Aufgabe 4
Textinterpretation
Thema:- Interpretiere den Text.
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Mir ist alles so egal, ich fühle mich gut.
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Der Regen macht mir nichts aus, meine Stiefel sind durchweicht, die Bahn kommt nicht. Neben
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mir hält ein Mercedes: „Engelchen, ich fahre dich nach Hause."
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Ich hab keine Angst, setze mich einfach neben eine alte Frau, fühle mich sicher, mir kann nichts
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passieren! In der Bahn stehe ich eingequetscht zwischen naßstinkenden Persianermänteln und
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grauen Anzugmännern. Die Bahn bremst, eine dicke Frau fällt gegen mich, drückt mich an die
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Fensterscheibe. Die Leute fluchen, beschimpfen den Fahrer. Ich lache.
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Beim Aussteigen drängt jeder den anderen, ich lasse mich treiben, bin glücklich, denke nur an
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dich!
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An der Ampel merke ich, daß ich zu laut singe. Eine Mutter mit Kinderwagen lacht mich an,
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eine aufgetakelte Blondine mustert mich von oben bis unten. Ich weiß, ich bin klitschnaß, meine
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weiße Hose ist nach 5 Tagen eher dunkelgrau, doch ich weiß, daß sie dir gefällt. Meine Haare
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hängen naß und strähnig auf meiner Schulter. Du hast gesagt, du hast dich schon am ersten Tag
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in mich verliebt, und da hatte ich auch nasse Haare.
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Ich laufe schnell über die Straße, leiste mir eine Packung Filterzigaretten, kaufe welche, die mir
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zu leicht sind, die du am liebsten magst.
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Ein grelles Quietschen. Ein wütender Autofahrer brüllt, ob ich Tomaten auf den Augen hätte.
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Ich lache und beruhige ihn mit einem „kommt nicht noch mal vor". An einem Schaufenster
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bleibe ich trotzdem stehen, zupfe an meinen Haaren herum, ziehe die Hose über meine Stiefel,
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will dir ja gefallen. Ich will dir ja sogar sehr gefallen!
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Auf der Apothekenuhr ist es fünf. Ich laufe quer über die nasse Wiese. Schliddere mehr, als daß
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ich laufe. Aber ich will dich nicht warten lassen, ich kann das auch nicht. Ich werde dann von
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Minute zu Minute nervöser, also laufe ich. Bevor ich schelle, atme ich erst noch ein paarmal
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tief durch, dann klingel ich, fünfmal hast du gesagt. Und meine Freude, dich zu sehen, ist
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endgültig Sieger über meine Angst.
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Erst dann bemerke ich den kleinen zusammengefalteten Zettel an der Wand. Ja, es tut dir leid,
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wirklich leid, daß du Vera wiedergetroffen hast! Ich soll es mir gutgehen lassen. Richtig
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gutgehen lassen soll ich es mir! Die brennende Zigarette hinterläßt Wunden auf meiner Hand.
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Das Rattern der vorbeifahrenden Laster, das Kindergeschrei, Hundegebell und das laut
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aufgedrehte Radio von gegenüber verschwimmen zu einem nervtötenden, Angst einjagenden
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Einheitsgeräusch, meine Augen nehmen nur noch die gröbsten Umrisse wahr. Wie eine alte
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Frau gehe ich den endlos langen Weg zur Haltestelle, meine Füße sind naß und kalt in den
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durchweichten Stiefeln. Ein glatzköpfiger Mann pfeift hinter mir her, bietet mir sein Zimmer
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und sich an.
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Verschüchtert stehe ich in der Ecke neben dem Fahrplan, mein Gesicht spiegelt sich in der
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Scheibe. Wann kommt endlich diese elende Straßenbahn?
Anmerkungen zur Autorin:
Tanja Zimmermann (* 1966): slowenisch-deutsche Kunsthistorikerin, Literaturwissenschaftlerin und Slawistin Aus: Zimmermann, Tanja: Sommerschnee. In: Bolte, Marie, u. a. (Hrsg.): Total verknallt. Ein Liebeslesebuch. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 121-122.
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- Die Kurzgeschichte Sommerschnee wurde von der Autorin Tanja Zimmermann geschrieben und im Jahr 1984 als Teil des Liebeslesebuchs Total verknallt veröffentlicht. Der Text wird aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin präsentiert.
