Aufgabe 3
Textbeschreibung Prosa
Thema: Sybille Berg: Nacht Aufgabenstellung: Untersuche diese Kurzgeschichte und beschreibe dabei folgende Punkte:- die Merkmale der Kurzgeschichte anhand von Textbeispielen
- Ort, Zeit und Atmosphäre
- die äußere und innere Handlung
- Formuliere einen zusammenhängenden, gegliederten Text. Achte auf korrekte Sprache und Rechtschreibung. Beides wird bewertet.
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Sie waren mit Tausenden aus unterschiedlichen Türen in den Abend geschoben. Es
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war eng auf den Straßen, zu viele Menschen müde und sich zu dicht, der Himmel war
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rosa. Die Menschen würden den Himmel ignorieren, den Abend und würden nach
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Hause gehen. Säßen dann auf der Couch, würden Gurken essen und mit einem
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kleinen Schmerz den Himmel ansehen, der vom Rosa ins Hellblaue wechseln würde,
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dann lila, bevor er unterginge. Eine Nacht wie geschaffen, alles hinter sich zu lassen,
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aber wofür? Sie funktionierten in dem, was ihnen Halt schien, die Menschen in der
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Stadt, und Halt kennt keine Pausen, Regeln, keine stille Zeit, in der Unbekanntes
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Raum hätte zu verunsichern mit dummen Fragen.
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Das Mädchen und der Junge gingen nicht nach Hause. Sie waren jung, da hat man
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manchmal noch Mut. Etwas ganz Verrücktes müsste man heute tun, dachten beide
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unabhängig voneinander, doch das ist kein Wunder, denn bei so vielen Menschen auf
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der Welt kann es leicht vorkommen, dass sich Gedanken gleichen. Sie gingen auf
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einen Berg, der die Stadt beschützte. Dort stand ein hoher Aussichtsturm, bis zu den
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Alpen konnte man schauen und konnte ihnen Namen geben, den Alpen. Die hörten
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dann darauf, wenn man sie rief. Die beiden kannten sich nicht, wollten auch
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niemanden kennen in dieser Nacht, stiegen die 400 Stufen zum Aussichtsturm hinauf.
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Saßen an entgegengesetzten Enden, mürrisch zuerst, dass da noch einer war. So sind
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die Menschen, Revierverletzung nennt man das. Doch dann vergaßen sie die Anwesen-
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heit und dachten in die Nacht. Vom Fliegen, vom Weggehen und Niemals-Zurückkom-
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men handelten die Gedanken, und ohne dass es ihnen bewusst gewesen wäre,
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saßen sie bald nebeneinander und sagten die Gedanken laut. Die Gedanken ähnelten
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sich, was nicht verwundert, bei so vielen Menschen auf der Welt, und doch ist es wie
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Schicksal, einen zu treffen, der spricht, was du gerade sagen möchtest. Und die Worte
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wurden weich, in der Nacht, klare Sätze wichen dem süßen Brei, den
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Verliebte aus ihren Mündern lassen, um sich darauf zum Schlafen zu legen. Sie hielten
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sich an der Hand, die ganze Nacht, und wussten nicht, was schöner war. Die
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Geräusche, die der Wind machte, die Tiere, die sangen, oder der Geruch des anderen.
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Dabei ist es so einfach, sagte der Junge, man muss nur ab und zu mal nicht nach
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Hause gehen, sondern in den Wald. Und das Mädchen sagte, wir werden es wieder
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vergessen, das ist das Schlimme. Alles vergisst man, das einem gut tut, und dann
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steigt man wieder in die Straßenbahn, morgens, geht ins Büro, nach Hause, fragt sich,
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wo das Leben bleibt. Und sie saßen immer noch, als der Morgen kam, als die Stadt zu
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atmen begann. Tausende aus ihren Häusern, die Autos geschäftig geputzt, und die
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beiden erkannten, dass es das Ende von ihnen wäre, hinunterzugehen ins Leben. Ich
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wollte, es gäbe nur noch uns, sagte der Junge. Das Mädchen nickte, sie dachte kurz:
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So soll das sein, und im gleichen Moment verschwand die Welt. Nur noch ein Aus-
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sichtsturm, ein Wald, ein paar Berge blieben auf einem kleinen Stern.
Aus: Berg, Sybille: Das Unerfreuliche zuerst. Herrengeschichten. Kiepenhauer & Witsch 2001, Köln.
(50 P)
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- Autor: Sybille Berg
- Titel: Nacht
- Erscheinungsjahr: 2001
- Textsorte: Prosa, Kurzgeschichte
- Thema: Die Kurzgeschichte mit dem Titel Nacht befasst sich mit Fragen nach Zugehörigkeit sowie dem Entfliehen aus der Alltagsroutine hin in eine aufregendere, romantischere Version der Realität, die jedoch unerreichbar und utopisch scheint.
- Quelle: Berg, Sybille: Das Unerfreuliche zuerst. Herrengeschichten. Kiepenhauer & Witsch 2001, Köln.
