Aufgabe 1
Thema:
Alev Tekinay (* 1951): Dazwischen
Aufgabenstellung:
Aus: Alev Tekinay: Dazwischen. In: Die Deutschprüfung. Erzählungen.
Frankfurt am Main: Brandes und Apsel 1989.
- Beschreibe diesen Text
- Berücksichtige dabei besonders formale und sprachlich-stilistische Mittel.
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Jeden Tag packe ich den Koffer ein
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und dann wieder aus.
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Morgens, wenn ich aufwache,
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plane ich die Rückkehr,
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aber bis Mittag gewöhne ich mich mehr
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an Deutschland.
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Ich ändere mich
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und bleibe doch gleich
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und weiß nicht mehr,
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wer ich bin.
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Jeden Tag ist das Heimweh
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unwiderstehlicher,
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aber die neue Heimat hält mich fest
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Tag für Tag noch stärker.
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Und jeden Tag fahre ich
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zweitausend Kilometer
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in einem imaginären Zug
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hin und her,
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unentschlossen zwischen
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dem Kleiderschrank
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und dem Koffer,
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und dazwischen ist meine Welt.
Aus: Alev Tekinay: Dazwischen. In: Die Deutschprüfung. Erzählungen.
Frankfurt am Main: Brandes und Apsel 1989.
Einleitung
- Autor: Alev Tekinay
- Titel: Dazwischen
- Erscheinungsjahr: nicht genannt
- Textsorte: Gedicht der Alltagslyrik, spezifisch Fremdheitslyrik
- Quelle: Die Deutschprüfung. Erzählungen. Frankfurt am Main: Brandes und Apsel 1989
- Thema: Identitätssuche, Fremdheit in einer unbekannten Umgebung sowie innere Zerissenheit
- Inhalt: Das Gedicht beschreibt den Umstand eines inneren Zwiespalts. Letzterer äußert sich im Heimweh nach dem Zuhause auf der einen Seite, und gleichzeitig auch darin, in der neuen Heimat ebenso bereits Wurzeln geschlagen zu haben. Die nagende Ungewissheit, nirgendwo richtig dazuzugehören, plagt den Erzähler sichtlich.
Hauptteil
Formale Analyse- Verse: 22 Verse
- Strophen: 5 Strophen mit unterschiedlicher Versanzahl
- Metrum: freie Rhythmen ohne Reimschema
- Erzählstil: Das Gedicht besitzt eine erzählte Form.
- Interpunktionszeichen und Grammatik wird berücksichtigt
- Bereits aus der Überschrift Dazwischen des Gedichts hört man die innere Zerrissenheit zwischen zwei Heimaten heraus.
- Indem der Titel die Hauptaussage des lyrischen Textes in einem Wort zusammenfasst, kann man als Leser bereits vor dem eigentlichen Lesen des Gedichts das Thema des Geschriebenen vermuten.
- Vers 1-2
- Der Erzählfluss des Gedichts wird nicht zuletzt durch das vielseitige Einsetzen von Enjambements erzielt „Koffer ein [...]“ (V. 1 f.).
- Gleichzeitig fungiert das Wort „Koffer“ (V. 1) auch als Metapher für das Reisen, das Unterwegssein und repräsentiert außerdem die Antonyme Fernweh und Heimweh.
- Gegensätzliche Formulierungen wie „ein [...] aus“ (V. 1 f.) versinnbildlichen den inneren Zwiespalt, in welchem sich der Erzähler befindet.
- Bereits zu Beginn des Gedichts wird die Bezeichnung „Jeden Tag“ (V. 1) verwendet. In ihr steckt der Hinweis, dass der Zustand des Erzählers über sich bereits über einige Zeit hinzieht.
- Vers 3-6
- Jeder Tagesanbruch stellt einen Neubeginn dar, welcher gleichzeitig auch ein erneuter Kampf gegen die innere Zerrissenheit bedeutet.
- Insbesondere die Verwendung der zeitlichen Angaben „Morgens“ (V. 3) und „Mittag“ (V. 5) verweisen auf die tägliche Bemühung hin, sich mit dem gegenwärtigen Umstand zurechtzufinden.
- Von den Worten „gewöhne ich mich mehr“ (V. 3) geht eine gewisse Resignation aus, die widerspiegelt, wie sich der Erzähler sukzessive mit seiner Situation abfindet.
