Aufgabe 1
Thema:
Joachim Ringelnatz (* 1883 - † 1934): Reklame
Aufgabenstellung:
Aus: Reklame, letzter Zugriff am 13.11.2023.
- Beschreibe diesen Text.
- Berücksichtige dabei besonders formale und sprachlich-stilistische Mittel.
1
Ich wollte von gar nichts wissen.
2
Da habe ich eine Reklame erblickt,
3
Die hat mich in die Augen gezwickt
4
Und ins Gedächtnis gebissen.
5
Sie predigte mir von früh bis spät
6
Laut öffentlich wie im Stillen
7
Von der vorzüglichen Qualität
8
Gewisser Bettnässer-Pillen.
9
Ich sagte: „Mag sein! Doch für mich nicht! Nein, nein!
10
Mein Bett und mein Gewissen sind rein!“
11
Doch sie lief weiter hinter mir her.
12
Sie folgte mir bis an die Brille.
13
Sie kam mir aus jedem Journal in die Quer
14
Und säuselte: „Bettnässer-Pille.“
15
Sie war bald rosa, bald lieblich grün.
16
Sie sprach in Reimen von Dichtern.
17
Sie fuhr in der Trambahn und kletterte kühn
18
Nachts auf die Dächer mit Lichtern.
19
Und weil sie so zäh und künstlerisch
20
Blieb, war ich ihr endlich zu Willen.
21
Es liegen auf meinem Frühstückstisch
22
Nun täglich zwei Bettnässer-Pillen.
23
Die ißt meine Frau als „Entfettungsbonbon“.
24
Ich habe die Frau belogen.
25
Ein holder Frieden ist in den Salon
26
Meiner Seele eingezogen.
Aus: Reklame, letzter Zugriff am 13.11.2023.
Einleitung
- Autor: Joachim Ringelnatz
- Titel: Reklame
- Erscheinungsjahr: 1923
- Textsorte: Erlebnislyrik
- Epoche: Moderne/Expressionismus
- Quelle: Joachim Ringelnatz: Reklame, letzter Zugriff am 13.11.2023.
- Thema: Das zentrale Thema des Gedichts stellt die kritische Sicht auf Werbung dar, im besonderen Hinblick auf deren manipulative Tendenz.
- Inhalt: Anfangs fühlt sich der Erzähler von der Reklame über „Bettnässer-Pillen“ (V. 8) nahezu verfolgt, da er mit ihr in „jedem Journal“ (V. 13) und von jeder Leuchtreklame aus konfrontiert wird. Die Allgegenwärtigkeit des Pillenprodukts setzt den Ich-Erzähler derart unter Druck, dass er es sich am Ende selbst kauft.
Hauptteil
Formale Analyse- Verse: 26 Verse
- Strophen: Sieben Strophen mit unterschiedlicher Versanzahl, von denen sechs Strophen vier Verse und eine Strophe zwei Verse beinhalten.
- Metrum: Das Reimschema ist nicht durchgängig einheitlich, so findet man beispielsweise umarmende Reime, Paarreime sowie Kreuzreime.
- Bei dem Titel des Gedichts Reklame handelt es sich um ein anderes Wort für Werbung, jedoch haftet diesem Ausdruck ein Hauch von Bedrängung und Penetranz an.
- Der Begriff Reklame gilt inzwischen als veraltet, war jedoch in der Entstehungszeit des Werks um 1923 üblich.
- Vers 1-4
- Gleich zu Beginn des Gedichts fällt auf, wie die Reklame personifiziert wird und damit noch bedrohlicher erscheint. Der Ich-Erzähler setzt dies um, indem er beschreibt, die Werbung „hat mich in die Augen gezwickt“ (V. 3) „und ins Gedächtnis gebissen“ (V. 4). Diese Personifizierung bewirkt nicht zuletzt, dass einem die Reklame in Erinnerung bleibt, sie verstärkt den Wiedererkennungswert der Werbung.
