Aufgabe 1
Gedichtinterpretation
Thema:- Interpretiere das Gedicht.
1
Da steht er nun, als Mann verkleidet,
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und kommt sich nicht geheuer vor.
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Fast sieht er aus, als ob er leidet.
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Er ahnt vielleicht, was er verlor.
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Er trägt die erste lange Hose.
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Er spürt das erste steife Hemd.
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Er macht die erste falsche Pose.
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Zum ersten Mal ist er sich fremd.
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Er hört sein Herz mit Hämmern pochen.
10
Er steht und fühlt, dass gar nichts sitzt.
11
Die Zukunft liegt ihm in den Knochen.
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Er sieht so aus, als hätt’s geblitzt.
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Womöglich kann man noch genauer
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erklären, was den Jungen quält:
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Die Kindheit starb; nun trägt er Trauer
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und hat den Anzug schwarz gewählt.
17
Er steht dazwischen und daneben.
18
Er ist nicht groß. Er ist nicht klein.
19
Was nun beginnt, nennt man das Leben.
20
Und morgen früh tritt er hinein.
Aus: Kästner, Erich: Zur Fotografie eines Konfirmanden. In: Kästner, Erich: Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. Gedichte für den Hausbedarf der Leser. Nebst einem Vorwort und einer nutzbringenden Gebrauchsanweisung samt Register. Atrium Verlag AG, Zürich 2009, S. 23.
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- Erich Kästners Gedicht Zur Fotografie eines Konfirmanden thematisiert den Übergang eines Jugendlichen von der Kindheit zum Erwachsenwerden, ein Lebensabschnitt, der durch die Konfirmation symbolisiert wird. Kästner zeigt in diesem Gedicht die inneren Konflikte und Unsicherheiten eines jungen Menschen, der sich plötzlich mit gesellschaftlichen Erwartungen und einer neuen Rolle konfrontiert sieht.
- Zusätzlich ist sein Gedicht Teil der Gedichtsammlung Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke, die 1936 veröffentlicht wurde. Diese Sammlung enthält eine Vielzahl von Gedichten, in denen Kästner auf humorvolle, kritische oder tiefsinnige Weise alltägliche Themen aufgreift und sie einem breiten Publikum zugänglich macht.
- Kästners Schreibstil zeichnet sich dabei durch klare Sprache, pointierte Formulierungen und eine durchdachte formale Struktur aus, die auch in diesem Gedicht erkennbar sind.
Hauptteil
Formale Analyse
- Das Gedicht Zur Fotografie eines Konfirmanden ist formal streng strukturiert und folgt einem festen Reimschema, was dem Text eine formale Geschlossenheit verleiht. Es besteht aus fünf Strophen mit jeweils vier Versen, was insgesamt 20 Verse ergibt. Die Reimform ist durchgängig ein Kreuzreim (abab), der dem Gedicht eine harmonische, regelmäßige Struktur gibt.
- Die Verse sind in vierhebigen Jamben verfasst. Der Jambus (eine unbetonte Silbe gefolgt von einer betonten) erzeugt ein fließendes und vorwärtsdrängendes Metrum, das dem Gedicht eine gleichmäßige, fast getriebene Dynamik verleiht.
- Die abwechselnden weiblichen und männlichen Kadenzen (ungerade Verse enden weiblich, gerade Verse enden männlich) verstärken die formale Strenge des Gedichts. Außerdem verleihen sie ihm einen rhythmischen Wechsel, der die Unsicherheit und Ambivalenz des Konfirmanden widerspiegelt. Die männliche Kadenz mit ihrer betonten Endung gibt dem Vers einen festen, entschlossenen Abschluss, während die weibliche Kadenz sanfter und offener wirkt, was die Unsicherheit und das Schwanken des Jugendlichen symbolisiert.
- Im Gedicht werden zahlreiche stilistische Mittel verwendet, um die emotionale Verfassung des Konfirmanden zu verdeutlichen. Die Metapher ‚als Mann verkleidet‘ (V. 1) symbolisiert das aufgesetzte Erwachsensein, das ihm von außen auferlegt wird.
- Ein weiteres auffälliges Stilmittel ist die Anapher, die insbesondere durch die Wiederholung von „Er“ am Beginn mehrerer Verse (z. B. V. 5 und 6; V. 9 und 10) deutlich wird. Diese Anapher verstärkt den Fokus auf den Jugendlichen und unterstreicht seine zentrale Position im Gedicht. Die Wiederholung des Pronomens „Er“ hebt die Isolierung des Konfirmanden hervor, der sich allein und unsicher fühlt.
- Auch der Einsatz von Antithesen ist prägnant: In Vers 10 wird das Stehen und das Gefühl, „dass gar nichts sitzt“ (V. 10) gegenübergestellt. Dies verdeutlicht den Konflikt zwischen dem äußeren Erscheinungsbild des Jugendlichen, der aufrecht steht, und seinem inneren Empfinden der Unsicherheit und Instabilität.
- Eine Alliteration findet sich in Vers 9: „hört sein Herz mit Hämmern pochen“ (V. 9). Hier wird durch die Wiederholung des „h“ der pochende Herzschlag des Konfirmanden hervorgehoben, der seine Nervosität und Angst deutlich macht. Gleichzeitig wird das Herz durch die Personifikation als etwas Lebendiges dargestellt, das „mit Hämmern poch[t]“ (V. 9). Das Herz, als Sitz der Gefühle, reagiert unmittelbar auf die emotionale Belastung des Jugendlichen.
