Aufgabe 2
Interpretation eines Romananfangs
Thema: Daniel Kehlmann (* 1975): Die Vermessung der Welt: Die Reise Aufgabenstellung:- Interpretiere den Romananfang.
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Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum erstenmal seit Jahren
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seine Heimatstadt, um am deutschen Naturforscherkongreß in Berlin teilzunehmen.
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Selbstverständlich wollte er nicht dorthin. Monatelang hatte er sich geweigert, aber Alexander
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von Humboldt war hartnäckig geblieben, bis er in einem schwachen Moment und in der
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Hoffnung, der Tag käme nie, zugesagt hatte.
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Nun also versteckte sich Professor Gauß im Bett. Als Minna ihn aufforderte aufzustehen,
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die Kutsche warte und der Weg sei weit, klammerte er sich ans Kissen und versuchte seine Frau
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zum Verschwinden zu bringen, indem er die Augen schloß. Als er sie wieder öffnete und Minna
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noch immer da war, nannte er sie lästig, beschränkt und das Unglück seiner späten Jahre. Da
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auch das nicht half, streifte er die Decke ab und setzte die Füße auf den Boden.
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Grimmig und notdürftig gewaschen ging er die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer wartete
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sein Sohn Eugen mit gepackter Reisetasche. Als Gauß ihn sah, bekam er einen Wutanfall: Er
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zerbrach einen auf dem Fensterbrett stehenden Krug, stampfte mit dem Fuß und schlug um sich.
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Er beruhigte sich nicht einmal, als Eugen von der einen und Minna von der anderen Seite ihre
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Hände auf seine Schultern legten und beteuerten, man werde gut für ihn sorgen, er werde bald
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wieder daheim sein, es werde so schnell vorbeigehen wie ein böser Traum. Erst als seine uralte
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Mutter, aufgestört vom Lärm, aus ihrem Zimmer kam, ihm in die Wange kniff und fragte, wo
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denn ihr tapferer Junge sei, faßte er sich. Ohne Herzlichkeit verabschiedete er sich von Minna;
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seiner Tochter und dem jüngsten Sohn strich er geistesabwesend über den Kopf. Dann ließ er
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sich in die Kutsche helfen.
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Die Fahrt war qualvoll. Er nannte Eugen einen Versager, nahm ihm den Knotenstock ab
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und stieß mit aller Kraft nach seinem Fuß. Eine Weile sah er mit gerunzelten Brauen aus dem
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Fenster, dann fragte er, wann seine Tochter endlich heiraten werde. Warum wolle die denn
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keiner, wo sei das Problem?
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Eugen strich sich die langen Haare zurück, knetete mit beiden Händen seine rote Mütze und
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wollte nicht antworten.
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Raus mit der Sprache, sagte Gauß.
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Um ehrlich zu sein, sagte Eugen, die Schwester sei nicht eben hübsch.
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Gauß nickte, die Antwort kam ihm plausibel vor. Er verlangte ein Buch.
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Eugen gab ihm das, welches er gerade aufgeschlagen hatte: Friedrich Jahns Deutsche
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Turnkunst. Es war eines seiner Lieblingsbücher.
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Gauß versuchte zu lesen, sah jedoch schon Sekunden später auf und beklagte sich über die
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neumodische Lederfederung der Kutsche; da werde einem ja noch übler, als man es gewohnt
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sei. Bald, erklärte er, würden Maschinen die Menschen mit der Geschwindigkeit eines
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abgeschossenen Projektstils von Stadt zu Stadt tragen. Dann komme man von Göttingen in einer
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halben Stunde nach Berlin.
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Eugen wiegte zweifelnd den Kopf.
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Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche
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Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob
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man wollte oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit
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und mache einen zum Clown der Zukunft.
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Eugen nickte schläfrig.
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Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den
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Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in 200 Jahren
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sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne. Er
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überlegte, nannte Eugen noch einmal einen Versager und widmete sich dem Buch. Während er
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las, starrte Eugen angestrengt aus dem Kutschenfenster, um sein vor Kränkung und Wut
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verzerrtes Gesicht zu verbergen.
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In der Deutschen Turnkunst ging es um Gymnastikgeräte. Ausführlich beschrieb der Autor
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Vorrichtungen, die er sich ausgedacht hatte, damit man auf ihnen herumklimmen könne. Eine
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nannte er Pferd, eine andere den Balken, wieder eine andere den Bock.
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Der Kerl sei von Sinnen, sagte Gauß, öffnete das Fenster und warf das Buch hinaus.
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Das sei seines gewesen, rief Eugen.
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Genau so sei es ihm vorgekommen, sagte Gauß, schlief ein und wachte bis zum abendlichen
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Pferdewechsel an der Grenzstation nicht mehr auf.
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[...]
