Aufgabe 4
Interpretation eines Prosatextes
Thema:- Interpretiere die parabelhafte Erzählung.
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In einem kleinen ausverkauften Theatersaal sind zwei Plätze leer geblieben in der
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vierten Reihe. Noch ehe die Vorstellung beginnt, entsteht um die beiden leeren
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Plätze der Herd einer Unruhe, die sich raschelnd und räuspernd über das gesamte
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Publikum ausbreitet. Die beiden Abwesenden, als trügen sie zu hohe Frisuren, rei-
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zen die hinter ihnen Sitzenden zu launigen Bemerkungen. Erst sind es leise
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Beschwerden, dann schnell gezischte Beleidigungen. Die beiden werden dafür,
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daß sie nicht da sind, gescholten. Obwohl niemand zu wissen vorgibt, um wen es
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sich eigentlich handelt, erregt man sich gegen sie, als wären es zwei für ihr Fern-
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bleiben Berühmte. Wenn man genauer hinhört, kommt von diesem oder jenem
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Zuschauer ein Seufzer, mit dem er seine „ganz persönliche tiefe Enttäuschung“
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bekennt. Oder es wird jemandes Klage laut über den Mangel an Vollzähligkeit in
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kleinem abgeschlossenen Raum. Ein anderer nennt das: seinen Komplettheitskom-
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plex. Ein dritter wiederum gesteht, daß ihm die beiden unbesetzten Plätze nicht
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weniger zu schaffen machten als zwei fehlende Klinken an einer Tür.
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Man hat es mit einer Lücke zu tun, man kann diese Lücke nicht schließen, selbst
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wenn man sich noch so geschickt umsetzte und in der Reihe hin und her rückte.
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Die Lücke fällt nicht nur ins Auge, sie untergräbt auch das Behagen, reihenweise
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im Schulterschluß in einem Publikum zu sitzen und gleichgerichtet – miteinander
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– geradeaus auf die Bühne zu schauen. Denn ist es nicht dieses Behagen, um des-
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sentwillen man überhaupt einen solchen Ort aufsucht? Sich wie nirgends sonst auf
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der Welt eingereiht zu wissen in einer vollzähligen Ordnung, unverzichtbar zu sein
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in einem Zuschauerraum, der bis auf den letzten Platz besetzt ist.
Aus: Strauß, Botho: Die Lücke. In: Strauß, Botho: Mikado.
Deutscher Taschenbuchverlag GmbH & Co. KG, München 2009, S. 61–62.
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- In Anbetracht an die aktuelle Lage in der Corona-Pandemie müssen wir uns als Gesellschaft dahingehend umstellen, dass Besuche kultureller und öffentlicher Institutionen wie Theater, Kinos und Museen weitestgehend eingeschränkt werden.
- Der vorliegende Prosatext Die Lücke von Botho Strauß erscheint 2009 und spielt in einem Saal, welcher bis auf zwei leere Sitzplätze vor einem Publikum stattfindet.
- Nicht der Umstand der zwei leeren Sitzplätze, doch eine Mischung aus sozialen und historischen Hintergründen ruft beim Rest des Publikums eine Verärgerung über die zwei leer gebliebenen Plätze hervor.
Hauptteil
Aufbau- Die vorliegende Erzählung erstreckt sich auf eine Kürze von insgesamt 22 Zeilen und wird im folgenden unter der Berücksichtigung zweier Sinnabschnitte interpretiert.
- Der erste Sinnabschnitt geht von Zeile 1-14. Hier beschreibt der Erzähler den wachsenden Ärger der Zuschauer über zwei leer gebliebene Sitzplätze inmitten des sonst gefüllten Saals.
- Im zweiten Sinnabschnitt, welcher sich auf Zeile 15-22 erstreckt, teilt der Erzähler seine Gedanken und Beobachtungen im Hinblick auf die ablehnende Reaktion des Publikums.
- Hier wird die Situation beschrieben, welche der Leser zu Anfang vorfindet: Das Publikum in einem „kleinen ausverkauften Theatersaal“ (Z. 1) erwartet die bevorstehende Aufführung, jedoch „sind zwei Plätze leer geblieben“ (Z. 1 f.)
- Genauere Angaben zum Theaterstück oder Austragungsort werden nicht gemacht, der Fokus liegt allein auf dem Verhalten des anwesenden Publikums.
- Die Vorfreude der im Saal Anwesenden ist jedoch durch den Unmut über die zwei leeren Plätze getrübt. Dass sich zwei der Gäste anmaßen, nicht an der Vorstellung teilzuhaben, ruft beim Großteil der Zuschauer eine Unzufriedenheit hervor. Letztere äußert sich im „Rascheln und Räuspern“ (vgl. Z. 3) und „launigen Bemerkungen“ (Z. 5) sowie „gezischten Beleidigungen“ (Z. 6) der Theatergäste.
- Zwar sind die beiden abwesenden Gäste dem übrigen Publikum fremd und auch der Grund für ihre Abwesenheit unbekannt, doch diese Umstände mindern nicht die Ungehaltenheit der Anwesenden.
