Lerninhalte in Deutsch
Prüfungsaufgaben (Realschulabschluss)

Aufgabe 2

Thema:
Mahmood Falaki (* 1951): Geburtstag
Aufgabenstellung
  • Beschreibe diesen Text.
  • Berücksichtige dabei besonders inhaltliche, sprachliche und formale Aspekte.
Material
Geburtstag
Mahmood Falaki
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Als die U-Bahn anhält und die Tür aufgeht, reißt sie ihre kleine Hand aus meiner Hand und
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springt hinein. Ich weiß, dass sie nun nach einem Fensterplatz sucht. Sie wird ziemlich
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verärgert sein, wenn sie keinen findet. Sie findet einen Platzt und ruft mich glückstrahlend
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zu sich. Heute hat sie Geburtstag. Wir sind gerade auf dem Weg, ihr eine Geburtstagstorte
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und Kerzen zu kaufen. „Papa, wie alt werde ich jetzt?“ Ich will ihr sagen, dass sie diese
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Frage bereits mehrmals gestellt hat. Ich lasse es aber lieber und antworte wieder: „Sieben
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Jahre alt.“ Mir scheint, diese Zahl hat eine magische Wirkung auf sie, sodass sie sie
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ständig hören möchte. Daraufhin richtet sie ihre schwarzen Augen auf die Frau, die steif
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vor ihr sitzt, und lächelt sie an. Sie glaubt wahrscheinlich, dass diese Frau oder die
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anderen unsere Sprache verstehen und nun alle wissen, dass sie heute Geburtstag hat
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und sieben Jahre alt wird.
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Flüchtig wirft ihr die Frau aus ihrem Augenwinkel einen Blick zu, richtet aber sofort wieder
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die Augen nach vorne. Sie zieht ihre Beine an. Sie ist gut fünfzig Jahre alt. Ihre weiße
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Bluse ist so porentief sauber, als wäre noch nie ein Staubkörnchen darauf gewesen. Wie
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akkurat sie doch ihre roten Haare zusammengebunden hat! Mit einer
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Kopfbewegung wirft meine Tochter ihre Haare aus der Stirn und hebt ihre neuen Schuhe
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etwas hoch, um sie der Frau zu zeigen. Als diese nicht darauf reagiert, sagt sie auf
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Persisch, dass sie die Schuhe neulich erst gekauft hat. Dann wiederholt sie den Satz auf
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Deutsch. Die Frau dreht ihren Kopf leicht zu ihr und öffnet die Lippen zu einem Lächeln,
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das nicht mehr als ein flüchtiges Zucken ist. Unter der Last meines Blickes dreht sie mir
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langsam den Kopf zu, schaut aber sofort wieder weg, setzt sich aufrecht hin und starrt
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wieder nach vorn. Die U-Bahn fährt nun langsamer. Sie erreicht die nächste Haltestelle
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und kommt zum Stehen.
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Deutlich hörbar steigt eine junge Frau ein, die einen Hund an der Leine führt. Sie schaut
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sich um und setzt sich mir gegenüber. Der Hund legt sich zu Füßen seiner Besitzerin
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gemütlich auf meine Schuhe. Der Zug fährt los. Die Frau, die vor meiner Tochter sitzt,
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wendet ihren Blick dem Hund zu und streichelt ihm lächelnd über den Rücken. Sie fragt die
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Besitzerin nach Namen und Alter des Hundes. Ihre weichen Hände gleiten sanft über den
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Rücken und Kopf des Hundes. Meine Tochter schaut auf die Hände der Frau, die im
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Fell des Hundes Wellen auslösen. Der Zug verlangsamt seine Geschwindigkeit und kommt
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zum Stehen. Wir müssen aussteigen. Ich nehme die Hand meiner Tochter. Wir gehen los.
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Nach ein paar Schritten dreht sie ihren Kopf zurück. Sie guckt auf die Hände der Frau, die
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immer noch im Fell des Hundes zärtlich Wellen bilden.

Aus: Mahmood Falaki: Geburtstag. In: Ich bin Ausländer und das ist gut so. Bremen: Sujet Verlag 2013, S. 34 - 36.