Aufgabe 3
Textinterpretation
Thema:- Interpretiere die Kurzgeschichte
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Spiegel sind keine Freunde, geht es ihr bei einem Blick in den großen Schlafzim-
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merspiegel durch den Kopf. Sie zeigen unbarmherzig, was so alles in dunklen
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Wintermonaten auf den Rippen und Hüften angedockt hat.
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Aus Angst, der diesjährigen figurbetonten Frühjahrsmode entsagen zu müssen,
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begibt sie sich daher in die teuren Hände eines Mannes, der mit dem Skalpell zu
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modellieren versteht und dabei Überflüssiges der Entsorgung preisgibt.
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So neu erfunden, verlässt sie nach einigen Wochen den Tempel der Schönheit.
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Dabei zwinkert sie dem Spiegel im Fahrstuhl triumphierend zu. Aber beim zweiten
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Blick offenbart die verspiegelte Zelle, dass das neue, hauteng geschnittene Outfit
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wie ein nasser Sack an ihrem Körper hängt, und während sie eilig dem Ausgang
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zustrebt, stolpert sie bereits über ihren Rocksaum und rutscht aus dem teuren
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Ensemble. Sie wird immer kleiner und zarter, bis ein edler Stoffberg sie unter sich
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begräbt. Mit letzter Kraft hebt sie den kleinen, mit blonden Locken herausgeputz-
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ten Kopf und streckt die starren, winzigen Ärmchen dem Licht entgegen. Als sie
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mit dünnem Stimmchen versucht, um Hilfe zu rufen, grabschen Kinderhände nach
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ihr und stopfen sie in eine Tasche.
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Den Rest ihres Lebens verbringt sie in einem Holzregal, ästhetisch schön und
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immer modisch gekleidet.
Aus: Uckert, Ulla: Wer schön sein will. In: Ansorge, Ingrid (Hrsg.): kein Wort zu viel. 35 Kürzestgeschichten. Books on Demand, Norderstedt 2017, S. 31 f.
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- Die Kurzgeschichte Wer schön sein will von Ulla Uckert, erschienen 2017 in einem Sammelband mit Kürzestgeschichten, thematisiert den gesellschaftlichen Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen.
- Die Protagonistin der Geschichte lässt sich aus Angst vor modischen Körperidealen einer plastischen Operation unterziehen, um sich selbst und ihrer Umwelt zu gefallen.
- Uckerts Geschichte greift auf subtile Weise die Gefahren auf, die mit einer übermäßigen Fixierung auf äußeres Erscheinungsbild verbunden sind, und thematisiert die Entfremdung, die daraus entstehen kann.
Hauptteil
Formale Analyse
- Die Kurzgeschichte Wer schön sein will von Ulla Uckert ist typisch für das Genre der Kurzgeschichte: Sie ist knapp und prägnant, verzichtet auf ausführliche Einleitungen und führt direkt in die Handlung ein. Der Einstieg in die Gedankenwelt der Protagonistin („Spiegel sind keine Freunde“, Z. 1) ist unvermittelt und lässt die Leserschaft sofort in die Situation eintauchen, was ein typisches Merkmal für Kurzgeschichten ist. Es gibt keine Vorgeschichte oder detaillierte Beschreibungen der Figur, was den Fokus auf das zentrale Thema – den Druck durch Schönheitsideale – verstärkt.
- Der Erzähler bleibt auktorial und distanziert, was sich besonders in der neutralen Darstellung des Geschehens zeigt, auch als die surreale Verwandlung der Frau in eine Puppe eintritt. Der auktoriale Erzähler ermöglicht es, die Gedanken und Gefühle der Protagonistin darzustellen („geht es ihr bei einem Blick in den großen Schlafzimmerspiegel durch den Kopf“, Z. 1 f.), kommentiert das Geschehen jedoch nicht, was Raum für verschiedene Interpretationen lässt. Die Erzählperspektive verstärkt den Eindruck, dass die Protagonistin Opfer äußerer Einflüsse ist, da der Erzähler ihre Handlungen und Gefühle ohne wertende Reflexion beschreibt.