- Teilweise wird das Fernbleiben der zwei Theatergäste von manchem als „ganz persönliche tiefe Enttäuschung“ (Z. 10) wahrgenommen, während andere es auf den prinzipiellen „den Mangel an Vollzähligkeit“ (Z. 11) oder ihren „Komplettheitskomplex“ (Z. 12 f.) schieben.
- Metapher: Die beiden leeren Plätze werden als „Herd einer Unruhe“ (Z. 3) beschrieben, die sich, je länger die beiden Plätze leer bleiben, immer mehr im Vorstellungsraum ausbreitet.
- Onomatopoesie: Das lautmalerische und zugleich alliterarische Begriffspaar „raschelnd und räuspernd“ (Z. 3) verstärken noch den Effekt, der sich ausbreitenden Unruhe im Saal.
- Vergleich: Der Erzähler lässt Vergleiche in seine Beschreibung des Publikums miteinfließen. So betont etwa, indem er die Gäste sich über die beiden ferngebliebenen Personen echauffieren lässt „als trügen sie zu hohe Frisuren“ (Z. 4) oder „als wären es zwei für ihr Fernbleiben Berühmte“ (Z. 8 f.), die reaktive Unangemessenheit der Theatergäste. Auch der Vergleich der beiden leeren Sitzplätze mit fehlenden Türklinken (Z. 14) ist so zu verstehen, dass das Publikum der Meinung sei, ein nicht zur Gänze gefüllter Theatersaal verwirke seine Funktion als Ablenkung vom Alltag zu dienen.
- Klimax: In einem klimatischen Anstieg schildert der Erzähler die sich langsam, aber sicher immer weiter steigernde Anspannung im Raum. Während erst nur „leise Beschwerden“ (Z. 5 f.) zu hören sind, werden nach einigen Augenblicken bereits „gezischte[n] Beleidigungen“ (Z. 6) wahrnehmbar.
- Neologismus: Indem der Erzähler Wortneuschöpfungen wie „Komplettheitskomplex“ (Z. 12 f.) verwendet, weist er abermals auf die Unverhältnismäßigkeit der übertrieben emotionalen Reaktionen der Zuschauer über das Fernbleiben ihrer beiden Mitmenschen hin.
- Während der erste Sinnabschnitt deskriptiver war, bezieht sich der zweite Sinnabschnitt vielmehr auf die Gedanken des Erzählers im Hinblick auf die Reaktion des Publikums.
- Der Erzähler erwähnt erstmals namentlich „die Lücke“ (Z. 15, 17), welche durch die beiden fehlenden Personen verursacht wird und zugleich als Titel für die parabelhafte Erzählung fungiert.
- Besonders darauf, dass die entstandene Lücke nicht ohne Weiteres durch das Umsetzen der Theatergäste geschlossen werden kann, wird eingegangen.
- Von der nun anschließenden Äußerung, die Gäste würden lieber „reihenweise im Schulterschluß in einem Publikum zu sitzen und gleichgerichtet“ (Z. 17 f.) das Theaterstück ansehen, geht eine militärische Stimmung und der Drang nach Einförmigkeit aus.
- Laut Autor ist es das gemeinschaftliche Geradeausschauen auf die Bühne, was den Theaterbesuch erst zu einem wertvollen Erlebnis macht. Als Argument führt er dafür an, dass das Gefühl zu wissen, dass man Teil einer Strömung oder Gemeinschaft ist, dem eigenen Leben Sinnhaftigkeit verleiht.
- Rhetorische Frage: „Denn ist es nicht dieses Behagen, um dessentwillen man überhaupt einen solchen Ort aufsucht?“ (Z. 19 f.) Mit dieser Frage gegen Ende der Erzählung stellt der Erzähler noch einmal infrage, inwiefern das Bedürfnis nach Gleichgesinnung wirklich als valides und einziges Argument sprechen darf, ins Theater zu gehen.
- Parabelhaft: Obwohl sich der parabelhafte Charakter der Erzählung abzeichnet, kann zwischen Bildebene und Sachebene nicht klar unterschieden werden
- Bildebene: Die Bildebene zeigt zwei leer gebliebene Plätze im Vorstellungssaal auf, die bei dem anwesenden Publikum für Ungehaltenheit sorgen.
- Sachebene: Auf der Sachebene spiegeln die Zuschauer ein Kollektiv dar, welches sich gegen potenzielle Außenseiter und Andersdenkende positioniert und sich von Fremden bedroht fühlt. Hier sind starke Parallelen zu einer faschistischen Diktatur erkennbar.
Schluss
- Selbst in der Nachkriegszeit geboren, verfügt der Autor der Erzählung über direkte Erfahrungswerte der Nachkriegszeit in Deutschland und der damals vorherrschenden Stimmung in der Gesellschaft.
- In seiner Erzählung Die Lücke zeigt Botho Strauß auf, wie allgegenwärtig und gefährlich der Drang nach Gemeinschaft in einer Gesellschaft werden kann, wenn der Preis dafür die Ausgrenzung anderer ist.
- Eine intolerante Geisteshaltung wie die der Zuschauer im Theatersaal bildet den idealen Nährboden für ein totalitäres System und Strauß möchte mit seinem Werk für die in einer Gesellschaft schlummernden Risiken sensibilisieren und den Blick schärfen.