- Indem der Erzähler in der ersten Strophe erst sich selbst und unmittelbar danach die Reklame anspricht, stellt er einen Parallelismus aus seinem lyrischen Ich und dem Gegenstand des Gedichts, der Reklame, dar.
- In der 1. Strophe liegt ein umarmendes Reimschema vor, welches dem Muster a-b-b-a folgt.
- Vers 5-8
- Auch in dieser Strophe spielt die Personifikation der Reklame eine zentrale Rolle. Der Ich-Erzähler empfindet die Präsenz der Werbung als so eindringlich, als wenn „sie [...] [ihn] von früh bis spät“ (V. 5) verfolgen würde.
- Das angepriesene Produkt der „Bettnässer-Pillen“ (V. 8) scheint weder einen Sinn noch Zweck zu besitzen und wirkt wie ein weiteres unnötiges, übertrieben gehyptes Fabrikat der Werbung
- Der Erzähler wird nicht nur „laut öffentlich“ (V. 6), sondern auch „im Stillen“ (v. 6) von der Reklame heimgesucht. Sie überschreitet damit die Grenze in seine Privatsphäre und es ist ihm, als könne er sich ihr kaum entziehen.
- Das Metrum der zweiten Strophe ist ein Kreuzreim und folgt damit dem Schema a-b-a-b.
- Vers 9-10
- In der dritten Strophe wechselt die Erzählform zur wörtlichen Rede, welche sich im Selbstgespräch des Ich-Erzählers äußert.
- Der Ich-Erzähler versucht sich durch eindringliches Zureden dagegen zu wehren, dass die Reklame überhand über sein Leben nimmt und sagt zu sich selbst: „Mag sein! Doch für mich nicht! Nein, nein! / Mein Bett und mein Gewissen sind rein!“ (V. 9 f.).
- Die Ausrufezeichen hinter letzteren Aussprüchen sind als Verteidigungsmanöver gegen die penetrante Werbung zu verstehen.
- Diese Strophe ist im Paarreim geschrieben und damit dem Schema a-a-b-b zuzuordnen.
- Vers 11-14
- Die Reklame wird weiterhin personifiziert, so schildert der Ich-Erzähler etwa: „Sie lief weiter hinter mir her“ (V. 11).
- Die Aussage „sie folgte mir bis an die Brille“ (V. 12) kann dahingehend interpretiert werden, dass die Reklame den Erzähler selbst bis auf die Toilette verfolgt, ihm also auch das letzte Stückchen Privatsphäre nimmt.
- Vers 15-18
- In den ersten drei Zeilen der fünften Strophe lassen sich Anapher finden („Sie war [...]“ (V. 15), „Sie sprach [...]“ (V. 16), „Sie fuhr [...]“ (V. 17)), die die Omnipräsenz der Reklame noch intensiviert.
- Auch hier setzt sich das Muster der Personifikation weiter und damit wirkt weiterhin die Werbung als penetranter Beobachter, welchem man nicht ausweichen kann.
- Die Mannigfaltigkeit der Orte, an welchen die Reklame zu sehen ist, führt dazu, dass sie sowohl in der Straßenbahn ausgehängt als auch „nachts auf [den] Dächern mit Lichtern“ (V. 18) ausgestrahlt wird.
- Wie auch die Mehrheit der übrigen Strophen befindet sich diese Strophe im Kreuzreim.
- Vers 19-22
- In dieser Strophe wird der Wille des Ich-Erzählers gebrochen und er entschließt sich dazu, der bedrängenden Wirkung der Reklame nachzugeben und kauft sich die „Bettnässer-Pillen“ (V. 22).
- In Vers 19-20 ist ein Enjambement zu verzeichnen, welches den Übergang des ursprünglichen Verweigerns hin zum letztendlichen Nachgeben verdeutlicht.