- Inhalt: Im Einleitungsteil der Kurzgeschichte beschreibt die Autorin ein Menschengewühl in der Abendstimmung. Sybille Berg merkt an, wie monoton und langweilig das Leben eines Durchschnittsmenschen doch im Alltag sein kann. Dann schwenkt sie zu zwei jungen Menschen, die sich erst noch einander fremd sind, jedoch unabhängig voneinander dazu entschließen, dem Treiben unten in der Stadt den Rücken zuzukehren und auf den „Aussichtsturm“ (V. 14) auf einem Berg zu laufen, von wo aus sie auf die entfernten „Alpen“ (V. 15) blicken können. Dort beginnen die beiden ein Gespräch, bei welchem sich herausstellt, dass sie dasselbe Fernweh, denselben Weltschmerz teilen. Die beiden jungen Menschen verlieben sich. Und während der Junge sich vornimmt, von nun an viel öfter hinaus in die Natur zu gehen, vertritt das Mädchen den Standpunkt, die triste Realität des Alltags würde sie beide unweigerlich wieder einholen. Am Ende rückt die Welt um die Frischverliebten herum in den Hintergrund und sie wünschen sich „es gäbe nur noch [sie]“ (Z. 36).
Hauptteil
1. Formale Analyse- Kürzerer Fließtext: 38 Zeilen
- Klassische Gliederung in Einleitung, Haupt- sowie Schlussteil
- Abrupter Anfang: Letzterer ist signifikant für eine Kurzgeschichte. Die Leser*innen tauchen am Anfang der Geschichte direkt ins Geschehen ein, ohne dass sie in Kontext gesetzt werden über die Hintergründe des Geschehens. So beginnt die Kurzgeschichte unvermittelt mit „Sie waren mit Tausenden aus unterschiedlichen Türen in den Abend geschoben.“ (Z. 1).
- Länge: Die Kürze der Geschichte, die sich gerade einmal über 38 Zeilen erstreckt, bildet ein weiteres Merkmal der Textsorte Kurzgeschichte. Sowohl die erzählte Zeit als auch die Erzählzeit ist äußerst knapp. Das Lesen von Nacht dauert nicht länger als ein paar Minuten und auch der Zeitrahmen, in dem das Erzählte spielt, reicht nur vom „Abend“ (Z. 1) über die „Nacht“ (Z. 27) bis zur Morgenröte.
- Überschaubare Anzahl der Hauptfiguren: Anders als in längeren Geschichten ist auch die Menge an Protagonist*innen begrenzt. So kommen in der Handlung nur zwei Hauptfiguren vor, nämlich „das Mädchen und der Junge“ (Z. 10).
- Eine stringente Erzählung: Nachdem einleitend die Feierabendstimmung der Menschenmasse beschrieben wird, münden die Wege des Mädchens und des Jungen auf einen Berg, der sich etwas außerhalb der Stadt befindet. Dort „stiegen sie die 400 Stufen zum Aussichtsturm hinauf“ (Z. 17), wobei dies noch unabhängig voneinander geschieht.
- Schlüsselmoment/Wendepunkt: Obwohl sich die beiden jungen Menschen zu Anfang noch „mürrisch“ (Z. 18) einander gegenüber verhalten, da die jeweils andere Person zum Ziel hatte, die Abgeschiedenheit auf dem Turm zu genießen, teilen sie bald ihre Gedanken, Wünsche und Träume miteinander (Vgl. Z. 19 ff.).
- Offenes und plötzliches Ende: Auch das Ende Bergs Erzählung geschieht ohne Überleitung: Nachdem der Junge sich wünscht, sie seien alleine auf der Welt (Vgl. Z. 36), zoomt die Autorin weg von den beiden Protagonisten und „im gleichen Moment verschwand die Welt“ (Z. 37). Weiterhin bleibt ungewiss, wie die Geschichte der beiden Liebenden weitergeht.
- Einblick in den Alltag: Bei der vorliegenden Handlung handelt es sich um ein sehr lebensnahes Beispiel einer alltäglichen Situation, was typisch für das Textgenre Kurzgeschichte ist.
- Wenig Ortswechsel: Dass sich die Erzählung auf zwei Schauplätzen (Stadt & Aussichtsturm) beschränkt, ist ebenso als Merkmal einer Kurzgeschichte zu verstehen. Nachdem die Autorin die Einleitung im regen Treiben der Stadt beginnt, wechselt sie nur noch einmal den Ort zum Aussichtsturm auf dem nahegelegenen Berg.
- Innere Handlung: Die innere Handlungsebene besteht aus den Empfindungen, Gefühlen und der Stimmung, in welcher sich die Figuren befinden. Ein junger Mann und eine junge Frau spüren beide das Bedürfnis, aus der Monotonie der täglichen Routine zu flüchten und aus dem Alltagstrott auszubrechen. Auf der Suche nach Ruhe, um eine Distanz zwischen sich und gesellschaftlichen Konventionen & Zwängen herzustellen und sich über die eigenen Wünsche und Ziele klar zu werden, treten beide jungen Leute die Besteigung des in der Nähe der Stadt situierten Bergs an. Da sie jedoch wider Erwartens nicht die gewünschte Einsamkeit finden, weil die jeweils andere Person sich auch auf dem Aussichtsturm befindet, sind sie einander zunächst nicht besonders zugetan. Als sie jedoch erfahren, wie ähnlich ihre Bedürfnisse und Träume sind, nähern sie sich einander an und verlieben sich sogar ineinander. Der Wunsch, alles hinter sich zu lassen und fernab gesellschaftlicher Erwartungen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, verbindet die beiden miteinander.