Inhaltliche Analyse
- Die erste Strophe stellt den Konfirmanden vor, der sich in seinem neuen, gesellschaftlich auferlegten „Kostüm“ (Vgl. V. 1) als Erwachsener unwohl fühlt.
- Das Wort „leidet“ (V. 3) deutet darauf hin, dass der Konfirmand seine neue Rolle als belastend empfindet. Das Gefühl des Verlusts, das er möglicherweise spürt, wird in Vers 4 angedeutet, als er zu ahnen scheint, „was er verlor“ (V. 4) – nämlich seine Kindheit.
- In der zweiten Strophe konzentriert sich der Sprecher auf das äußere Erscheinungsbild des Konfirmanden. Die Wiederholung des Wortes „erste“ (V. 5–8) betont, dass der Jugendliche in einer für ihn ganz neuen Situation steckt.
- Diese „Premieren“ symbolisieren die neue Rolle, die er einnehmen soll, doch es wird deutlich, dass er sich dabei unwohl fühlt und sich „fremd“ (V. 8) vorkommt. Der steife Anzug (Vgl. V. 5 f.) steht sinnbildlich für die Förmlichkeit und Starrheit der Gesellschaft, in die er hineingedrängt wird.
- Die dritte Strophe beleuchtet die innere Gefühlswelt des Jugendlichen. Das Pochen seines Herzens (Vgl. V. 9) und die körperlichen Empfindungen wie das Gefühl, dass „nichts sitzt“ (V. 10), verdeutlichen seine Nervosität und Unsicherheit.
- Die metaphorische Formulierung „die Zukunft liegt ihm in den Knochen“ (V. 11) drückt das drückende Gewicht der Erwartungen aus, die auf ihm lasten. Der Vergleich „als hätt’s geblitzt“ (V. 12) spielt einerseits auf den Blitz der Kamera an, die das Foto aufnimmt, deutet aber auch auf den Schockzustand des Konfirmanden hin, der von der Situation überfordert ist.
- Die vierte Strophe liefert eine Erklärung für den emotionalen Zustand des Konfirmanden. Das Bild vom Tod der Kindheit (Vgl. V. 15) und die Trauer, die der Jugendliche durch den schwarzen Anzug zum Ausdruck bringt, verdeutlichen das Ende eines Lebensabschnitts.
- In der letzten Strophe wird die Zwischenposition des Jugendlichen verdeutlicht: „Er steht dazwischen und daneben“ (V. 17), weder Kind noch Erwachsener. Die Konfirmation markiert den Beginn eines neuen Lebensabschnitts, der mit dem Eintritt in das „Leben“ (V. 19) verbunden ist. Der Konfirmand steht jedoch passiv an der Schwelle zu diesem neuen Abschnitt und die Formulierung „tritt er hinein“ (V. 20) zeigt, dass er diesen Schritt wohl widerwillig und unvorbereitet gehen muss.
- Erich Kästners Gedicht Zur Fotografie eines Konfirmanden beschreibt den Übergang vom Kindsein zum Erwachsenwerden anhand der Figur eines Konfirmanden, der sich in seiner neuen Rolle als Erwachsener fremd fühlt. Die Konfirmation, die traditionell als feierlicher Übergang ins Erwachsenenleben betrachtet wird, erscheint in Kästners Darstellung als ein schmerzhafter und unsicherer Prozess. Der Konfirmand fühlt sich von den gesellschaftlichen Erwartungen überfordert und ist noch nicht bereit, die damit verbundene Rolle anzunehmen.
- Das Gedicht zeigt eindrucksvoll, wie der Jugendliche in dieser Phase mit Unsicherheit, Verlust und Trauer konfrontiert wird. Durch die formalen und inhaltlichen Mittel, wie die strenge Metrik und den Kreuzreim, werden der innere Druck und die Enge, die der Konfirmand empfindet, deutlich hervorgehoben.
- Kästner kritisiert in diesem Gedicht die gesellschaftlichen Normen, die Jugendliche in eine bestimmte Rolle drängen, bevor sie innerlich bereit sind, diese anzunehmen. Der Konfirmand wird in diesem Gedicht nicht als selbstbewusster junger Mann gezeigt, sondern als jemand, der noch tief mit seiner Kindheit verbunden ist und den Übergang ins Erwachsensein als schmerzhaften Bruch erlebt.
Schluss
- Erich Kästners Gedicht Zur Fotografie eines Konfirmanden behandelt das Thema des Erwachsenwerdens und stellt den Übergang vom Kind zum Erwachsenen als mühsamen Prozess dar.
- Der Konfirmand steht unter dem Druck der gesellschaftlichen Erwartungen und fühlt sich in seiner neuen Rolle unsicher und fremd. Kästner kritisiert damit auch die gesellschaftliche Normen, Jugendliche in Rollen zu drängen, für die sie sich emotional noch nicht bereit fühlen.
- Die strenge formale Struktur des Gedichts spiegelt den Zwang und die Starrheit wider, denen der Jugendliche ausgesetzt ist. Der Konfirmand steht symbolisch für die Herausforderungen und Unsicherheiten des Erwachsenwerdens.
- Das Gedicht regt dazu an, über die Geschwindigkeit und die Erwartung des Erwachsenwerdens nachzudenken und mahnt, dass individuelle Entwicklungen respektiert werden sollten. Kästners Gedicht vermittelt somit eine tiefgründige Botschaft über das Erwachsenwerden und den Druck, der auf jungen Menschen lastet, wenn sie zu schnell in eine neue Lebensphase gedrängt werden.