- Zimmermann kontrastiert am Beispiel ihrer Protagonistin die Ambivalenz der Wahrnehmung zwischen Verliebtsein und Liebeskummer sowie den Umgang mit dem Wechsel von Phasen der übertriebenen Euphorie zu Phasen tiefster Traurigkeit.
- Die Beschreibung der Außenwelt dient dabei als Spiegel der Innenwelt der Protagonistin, in die Zimmermanns Leserschaft einen unmittelbaren Einblick erhält.
Hauptteil
Formale Analyse
- Typisch für die Gattung der Kurzgeschichte als epische Prosaform sind die knappe Länge des Textes, die alltägliche, leicht verständliche Sprache, der einfache Satzbau sowie der Verzicht auf jegliche Fremdwörter. Charakteristisch ist ebenfalls die chronologische Handlungsabfolge, die einen unerwarteten Wendepunkt nimmt. Die Kurzgeschichte besitzt einen offenen Anfang sowie ein offenes Ende.
- Die persönliche Erzählweise in monologhafter Form bewirkt, dass der Leser die Gefühlslage der Ich-Erzählerin augenblicklich miterleben und bestenfalls auch nachempfinden kann.
- Die auftauchenden Zahlen und Zeiten (z. B. „Auf der Apothekenuhr ist es fünf.“, Z. 21; „von Minute zu Minute“, Z. 22 f.), insbesondere durch den leitmotivischen Charakter der Zahl fünf (Vgl. Z. 12, 21, 24), geben der Kurzgeschichte ihre notwendige Struktur, sorgen jedoch auch für Dynamik und verdeutlichen die Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit der Protagonistin im ersten Sinnabschnitt. Die Zahl Fünf ist als sogenannte Lebenszahl bekannt und steht im Zusammenhang mit Begriffen, die zur Protagonistin und ihrer Situation passen könnten: Transformation, Veränderung und Freiheit.
- Am Ende der Geschichte kommt es auffälligerweise zu einer Ausdehnung der Zeit (z. B. „endlos langen Weg“, Z. 32), die mit der wahrgenommenen Schwere im zweiten Sinnabschnitt korrespondiert und im Gegensatz zur vorherigen Leichtigkeit steht.
- Das Einsetzen von Akkumulationen (z. B. „Das Rattern der vorbeifahrenden Laster, das Kindergeschrei, Hundegebell“, Z. 29) verstärkt die Detailliertheit der Sprache innerhalb der Kurzgeschichte.
- Zimmermann verwendet außerdem hin und wieder Wiederholungen (z. B. „gutgehen lassen“, Z. 27 und 28), die die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der Gedanken und Stimmungen verstärken.
- Mit der sogenannten Correctio, bei der die Erzählerin selbst ihre Aussagen noch einmal korrigiert („Ich laufe quer über die nasse Wiese. Schliddere mehr, als daß ich laufe“, Z. 21-22), sorgt die Autorin immer wieder für Unmittelbarkeit der Erzählung.
- Die verwendete Personifikation „Und meine Freude, dich zu sehen, ist endgültig Sieger über meine Angst.“ (Z. 24 f.) unterstreicht die unermessliche Vorfreude der Protagonistin am Anfang des Textes. Was mit der „Angst“ (Z. 25), von der sie hier spricht und die sie an dieser Stelle überwinden kann, gemeint ist, bleibt jedoch ungewiss. Weist die „Angst“ (Z. 25) bereits hier auf etwaige Unstimmigkeiten zwischen den beiden Liebenden hin?
- Die rhetorische Frage „Wann kommt endlich diese elende Straßenbahn?“ (Z. 36) veranschaulicht die bedauernswerte und tragische Situation, in der sich die Protagonistin am Ende der Kurzgeschichte befindet und erregt Mitleid beim Rezipienten.
- Der Vergleich (z. B. „Wie eine alte Frau“, Z. 31 f.) verdeutlicht, dass die Protagonistin plötzlich nicht mehr dynamisch und agil wirkt sowie von junger Leichtigkeit erfüllt ist, sondern ihren Weg nach Hause nur noch langsam auf sich nehmen kann.
- Die Autorin beschreibt die Wahrnehmung der Ich-Erzählerin durchgehend antithetisch (z. B. „durchweichte Stiefel“, Z. 33), um die Ambivalenz der beiden Gefühlslagen zu betonen.