- Vers 7-10
- Anhand von Oxymoron wie „Ich ändere mich/und bleibe doch gleich“ (V. 1 f.) wird der innere Zwiespalt, in welchem sich der Erzähler befindet, bestärkt.
- Denkbar ist, dass sich die Erzählerfigur im Gedicht in einer Art Midlife-Crisis befindet, die sich in der Suche nach Zugehörigkeit ausdrückt.
- Die Verwendung von Anaphern („und [...]/und [...]“, V. 8 f.) lässt erahnen, dass das Leben des Erzählers von Monotonie geprägt ist.
- Vers 11-14
- In der vierten Strophe findet ein klimatischer Anstieg des inneren Gefühls der Heimatlosigkeit und Zerrissenheit statt, welches immer „unwiderstehlicher“ (V. 12) wird.
- „Die neue Heimat“ (V. 13) wird personifiziert, sie „hält [den Erzähler] fest“ (V. 13), was einerseits für Stagnation und andererseits für Verbundenheit stehen kann.
- Immer„stärker“ (V. 14) wird das Empfinden der Zerrissenheit für die Erzählfigur.
- Vers 15-22
- Die Allgegenwärtigkeit des Themas Heimat zeigt sich in folgenden Zeilen: „jeden Tag fahre ich zweitausend Kilometer“ (V. 15 f.). Die zweitausend Kilometer deuten auch darauf hin, dass sich der Erzähler weit von seiner ursprünglichen Heimat entfernt befindet.
- Ein „imaginäre[r] Zug“ (V. 17) fungiert als eine Metapher für die Reise, auf welche sich der Erzähler tagtäglich in Gedanken begibt.
- Dass diese Strophe die finale und gleichzeitig längste von allen ist, kann als Verweis auf die Länge der gedanklichen Reise und der damit verbundenen, scheinbar niemals enden wollenden Zerrissenheit verstanden werden.
- Antithetische Ausdrücke wie „hin und her“ (V. 18) betonen zusätzlich den inneren Zwiespalt des Erzählers und damit das Hin-und Hergerissensein zwischen zwei Heimaten.
- Als motivische Symbole lassen sich ein „Kleiderschrank“ (V. 20) und ein „Koffer“ (V. 21) einordnen. Der Erzählende fühlt sich „unentschlossen“ zwischen den beiden Gegenständen, wobei der Kleiderschrank für das Ankommen in der neuen Heimat und der Koffer für das Zurückkehren in die alte Heimat steht.
- Enjambements: Auch ab V. 15 enden die Verse jeweils in Enjambements, wodurch der Lesefluss des langen Satzes erleichtert wird. Einzig der finale Vers grenzt sich von den vorherigen Versen ab, was ihm eine Art Sonderstellung verleiht.
- Der Erzähler nimmt Bezug auf den Titel des Gedichts Dazwischen, indem er den Ausdruck im finalen Satz des Gedichts wieder aufgreift. Für ihn befindet sich seine Realität „dazwischen“ (V. 22), sprich, zwischen der alten und der neuen Heimat.
Schluss
- Thema: Mit ihrem Gedicht lenkt die türkische Schriftstellerin Alev Tekinay die Aufmerksamkeit auf das Thema Heimat und den Umgang mit Entwurzelung.
- Interpretation: Der Zustand der inneren Zerrissenheit kann einerseits durch die unfreiwillige Flucht in ein fremdes Land ausgelöst werden. Von der eigenen Heimat hinfortgerissen ist man genötigt, sich in einem fremden Land eine neue Existenz aufzubauen. Zum anderen ist es möglich, dass der innere Zwiespalt und die damit verbundene Identitätskrise auch ihren Ursprung darin findet, nicht zufrieden im Leben zu sein. Beispielsweise manch einer hat das Gefühl, nicht an dem Punkt im Leben zu sein, an welchem er bereits gerne wäre. Auch dies kann eine innere Unzufriedenheit und Unruhe auslösen.
- Fazit: Jeder Mensch benötigt ein inneres Gefühl der Zugehörigkeit. Dies kann herkunftsunabhängig-oder abhängig sein. Wichtig ist, dass man sich von der jeweiligen Gesellschaft aufgenommen fühlt und im Gegenzug auch die Bereitschaft zeigt, sich zu integrieren. Geschieht dies nicht, so ist es möglich, dass man sich ein Leben lang wie ein Fremder in einem Land fühlt. Es handelt sich beim Thema Heimat also um eine wechselseitige Verantwortung, die sowohl die Gesellschaft als auch jede*r Einzelne trägt.