Anmerkung zum Autor: Daniel Kehlmann (* 1975): deutsch-österreichischer Schriftsteller Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 7–9.
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- Lies dir zuallererst den Auszug aus dem Roman ein paar Mal durch.
- Unterstreiche Schlüsselwörter sowie Textstellen, die dir besonders wichtig erscheinen.
- Notiere dir erste Gedanken und Auffälligkeiten zum Text.
- Was ist das Hauptthema des Romananfangs?
Einleitung
- Der vorliegende Romananfang mit dem Titel Die Reise stammt aus dem Werk Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann, welches wiederum 2005 im Rowohlt Verlag GmbH in Reinbek bei Hamburg publiziert wird.
- Professor Carl Friedrich Gauß befindet sich kurz vor der Abreise zu einem „Naturforscherkongress“ (Z. 2) in Berlin und ist überhaupt nicht angetan von der Aussicht, dafür eine Reise antreten zu müssen. Seine Missgunst über die Umstände lässt der Professor für Mathematik an seinen Familienmitgliedern, besonders an seinem Sohn Eugen aus.
- Im Zuge des Romanbeginns in Kelhmanns Werk erhält der Leser einen Einblick in die Privatperson Carl Friedrich Gauß und seine charakterlichen Gepflogen- sowie Eigenheiten.
Hauptteil
Aufbau
- Der vorliegende Romanafang nimmt nunmehr 56 Zeilen in Anspruch und wird im folgenden unter der Berücksichtigung zweier Sinnabschnitte interpretiert.
- Der erste Sinnabschnitt reicht von Zeile 1-20. Hier wagt sich der Autor an eine deskripitive Wiedergabe der Situation des Aufbruchs vor Gauß' Abfahrt nach Berlin.
- Im zweiten Sinnabschnitt, welcher sich auf Zeile 21-56 erstreckt, erhascht man als Leser Einblicke in die Kutschfahrt von Vater Gauß und seinem Sohn Eugen, der ihn auf seiner Reise begleitet.
- Die Handlung wird in einem linearen Zeitverlauf erzählt, der durchgehend in der Vergangenheitsform Präteritum gehalten ist. Zoomt man aus dem Romananfang heraus und blickt auf das gesamte Werk, so bildet das erste und damit respektive Kapitel den Anfang der Rahmenhandlung, jedoch wird im Zuge dieser Analyse nicht näher darauf eingegangen, da sich diese Interpretation einzig mit dem Beginn des Romans befasst.
Erster Sinnabschnitt
Inhalt- Kehlmann holt einen als Leser ab, indem er zunächst einmal den „größten Mathematiker des Landes“ (Z. 1), Professor Gauß im Jahr 1828 vorstellt und direkt voranstellt, dass dieser bereits von Beginn an wenig angetan war, dem „Naturforscherkongress“ (Z. 2) in Berlin beizuwohnen. Allein die Überredungskünste des Wissenschaftlers Alexander Humboldts veranlassen den Mathematiker dazu, doch dem Kongress beizuwohnen.
- Nach einer kurzen Vorstellung des Mathematikers folgt ein Szenenwechsel, indem der Erzähler auf die Aubruchstimmung im Hause Gauß kurz vor seiner Abreise schwenkt.
- Gauß macht keinen Hehl daraus, wenig von dem Kongress zu halten und weder seine Frau Minna, noch sein Sohn Eugen können ihn dazu überreden, sich endlich zu richten und zur Naturforscherversammlung aufzubrechen.
- Minna wird als liebend, geduldig und zurückhaltend beschrieben, die sich von ihrem Mann diktieren lässt, was sie zu tun und zu lassen hat. Eugen wiederum kommt nach seiner Mutter und besitzt dieselben Eigenschaften wie diese. Der Sohn leidet unter dem herrischen und unfairen Verhalten seines Vaters, ist aber zu brav und vorsichtig, um sich gegen Gauß zu behaupten.
- Erst seine eigene Mutter vermag es, den aufgebrachten Mathematiker zu beruhigen, sodass er sich schließlich widerwillig, begleitet von seinem Sohn Eugen, in die bereits wartende Kutsche begibt.
- Gauß selbst, der ohne Zweifel einer der hochintelligentesten Mathematiker aller Zeiten war, besitzt einen „grimmigen“ (Z. 11) und aufbrausenden Charakter, den er zum Leidwesen seiner Familie an seinen Mitmenschen auslässt. Auch eine infantile Note haftet ihm an, die sich zum Beispiel daran zeigt, dass er im Bett bleiben möchte, als ihn Minna bittet, endlich nach Berlin aufzubrechen (Vgl. 6 ff.).