- Für mehr Bildhaftigkeit der Empfindungen sorgen Synästhesien wie „naßstinkende Persianermäntel“ (Z. 5.
- Symbol: Die „Wunden auf [ihrer] Hand“ (Z. 28), die durch die brennende Zigarette verursacht werden, stehen zusätzlich symbolisch für die seelischen Wunden der Protagonistin.
- Des Weiteren arbeitet die Autorin mit Farbsymbolik. Die Hose der Ich-Erzählerin war zum Zeitpunkt des Verliebens weiß, ist inzwischen aber dunkelgrau (Vgl. Z. 12). Dies spiegelt das Verblassen der Gefühle ihres Liebsten zu ihr wieder.
Inhaltliche Analyse
- Die Kurzgeschichte beginnt in medias res, d. h. sie setzt relativ unmittelbar ein. Informationen über den Ort und die Zeit sowie anwesende Personen erhält der Leser erst im Laufe des Textes. An einem regnerischen Tag gegen fünf Uhr (Vgl. Z. 21) befindet sich die Ich-Erzählerin und Protagonistin des Textes auf dem Weg zu ihrem Geliebten. Unterwegs überquert sie die Straßen einer Großstadt, befindet sich in der Straßenbahn und wartet an der Ampel. Direkt zu Beginn der Kurzgeschichte verleiht die Protagonistin ihrem offensichtlich positiven Gemütszustand Ausdruck: „Mir ist alles so egal, ich fühle mich gut.“ (Z. 1)
- Sie ist von Euphorie und Verliebtheit erfüllt. Sowohl das schlechte Wetter (Vgl. Z. 2) als auch die schlechte Laune der Menschen in der Bahn (Vgl. Z. 7) ändern nichts an ihrer glücklichen und optimistischen Stimmung. Das Menschengedränge bringt sie nicht aus der Ruhe (Vgl. Z. 8) und die Blicke der Leute geben ihr keinen Anlass, sich aufzuregen. Stattdessen reagiert sie gleichgültig, selbstbewusst (Vgl. Z. 10 f., Z. 17 f.) und fühlt sich „sicher“ (Z. 4).
- Sie denkt auf dem Weg ununterbrochen an ihren Geliebten (Vgl. Z. 8f.) und ist voller Vorfreude auf das gemeinsame Treffen. Die Dynamik nimmt kontinuierlich zu, was daran erkennbar wird, dass die Protagonistin immer schneller und „von Minute zu Minute nervöser“ (Z. 23) wird, je näher sie der Wohnung ihres Geliebten kommt. Sie möchte ihn keinesfalls warten lassen (Vgl. 22). Ihr Freund scheint ihr sehr viel, beinahe alles zu bedeuten. Sie möchte ihm optisch gefallen (Vgl. Z. 18 ff.) und kauft sogar Zigaretten, die sie gar nicht mag (Vgl. Z. 15f.). Doch nicht nur ihre Kleidung und Vorlieben, sondern ihre gesamten Emotionen macht sie von ihrem Geliebten abhängig.
- Mögliche Ängste kann sie abwehren (Vgl. Z. 24 f.), erscheint dadurch jedoch auch in gewisser Weise naiv. Das Ignorieren der Angst und ihre Naivität korrespondieren mit ihrem unbeschwerten und verliebten Zustand.
- Ihre Stimmung ändert sich jedoch schlagartig im zweiten Sinnabschnitt der Handlung, als sie an der Haustür ihres Freundes auf einen Zettel mit einer Botschaft stößt. Es ist ein kleiner Abschiedsbrief von ihrem Freund. Als sie liest, dass ihr Freund die Beziehung mit ihr beendet hat und zu seiner früheren Freundin Vera zurückgekehrt ist, schießen ihr direkt Tränen in die Augen (Vgl. Z. 26-31). Diese Stelle markiert den Wendepunkt der Kurzgeschichte. Die plötzliche, traurige Nachricht kommt für sie unerwartet, weil sie zuvor durchgehend mit Freude erfüllt war.