- Die Sprache ist schlicht und klar, aber gleichzeitig durch den gezielten Einsatz von stilistischen Mitteln sehr ausdrucksstark. Ein auffälliges Stilmittel ist die Personifikation des Spiegels, der „unbarmherzig“ (Z. 2) ist. Diese Personifikation betont die feindliche Beziehung, die die Frau zu ihrem eigenen Körperbild entwickelt hat. Der Spiegel symbolisiert so das kritische Selbstbild und die gesellschaftlichen Schönheitsideale, die sie antreiben und zugleich bedrängen. Der Spiegel verstärkt die inneren Konflikte und den Druck der Frau, indem er ihr ungefiltert das Bild zeigt, das sie zu verbergen oder zu verändern versucht.
- Die Metaphern und Vergleiche in der Geschichte tragen wesentlich zur Atmosphäre und Interpretation bei. So wird die Gewichtszunahme in den Wintermonaten als „angedockt“ (Z. 3) beschrieben, was die unkontrollierte und unerwünschte Natur dieser Veränderung verdeutlicht. Das Ergebnis der Schönheitsoperation, das hautenge Outfit, hängt plötzlich „wie ein nasser Sack“ (Z. 10) an ihrem Körper – dieser Vergleich drückt die Diskrepanz zwischen den Erwartungen an das neue Erscheinungsbild und der tatsächlichen Wirkung aus. Die Metapher der „verspiegelte[n] Zelle“ (Z. 9) für den Aufzug und die Beschreibung der Kleidung als „nasser Sack“ (Z. 10) veranschaulichen den plötzlichen Wechsel von Selbstzufriedenheit zu Verzweiflung.
- Ein weiteres zentrales Stilmittel ist die Ironie, die vor allem im letzten Satz deutlich wird, als die Protagonistin ihr restliches Leben „ästhetisch schön und immer modisch gekleidet“ (Z. 17 f.) verbringt. Diese Beschreibung steht im starken Gegensatz zu der vorherigen Verwandlung in eine leblose Puppe, was den satirischen Unterton der Geschichte unterstreicht. Uckert verwendet diese Ironie, um die Oberflächlichkeit der Schönheitsideale zu kritisieren.
- Ein besonders eindrucksvolles Stilmittel ist der Diminutiv in der Beschreibung der schrumpfenden Frau. Begriffe wie „Ärmchen“ (Z. 14) und „Stimmchen“ (Z. 15) unterstreichen ihre zunehmende Bedeutungslosigkeit und Hilflosigkeit, nachdem sie sich vollständig den äußeren Erwartungen unterworfen hat. Sie wird auf eine Puppe reduziert, die ihrer Freiheit und Individualität beraubt ist.
- Schließlich wird in der Geschichte auch mit Symbolen gearbeitet. Der Spiegel symbolisiert die Selbstwahrnehmung und die Bewertung durch äußere Maßstäbe. Der Moment, in dem die Frau nach der Operation „triumphierend“ (Z. 8) in den Fahrstuhlspiegel blickt, steht für ihre vorübergehende Genugtuung. Doch dieser Triumph ist nur von kurzer Dauer, als sich ihr „Spiegelbild“ (ihr Selbstbild) vollständig auflöst und sie als Puppe endet.
Inhaltliche Analyse
- Die Kurzgeschichte beginnt mit einem direkten Einstieg in die Gedankenwelt der Protagonistin. Sie betrachtet sich im Spiegel und empfindet sofort eine tiefe Unzufriedenheit mit ihrem Aussehen. Die Personifikation „Spiegel sind keine Freunde“ (Z. 1) verdeutlicht, dass die Frau ihren Körper streng beurteilt.
- Der Spiegel wird nicht als neutraler Beobachter, sondern als Kritiker dargestellt. Ihre Gewichtszunahme in den „dunklen Wintermonaten“ (Z. 2) wird als etwas beschrieben, das sich auf ihren Körper „angedockt“ (Z. 3) hat, was auf eine entfremdete Wahrnehmung ihres eigenen Körpers hinweist. Sie erlebt sich nicht als aktiv Gestaltende, sondern als Opfer äußerer Einflüsse.
- Im zweiten Abschnitt wird beschrieben, wie die Protagonistin aus Angst, den modischen Erwartungen nicht zu genügen, den Schritt zu einer Schönheitsoperation wagt. Die Alliteration „figurbetonte Frühjahrsmode“ (Z. 4) betont den Einfluss von Mode auf das Selbstbild der Frau. Ihre Unsicherheit und Angst vor gesellschaftlichen Erwartungen führen dazu, dass sie sich „in die teuren Hände“ (Z. 5) eines Schönheitschirurgen begibt.
