wiederum darauf hin, dass es sich bei dieser Kurzgeschichte nicht um eine bloße Alltagsschilderung handelt. Stattdessen wird in der Geschichte eine Situation beschrieben, die die auch eine Wende bedeuten kann.
Schluss
- Die Erkenntnis, dass die Modifizierbarkeit von Regeln je nach situativem Kontext vorteil- oder nachteilhaft sein kann.
- Der Aspekt der Sicherheit in der Befolgung von Regeln ist ein Illusionärer, sofern die Regeln jederzeit neu verhandelt werden können. Gleichzeitig benötigen wir als Menschen und Wesen, die nach Sicherheit streben, gewisse Regeln, nach denen wir uns richten können und die unserem Leben Struktur verleihen.
- Auseinandersetzung und Reflexion des persönlichen Umgangs mit Regeln und Absprachen