- Die Protagonistin zeigt am Ende sogar selbstzerstörerische Tendenzen auf: „Die brennende Zigarette hinterläßt Wunden auf meiner Hand.“ (Z. 28)
- Ihr einst euphorischer Gemütszustand schlägt in tiefe Traurigkeit und Verzweiflung um. Die Protagonistin fühlt sich verletzt, ist unglücklich und wütend, womöglich aber auch enttäuscht über die Feigheit und verächtliche Botschaft ihres Geliebten (Vgl. 26 ff.). Auch nach ihrem Stimmungswechsel wird anhand der Wahrnehmung ihrer Umgebung deutlich, dass diese ihre Traurigkeit widerspiegelt. Plötzlich ist sie von ihren durchnässten Schuhen genervt (Vgl. Z. 32 f.) und nimmt den „glatzköpfige[n] Mann“ (Z. 33), der ihr begegnet, als störend wahr. Die Welt registriert sie nur noch unscharf (Vgl. Z. 31) und sie kommt ihr nicht mehr leicht, sondern traurig, kalt und schwer vor. Dieses Gefühl dehnt sich zeitlich aus und erscheint unaufhörlich. Die Protagonistin fühlt sich wie eine „alte Frau“ (Z. 31 f.), deren Weg zur Bushaltestelle sich ewig lang zieht (Vgl. Z. 32). Ihre jugendliche Unbeschwertheit und Gelassenheit gehören der Vergangenheit an. Sogar ihre zuvor abgewehrte Angst setzt sich in Form eines „Angst einjagenden Einheitsgeräusch[s]“ (Z. 30 f.) wieder durch.
- Von ihrer selbstbewussten, starken Art ist nichts mehr zu spüren. Sie zieht sich in eine Ecke zurück, fühlt sich schüchtern, klein und unbedeutend (Vgl. Z. 35). Sie möchte nur noch aus dieser Situation herauskommen und fragt sich verzweifelt: „Wann kommt endlich die Straßenbahn?“ (Z. 36) Daraufhin schließt die Kurzgeschichte mit einem offenen Ende ab.
- Der Leser wird mit einer Protagonistin konfrontiert, über die keine Hintergrundinformationen wie Name oder Alter bekannt sind. Diese Entpersonalisierung hinterlässt einen allgemeingültigen Charakter und hilft dem Leser so, sich besser in ihre Lage hineinzuversetzen.
- Metaphorische Überschrift „Sommerschnee“: Für die Protagonistin fühlt es sich so an, als würde im Sommer Schnee fallen. Die lebensfrohe, schöne Welt vom Anfang nimmt sie nun als kalt und trist wahr. Der unbeschwerte, leichte und beinahe trance- bzw. traumähnliche Zustand verwandelt sich in eine traurige, ungeschönte Realität. Außerdem verdeutlicht die paradoxe Bezeichnung „Sommerschnee“ (Oxymoron) das Gefühlschaos und die ambivalente Stimmung der Protagonistin zwischen sommerlicher Leichtigkeit und einsamem Winter.
Schluss
- Zusammenfassend festzuhalten ist, dass die subjektive Wahrnehmung der realen Welt durch persönliche Eindrücke und Befindlichkeiten, frühere Bilder oder Erfahrungen der Protagonistin stark beeinflusst wird. Die Kurzgeschichte hält, was sie mittels ihrer Überschrift Sommerschnee, verspricht. Sie thematisiert die widersprüchlichen Gefühlen einer verliebten Person.
- Die rhetorische Frage leitet das offene Ende der Kurzgeschichte ein. Der Leser weiß nicht, wie es mit der Protagonistin weitergeht und wird damit konfrontiert, sich eigene Gedanken über das Ende der Geschichte zu machen.
- Die Ursache für die tiefe Traurigkeit der Protagonistin könnte die emotionale Abhängigkeit sein, die sie zu ihrem Geliebten verspürt. Die Stabilität und Sicherheit bricht mit dem plötzlichen Abschiedsbrief völlig weg. Das Resultat eröffnet sich am Ende der Kurzgeschichte. Die Protagonistin versinkt regelrecht in Trauer und Einsamkeit.
- Es wäre möglich, dass ihre Selbstaufgabe und die verunsicherte Selbstwahrnehmung letztlich der Grund waren, warum die Beziehung gescheitert ist. Dies wird auch dadurch nahe gelegt, dass die Ex- und nun wieder Freundin ihres Geliebten, anders als die Erzählerin, einen Namen hat (Vgl. Z. 27).