Aufgabe 2

Interpretation eines Dramenauszugs

Thema:
Gotthold Ephraim Lessing (* 1729 - † 1781): Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen (Erster Aufzug: erster bis dritter Auftritt)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Dramenauszug.
Material
Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
Gotthold Ephraim Lessing
ERSTER AUFZUG
Die Szene: ein Kabinett des Prinzen
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Erster Auftritt
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Der Prinz,
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an einem Arbeitstische voller Briefschaften und Papiere,
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deren einige er durchläuft

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DER PRINZ: Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! – Die traurigen
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Geschäfte; und man beneidet uns noch! – Das glaub ich: wenn wir allen helfen könnten,
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dann wären wir zu beneiden. – Emilia? Indem er noch eine von den Bittschriften aufschlägt
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und nach dem unterschriebenen Namen sieht. Eine Emilia? – Aber eine Emilia Bruneschi –
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nicht Galotti. Nicht Emilia Galotti! – Was will sie, diese Emilia Bruneschi? Er lieset. Viel
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gefordert, sehr viel. – Doch sie heißt Emilia. Gewährt! Er unterschreibt und klingelt; worauf
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ein Kammerdiener hereintritt. Es ist wohl noch keiner von den Räten in dem Vorzimmer?
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DER KAMMERDIENER: Nein.
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DER PRINZ: Ich habe zu früh Tag gemacht. – Der Morgen ist so schön. Ich will ausfahren.
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Marchese Marinelli soll mich begleiten. Laßt ihn rufen. Der Kammerdiener geht ab. – Ich
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kann doch nicht mehr arbeiten. – Ich war so ruhig, bild ich mir ein, so ruhig - Auf einmal
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muß eine arme Bruneschi Emilia heißen – weg ist meine Ruhe und alles! –
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DER KAMMERDIENER welcher wieder hereintritt: Nach dem Marchese ist geschickt. Und
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hier ein Brief von der Gräfin Orsina.
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DER PRINZ: Der Orsina? Legt ihn hin.
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DER KAMMERDIENER: Ihr Läufer wartet.
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DER PRINZ: Ich will die Antwort senden; wenn es einer bedarf. – Wo ist sie? In der Stadt?
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oder auf ihrer Villa?
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DER KAMMERDIENER: Sie ist gestern in die Stadt gekommen.
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DER PRINZ: Desto schlimmer – besser, wollt ich sagen. So braucht der Läufer um so weniger
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zu warten. Der Kammerdiener geht ab. Meine teure Gräfin! Bitter, indem er den Brief in die
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Hand nimmt. So gut als gelesen! Und ihn wieder wegwirft. – Nun ja; ich habe sie zu lieben
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geglaubt! Was glaubt man nicht alles? Kann sein, ich habe sie auch wirklich geliebt. Aber –
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ich habe!
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DER KAMMERDIENER der nochmals hereintritt: Der Maler Conti will die Gnade haben – –
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DER PRINZ: Conti? Recht wohl; laßt ihn hereinkommen. – Das wird mir andere Gedanken in
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den Kopf bringen. – Steht auf.
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Zweiter Auftritt
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Conti, der Prinz
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DER PRINZ: Guten Morgen, Conti. Wie leben Sie? Was macht die Kunst?
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CONTI: Prinz, die Kunst geht nach Brot.
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DER PRINZ: Das muß sie nicht; das soll sie nicht – in meinem kleinen Gebiete gewiß nicht. –
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Aber der Künstler muß auch arbeiten wollen.
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CONTI: Arbeiten? Das ist seine Lust. Nur, zu viel arbeiten müssen kann ihn um den Namen
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Künstler bringen.
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DER PRINZ: Ich meine nicht vieles; sondern viel - ein weniges; aber mit Fleiß. – Sie kommen
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doch nicht leer, Conti?
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CONTI: Ich bringe das Porträt, welches Sie mir befohlen haben, gnädiger Herr. Und bringe
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noch eines, welches Sie mir nicht befohlen: aber weil es gesehen zu werden verdient -
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DER PRINZ: Jenes ist? – Kann ich mich doch kaum erinnern –
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CONTI: Die Gräfin Orsina.
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DER PRINZ: Wahr! – Der Auftrag ist nur ein wenig von lange her.
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CONTI: Unsere schönen Damen sind nicht alle Tage zum Malen. Die Gräfin hat seit drei
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Monaten gerade einmal sich entschließen können, zu sitzen.
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DER PRINZ: Wo sind die Stücke?
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CONTI: In dem Vorzimmer, ich hole sie.

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Dritter Auftritt
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Der Prinz
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DER PRINZ: Ihr Bild! – mag! – Ihr Bild ist sie doch nicht selber. – Und vielleicht find ich in
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dem Bilde wieder, was ich in der Person nicht mehr erblicke. – Ich will es aber nicht
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wiederfinden. – Der beschwerliche Maler! Ich glaube gar, sie hat ihn bestochen. – Wär es
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auch! Wenn ihr ein anderes Bild, das mit anderen Farben auf einen anderen Grund gemalet ist
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– in meinem Herzen wieder Platz machen will – Wahrlich, ich glaube, ich wär es zufrieden.
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Als ich dort liebte, war ich immer so leicht, so fröhlich, so ausgelassen. – Nun bin ich von
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allem das Gegenteil. – Doch nein; nein, nein! Behäglicher oder nicht behäglicher, ich bin so
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besser.

Anmerkung zum Autor:
Gotthold Ephraim Lessing (* 1729 - † 1781): deutscher Dichter
Aus: Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. In:
Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Hrsg.):
Lessings Werk in fünf Bänden, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1988, S. 229-231.

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