- Äußere Handlung: In einer Stadt, in der die feierabendliche Stimmung inmitten des menschlichen Treibens eingefangen wird, leben zwei junge Menschen, die beide der tristen Alltagsroutine müde sind. Deshalb entscheiden sie sich unabhängig voneinander, die Stadt zu verlassen und die Abgeschiedenheit auf einem Aussichtsturm zu suchen, der sich unweit von der Stadt befindet. Dort angekommen müssen sie jedoch feststellen, dass die jeweils andere Person dieselbe Idee hatte. Zunächst wenig angetan von der Gegenwart des jeweiligen Gegenübers, beginnen sie ein Gespräch miteinander. Über eines sind sie sich beide einig: Sie wollen dem Leben, wie sie es gerade in der Stadt führen, den Rücken zukehren. Auf welche Art und Weise diese Sehnsucht erfüllt wird, führt die Autorin jedoch nicht weiter aus.
- Die Lokalität in der Kurzgeschichte wechselt wie bereits erwähnt nur einmal. Damit beschränken sich die Orte auf die Innenstadt im Tal und den Aussichtsturm auf einem nahe gelegenen Berg. Damit werden auch die beiden Gegensätze Stadt und Natur einander gegenübergestellt, wobei die Stadt für Anonymität, Hektik & Monotonie steht und die Natur für Ruhe, Abenteuer & Lebensfreude.
- Die Zeitspanne in Nacht reicht von der Abenddämmerung, die noch eingangs in der Stadt beschrieben wird, über die Nacht, welche die beiden Protagonist*innen auf dem Turm verbringen, bis in die frühen Morgenstunden.
- Die Stimmung ändert sich im Laufe der Handlung. Anfangs wird die Atmosphäre als angespannt und unruhig geschildert, was an Formulierungen wie der Enge des Menschengetümmels (Vgl. Z. 2) oder der Müdigkeit der Menschen (Vgl. Z. 2) festzumachen ist. Auch scheinen die Stadtbewohner nicht die Schönheit der Natur zu bemerken und haben keinen Blick & keine Zeit für alles, was über ihren monotonen Alltag hinausgeht oder was sie zum Nachdenken bringen könnte. Sobald das Geschehen jedoch die Stadt verlässt und auf den Berg schwenkt, wandelt sich die Stimmung abrupt. Tristheit, Hektik & Beklemmung weichen einem Flair, das von Fernweh, Weltschmerz, Neugierde, Reflexionsfähigkeit, Melancholie, Abenteuer, Nähe, Verliebtheit & Verträumtheit geprägt ist. Doch auch die Sorge, dem Alltag nicht ohne Weiteres entfliehen zu können und wieder zur Routine zurückkehren zu müssen, schwingt mit.
Fazit
- Mit ihrer Kurzgeschichte Nacht, die sie offen enden lässt, plädiert Sybille Berg an den Optimismus der Menschen in Zeiten scheinbar unausweichlicher Alltagsroutine. Auch arbeitet Berg heraus, welche Bedeutung der Rolle Gleichgesinnter zufällt. Indem man sich nicht alleine mit den eigenen Sorgen und Wünschen fühlt, wächst auch der Mut, etwas zu verändern.
- Die Kurzgeschichte verdeutlicht auch den inneren Zwiespalt des Alltags, in welchem von einem erwartet wird, dass man im gesellschaftlichen Rahmen funktioniert und den Träumen, der Selbstverwirklichung & den Zielen eines jeden Individuums, die weniger materieller, sondern ideeller Natur sind. Die Autorin zeigt mit ihrer Kurzgeschichte auf, dass beide Aspekte wichtig sind und zum Leben dazugehören.
- Meiner Meinung nach sollte ein Mensch auch als Individuum Selbstwert empfinden, um ein wertvoller Teil einer ganzen Gesellschaft zu sein. Dies bedeutet, dass es wichtig ist, sich mit den eigenen Bedürfnissen, Träumen und Zielen auseinanderzusetzen, anstatt immer nur für und in der breiten Masse zu funktionieren. Das Gefühl, einen Mangel an Sinn und Zugehörigkeit im Leben zu besitzen und ein Mangel an Selbstreflexion sin oftmals die Gründe, die zur Unzufriedenheit und Unausgeglichenheit bei Menschen führt.
- Je mehr sich jemand mit sich selbst beschäftigt und dennoch nicht seine Rolle im großen Ganzen vergisst, desto glücklicher ist diese Person meines Erachtens. Sybille Berg erfüllt mit ihrer Kurzgeschichte in meinen Augen einen Bildungsauftrag, da sie ihre Leser*innen dazu bringt, das eigene Leben und eigene Handlungen zu überdenken, zu reflektieren und möglicherweise neu zu definieren.