- Der Eingriff wird durch das Wort „modellieren“ (Z. 6) beschrieben, was andeutet, dass der Körper der Frau wie ein formbarer Gegenstand behandelt wird. Auch der Begriff „Entsorgung“ (Z. 6) für das Entfernen von überschüssigem Körperfett entmenschlicht den Prozess, indem er die Frau auf etwas reduziert, das bearbeitet und angepasst werden kann. Nach der Operation fühlt sie sich „neu erfunden“ (Z. 7), als hätte der Eingriff ihr Leben transformiert, und sie verlässt „triumphierend“ (Z. 8) die Schönheitsklinik.
- Die Geschichte nimmt eine dramatische Wendung, als die Frau beim erneuten Blick in den Spiegel erkennt, dass das „hauteng geschnittene Outfit“ (Z. 9) nun wie ein „nasser Sack“ (Z. 10) an ihrem Körper hängt. Im Verlauf des Geschehens schrumpft sie physisch immer mehr. Das Bild eines „edle[n] Stoffberg[s]“ (Z. 12), der sie „unter sich begräbt“ (Z. 12 f.), verstärkt die Idee, dass sie von ihrer eigenen Eitelkeit und den modischen Ansprüchen erdrückt wird.
- Sie wird schließlich zu einer Puppe, klein, unbeweglich und ohne eigene Lebendigkeit („starren, winzigen Ärmchen“, Z. 14). Kinderhände „grabschen“ (Z. 15) nach ihr und stecken sie in eine Tasche, was den völligen Kontrollverlust über ihr Leben symbolisiert.
- Im letzten Abschnitt wird das Schicksal der Frau besiegelt. Sie verbringt „den Rest ihres Lebens“ (Z. 17) als eine Puppe in einem Regal, „ästhetisch schön und immer modisch gekleidet“ (Z. 17 f.). Dieser Satz bringt die Tragik der Geschichte auf den Punkt: Sie ist äußerlich perfekt, aber innerlich leer und zu einem Objekt degradiert worden.
- Die Kurzgeschichte Wer schön sein will thematisiert auf eindrucksvolle Weise die destruktiven Auswirkungen des gesellschaftlichen Schönheitsdrucks. Die Protagonistin wird dazu getrieben, ihre eigene Identität und Lebendigkeit aufzugeben, um einem perfekten Bild zu entsprechen.
- Ihr Weg führt über eine Schönheitsoperation, die zunächst Befriedigung verschafft, aber letztlich zu einem völligen Verlust ihrer Persönlichkeit und Menschlichkeit führt. Die Verwandlung in eine Puppe ist eine kraftvolle Metapher für die Entmenschlichung, die durch die Fixierung auf Äußerlichkeiten entstehen kann.
- Die Geschichte kritisiert die Oberflächlichkeit unserer Gesellschaft, die Menschen aufgrund ihres Äußeren bewertet und formt. Die Protagonistin verliert durch ihre Fixierung auf äußere Perfektion ihre Individualität und ihre Fähigkeit, als autonomes Wesen zu agieren. Uckert zeigt, dass der Versuch, sich an unrealistische Schönheitsnormen anzupassen, letztlich zu einem Verlust der Selbstbestimmung und der inneren Freiheit führen kann. Die Geschichte spricht damit eine allgemeine Warnung aus: Wer sich zu sehr von äußeren Schönheitsidealen beherrschen lässt, riskiert, seine wahre Identität zu verlieren.
Schluss
- Ulla Uckerts Kurzgeschichte Wer schön sein will zeigt auf eindrucksvolle Weise die Gefahren der Fixierung auf Schönheitsideale und die damit verbundene Entfremdung von sich selbst.
- Die Protagonistin, die nach äußerlicher Perfektion strebt, verliert im Prozess nicht nur ihre Individualität, sondern wird letztlich zu einem Objekt, das nur noch als ästhetischer Gegenstand existiert. Die surreale Verwandlung in eine Puppe stellt auf drastische Weise dar, was passiert, wenn äußere Ideale über das eigene Selbstwertgefühl triumphieren.
- Uckerts Leser*innen werden dazu aufgefordert, die Bedeutung von Individualität und inneren Werten zu erkennen und sich dem gesellschaftlichen Druck, einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen zu müssen, zu widersetzen.