Aufgabe 1

Textgebundene Erörterung

Thema:
Marcus Jauer (* 1974): Wird schon gut gehen, oder?
Aufgabenstellung:
  • Erörtere den Textauszug.
Material
Wird schon gut gehen, oder?
Marcus Jauer
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[...]
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Wir kaufen Lebensmittel, die von Menschen hergestellt werden, die wir nicht
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kennen, an Orten und unter Bedingungen, für die dasselbe gilt. Wir steigen in Ver-
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kehrsmittel, die wir nicht selbst steuern, in denen wir aber sterben können, sobald
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derjenige, der es tut, einen Fehler macht. Wir leben in politischen Systemen, in
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denen wir nicht jede Meinung teilen müssen, doch nach den Meinungen der ande-
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ren sollen wir uns richten, sobald sie von der Mehrheit für gut befunden wurden.
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Wir setzen Technologien ein, die wir, selbst wenn sie aus dem Ruder laufen, nicht
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mehr abschalten können, ohne noch größere Schäden anzurichten.
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Unsere Fähigkeit zu Arbeitsteilung und Koordination hat den Planeten in einem
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Ausmaß und einer Geschwindigkeit verändert, dass wir die Folgen längst nicht
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mehr überblicken. Wir haben unsere Welt größer und schneller gemacht, aber auch
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komolizierter und verletzlicher, dennoch beschleunigen wir sie immer weiter.
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Damit dehnt sich der Raum, den unser Vertrauen abdecken muss, stetig aus.
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Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, das war gestern. Heute heißt es: Kontrolle
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ist gut, Vertrauen geht schneller.
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Vertrauen sei „ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“, schrieb
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der deutsche Soziologe Niklas Luhmann bereits Ende der Sechzigerjahre, als die
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soziale Komplexität noch weit weniger komplex war, als sie es heute ist. „Ohne
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jegliches Vertrauen könnte der Mensch morgens sein Bett nicht verlassen. Unbe-
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stimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn.“
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Aber ist das wirklich so?
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Selbstverständlich nehmen wir an, dass uns über Nacht nicht die Decke auf den
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Kopf fällt. Wir gehen davon aus, dass der Mensch, mit dem wir das Bett teilen,
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auch am nächsten Morgen noch neben uns liegt, zumindest wenn wir ihn nicht erst
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am Abend zuvor kennengelernt haben. Wir vertrauen der Kita, dass unsere Kinder
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dort sicher sind, den Autofahrern, dass sie bei Rot halten, und unserem Chef, dass
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er nicht plötzlich einen Kollegen an unseren Arbeitsplatz setzt, der unseren Job
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übernimmt. Wir sind im Grunde auch der Meinung, dass sich der Klimawandel
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schon irgendwie in den Griff bekommen lässt, während wir gleichzeitig wenig
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unternehmen, um ihn aufzuhalten. Wir haben unsere Erfahrungen damit, worauf
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wir bauen können, und wir würden verrückt werden, wenn wir ständig darüber
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nachdächten, wir kippelig eigentlich alles ist.
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Aber ist das tatsächlich alles Vertrauen? Oder nur ein Sichverlassen? Oder
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Gewohnheit? Oder Zukunftsergebenheit?
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Und falls es da einen Unterschied gibt – ist er von Bedeutung? [...]

Aus: Jauer, Marcus: Wird schon gut gehen, oder? In: Die Zeit. N°23, 28.05.2020, Zeitverlag Hamburg, S. 14.

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