- Als Grund, warum er sich schlussendlich für den Kauf der Pillen entscheidet, gibt der Erzähler an, die Werbung sei „so zäh und künstlerisch“ (V. 19) gewesen. Der Sinneswandel des Erzählers scheint demnach nicht ausschließlich auf die Penetranz der Reklame, sondern auch auf ihre kreative Umsetzung zurückzuführen zu sein.
- Vers 23-26
- Der Erzähler wagt sich nicht, seiner eigenen Frau von der wahren Funktion der erworbenen Pillen zu erzählen, sodass sie sie als „Entfettungsbonbon“ (V. 23) einnimmt. Über die Schreibweise in Anführungszeichen stolpert man als Leser unweigerlich, und dies ist vom Erzähler so beabsichtigt, denn mit dieser Schreibweise distanziert sich der Erzähler bewusst von der eigentlichen Bedeutung.
- Der Umstand, dass der Erzähler die Pillen nicht einmal selbst einnimmt, sondern seiner Frau übergibt, deutet einmal mehr darauf hin, dass es sich bei dem Produkt um etwas Unnützes handelt.
- Als Metapher fungiert die Beschreibung „holder Frieden ist in den Salon / Meiner Seele eingezogen“ (V. 25 f.), die besagt, dass nach dem Kauf der Pillen auch der Verfolgungswahn des Ich-Erzählers ein Ende fand.
Schluss
- Thema: Die Wirkung von Werbebotschaften im Alltag und inwiefern wir ihr als Gesellschaft ausgeliefert sind.
- Interpretation: Der Effekt von Werbung besitzt einen weitaus größeren Einfluss auf uns Menschen, als wir es uns bewusst sind. Anhand des Beispiels der „Bettnässer-Pillen“ (V. 22) wird verdeutlicht, dass die Häufigkeit und das Ausmaß einer Werbung nicht mit der Aussagekräftigkeit eines Produkts Hand in Hand geht.
- Im Gegenteil, bei dem vorliegenden Produkt handelt es sich weder um ein effektives Arzneimittel noch um ein Fabrikat, aus welchem der Konsument jeglichen Mehrwert ziehen könnte.
- Dass sich der Erzähler letztendlich dennoch dazu verleiten lässt, die Pillen zu erwerben, weist darauf hin, welchen enormen Druck Werbung beim Adressaten auslösen kann.
- Durch das Ansprechen des Themas Konsum und Werbung wird dem Leser ermöglicht, sich kritischer mit seinem eigenen Umgang mit Konsumgütern auseinanderzusetzen.
- Im Hinblick auf die Allgegenwärtigkeit von Informationen ist zudem auch eine Parallele zu politischen Nachrichten zu ziehen, welche einen ähnlichen Effekt auf das Individuum ausüben können. In diesem Fall beeinflussen uns Berichterstattungen oder Wahlprogramme nicht minder und sollten deshalb ebenso bewusst konsumiert werden wie herkömmliche Werbung.
- Fazit: Dass die erste sowie dritte Strophe im Hinblick auf das Reimschema aus der Form fallen, ist kein Zufall. Der Autor stellt in diesen beiden Strophen die Sicht der Dinge aus der Perspektive des Ich-Erzählers dar. Unterstrichen wird die Subjektivität der dritten Strophe etwa damit, dass der Ich-Erzähler in der direkten Rede spricht. So findet Ringelnatz ein gelungenes Gleichgewicht zwischen deskriptivem sowie subjektivem Erzählstil, wobei Letzterer das Identifikationspotenzial für den Leser erhöht.
- Weiterhin kann das Gedicht auch als Appell an die Nachhaltigkeit verstanden werden, der sich gegen das durch Werbung entfachte Konsumverhalten der Gesellschaft behaupten soll. Dass die Pillen vom Konsumenten selbst nicht verwendet werden, sondern nur des Kaufzwangs wegen erstanden wurden, spricht gegen den Nachhaltigkeitsgedanken.