Aufgabe 4

Textinterpretation

Thema:
Tanja Zimmermann (* 1966): Sommerschnee
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Text.
Material
Sommerschnee
Tanja Zimmermann
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Mir ist alles so egal, ich fühle mich gut.
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Der Regen macht mir nichts aus, meine Stiefel sind durchweicht, die Bahn kommt nicht. Neben
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mir hält ein Mercedes: „Engelchen, ich fahre dich nach Hause."
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Ich hab keine Angst, setze mich einfach neben eine alte Frau, fühle mich sicher, mir kann nichts
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passieren! In der Bahn stehe ich eingequetscht zwischen naßstinkenden Persianermänteln und
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grauen Anzugmännern. Die Bahn bremst, eine dicke Frau fällt gegen mich, drückt mich an die
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Fensterscheibe. Die Leute fluchen, beschimpfen den Fahrer. Ich lache.
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Beim Aussteigen drängt jeder den anderen, ich lasse mich treiben, bin glücklich, denke nur an
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dich!
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An der Ampel merke ich, daß ich zu laut singe. Eine Mutter mit Kinderwagen lacht mich an,
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eine aufgetakelte Blondine mustert mich von oben bis unten. Ich weiß, ich bin klitschnaß, meine
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weiße Hose ist nach 5 Tagen eher dunkelgrau, doch ich weiß, daß sie dir gefällt. Meine Haare
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hängen naß und strähnig auf meiner Schulter. Du hast gesagt, du hast dich schon am ersten Tag
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in mich verliebt, und da hatte ich auch nasse Haare.
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Ich laufe schnell über die Straße, leiste mir eine Packung Filterzigaretten, kaufe welche, die mir
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zu leicht sind, die du am liebsten magst.
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Ein grelles Quietschen. Ein wütender Autofahrer brüllt, ob ich Tomaten auf den Augen hätte.
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Ich lache und beruhige ihn mit einem „kommt nicht noch mal vor". An einem Schaufenster
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bleibe ich trotzdem stehen, zupfe an meinen Haaren herum, ziehe die Hose über meine Stiefel,
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will dir ja gefallen. Ich will dir ja sogar sehr gefallen!
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Auf der Apothekenuhr ist es fünf. Ich laufe quer über die nasse Wiese. Schliddere mehr, als daß
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ich laufe. Aber ich will dich nicht warten lassen, ich kann das auch nicht. Ich werde dann von
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Minute zu Minute nervöser, also laufe ich. Bevor ich schelle, atme ich erst noch ein paarmal
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tief durch, dann klingel ich, fünfmal hast du gesagt. Und meine Freude, dich zu sehen, ist
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endgültig Sieger über meine Angst.
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Erst dann bemerke ich den kleinen zusammengefalteten Zettel an der Wand. Ja, es tut dir leid,
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wirklich leid, daß du Vera wiedergetroffen hast! Ich soll es mir gutgehen lassen. Richtig
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gutgehen lassen soll ich es mir! Die brennende Zigarette hinterläßt Wunden auf meiner Hand.
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Das Rattern der vorbeifahrenden Laster, das Kindergeschrei, Hundegebell und das laut
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aufgedrehte Radio von gegenüber verschwimmen zu einem nervtötenden, Angst einjagenden
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Einheitsgeräusch, meine Augen nehmen nur noch die gröbsten Umrisse wahr. Wie eine alte
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Frau gehe ich den endlos langen Weg zur Haltestelle, meine Füße sind naß und kalt in den
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durchweichten Stiefeln. Ein glatzköpfiger Mann pfeift hinter mir her, bietet mir sein Zimmer
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und sich an.
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Verschüchtert stehe ich in der Ecke neben dem Fahrplan, mein Gesicht spiegelt sich in der
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Scheibe. Wann kommt endlich diese elende Straßenbahn?

Anmerkungen zur Autorin:
Tanja Zimmermann (* 1966): slowenisch-deutsche Kunsthistorikerin, Literaturwissenschaftlerin und Slawistin
Aus: Zimmermann, Tanja: Sommerschnee. In: Bolte, Marie, u. a. (Hrsg.): Total verknallt. Ein Liebeslesebuch. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 121-122.

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