- Erzähler: Beim Erzähler handelt es sich um eine auktoriale Erzählinstanz, die entsprechend besser über die verschiedenen Zusammenhänge und Hintergründe Bescheid weiß, wals die Figuren im Werk und die Leserschaft selbst. Festzumachen ist dies beispielsweise daran, dass der Erzähler etwa Eugens emotionale Reaktion auf die unfaire Behandlung durch seinen Vater bemerkt und auch bewertet, jedoch nicht ins Geschehen eingreift und eine beobachtende Rolle einnimmt.
- Indirekte & direkte Rede: Der Wechsel zwischen indirekter und direkter Rede besitzt den Effekt, dass der Text für den Leser aufgelockert wird und obwohl Kehlmanns Buch durchgängig im Präteritum geschrieben ist, wird dem Erzählten durch die verschiedenen Erzählweisen eine dimensionale Tiefe verliehen. Während die direkte Rede eine fesselnde Wirkung besitzt und der Leser sich somit gefühlt mitten im Geschehen befindet, hat die indirekte Rede die Wirkung, Distanz zur Handlung zu erzeugen und besitzt zudem einen zeitraffenden Effekt.
- Außenperspektive: Sowohl im ersten als auch im zweiten Sinnabschnitt findet ein Perspektivwechsel in der Handlung statt. Während Zeile 1-5 in berichtender Form und damit in der Außenperspektive, also heterodiegetisch wiedergegeben werden, wechselt der Erzähler ab Zeile 6-20 in die Innenperspektive, also befindet sich inmitten der Handlung und erzählt homodiegetisch.
Zweiter Sinnabschnitt
Inhalt- Während der Fahrt nach Berlin gibt Gauß seinem Sohn deutlich zu verstehen, dass er ihm intellektuell und in jeder anderen Hinsicht auch überlegen ist. Mitunter deshalb beschreibt der Erzähler die Reise auch als „qualvoll“ (Z. 21).
- Nachdem der Professor sich kurz mit Eugen austauscht, warum seine Tochter noch nicht verheiratet ist, beginnt der Mathematiker damit, ein Buch über „Deutsche Turnkunst“ (Z. 30 f.) zu lesen, welches zu Eugens „Lieblingsbücher[n]“ (Z. 31) zählt.
- Bereits nach kurzer Zeit legt Gauß die Lektüre beiseite und beschwert sich über die Ungerechtigkeit, dass man in der Zeit, in die man hineingeboren würde, gefangen bliebe (vgl. Z. 38 f.), worauf Eugen jedoch nichts zu erwidern weiß.
- Zwar nimmt Gauß das Lesen wieder auf, doch es ist nicht von langer Dauer. Stattdessen entledigt er sich dem Buch kurzerhand durchs Fenster, da ihm die Gerätebezeichnungen in der Lektüre wie „Bock“ (Z. 51) und „Pferd“ (Z. 51) unsinnig vorkommen. Letztere Sinnlosigkeit führt er darauf zurück, dass es das Buch seines Sohnes war und beleidigt Eugen damit abermals.
- Rhetorische Fragen: Anhand von rhetorischen Fragen des Mathematikers an seinen Sohn Eugen, „Warum wolle [seine Tochter] denn keiner, wo sei das Problem?“ (Z. 23 f.), fügt der Autor subtil an zahlreichen Stellen im Buch humoristische Elemente ein, die einen als Leser*in schmunzeln lassen.
- Ironie: Dass die mangelnde Beliebtheit seiner Tochter an ihrer angeblichen Unansehnlichkeit liegt (Z. 28 f.), bildet hier nur eine weitere humoristische Komponente, die bewirkt, dass man den Mathematiker trotz seiner grimmigen Art zumindest streckenweise als sympathisch wahrnimmt.
- Die zu interpretierende Textstelle am Romananfang, beziehungsweise des ersten Kapitels trägt die Überschrift Die Reise, womit Gauß' Kutschfahrt mit seinem Sohn Eugen von seinem Wohnort Göttingen ins entfernte Berlin gemeint ist.
Schluss
- Der Ausschnitt Die Reise aus Kelhmanns Werk Die Vermessung der Welt besitzt die Intention, den Leser näher an die Gepflogenheiten von Carl Friedrich Gauß als hochbegabter Mathematiker, aber auch als Privatperson heranzuführen.
- Da man in dem kurzen Textauschnitt nur einen begrenzten Eindruck vom Mathematiker erhält, bleibt zu ergänzen, dass der Professor zwar ein schwieriger Mensch war, unter dessen Eigenheiten und Launen insbesondere seine Familie leidete.
- Jedoch war Gauß gleichzeitig einer der visionärsten und klügsten Männer seiner Zeit, was Kehlmann nicht zuletzt auf subtile Weise einfließen lässt, indem er etwa den Naturwissenschaftler sich über die Vergänglichkeit des Seins echauffieren lässt (Z. 32 ff.) und damit zeigt, dass Gauß seiner Zeit damals bereits voraus war.