Aufgabe 1
Gedichtinterpretation
Thema:- Interpretiere das Gedicht.
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Obwohl unsere Städte ständig versuchen
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uns den Himmel vertrauter zu machen
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indem sie Aussichtspunkte
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Balkone Terrassen bereitstellen
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Obwohl sie behaupten man sehe von oben
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den womöglich zärtlichsten
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Punkt im All
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eine übergroße Murmel mit blauem Zentrum
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und sie uns Treppen und Aufzüge hochlocken
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uns die Sicherheiten zeigen
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Geländer und Netze
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die Schönheit
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der Leuchtreklamen
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Laster so klein daß wir uns selber
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riesig vorkommen
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Obwohl wir vom Lärm da unten
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fast schon betört sind
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hören wir manchmal das Flüstern der Dörfer
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und manchmal glauben wir etwas davon
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und springen
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wie Supermann
Anmerkung zur Autorin:
Silke Scheuermann (* 1973): deutsche Schriftstellerin Aus: Scheuermann, Silke: Flüsternde Dörfer. In: Conrady, Karl Otto (Hrsg.): Lauter Lyrik.
Der Kleine Conrady. Eine Sammlung deutscher Gedichte. Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2008, S. 770.
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- Das Gedicht Flüsternde Dörfer wurde von der Autorin Silke Scheuermann geschrieben und im Jahr 2004 veröffentlicht.
- Ihr Text konstatiert die Diskrepanz zwischen Tradition und Moderne in Bezug auf die heutige Großstadt. Die Autorin lässt ein Lyrisches Ich zu Wort kommen, das sich in der Wir-Form zu erkennen gibt und sich durch eine ambivalente Einstellung gegenüber der Urbanisierung auszeichnet.
Hauptteil
Formale Analyse
- Antithesen (z. B. „klein“, V. 14 und „riesig“, V. 15; „Lärm“, V. 16 und „Flüstern“, V. 18) verdeutlichen die Widersprüche zwischen der Stadt und dem Land sowie der riesigen Stadt und den kleinen Menschen, die in ihr wohnen.
- Die verwendeten Synästhesien (z. B. „die Schönheit der Leuchtreklamen“, V. 12 f.; „Lärm“, V. 16; „Flüstern“, V. 18) verdeutlichen die Vermischung verschiedener Sinneseindrücke bei der Betrachtung der Stadt. Die vielschichtige Wahrnehmung besteht aus auditiven und visuellen Eindrücken, die durch das Lyrische Wir beschrieben werden.
- Gleich zu Beginn des Gedichts soll die Alliteration „Städte ständig“ (V. 1) auf formaler Ebene betonen, wie die Städte permanent auf die Menschen einwirken.
- Die im Gedicht durchgehend vorhandenen Personifikationen (Vgl. V. 1-10) machen die Stadt deutlich lebendiger und unterstreichen die Interaktion zwischen den Menschen und der Stadt.
- In den Versen 19 und 20 verwendet die Autorin einen Anfangsreim, der passend zum inhaltlichen Vergleich mit Supermann für Dynamik sorgt.
- Die Bezeichnung „wie Supermann“ (V. 21) am Ende des Gedichts liefert an dieser Stelle auf anschauliche und eindringliche Weise einen Vergleich mit dem Menschen. Beim Hören der flüsternden Dörfer hegt das Lyrische Wir den Wunsch, zu springen (V. 21) und fliegt daraufhin so frei und kraftvoll wie der Superheld selbst. Das Springen und Fliegen verdeutlichen die Freiheit, die das Lyrische Wir mit dem ländlichen Leben assoziiert.
- Das Gedicht zeichnet sich durch seine außerordentlich freie Form aus: Der Leser ist mit einem fehlenden Reimschema und Rhythmus sowie fehlender Interpunktion konfrontiert. Stattdessen enthält das Gedicht zahlreiche Enjambements (z. B. V. 1 und 2; V. 8 und 9).
- Formale Auffälligkeiten bilden außerdem die drei Konzessivsätze im Gedicht, die jeweils mit der Konjunktion „Obwohl“ (V. 1, V. 5, V. 16) eingeleitet werden. Sie geben im Text Gegengründe bzw. Einschränkungen wieder und verstärken damit in den ersten beiden Fällen die Ambivalenz der Stadt. Im dritten Konzessivsatz wird die Diskrepanz zwischen dem Stadt- und Landleben verdeutlicht.
Inhaltliche Analyse
- Der Titel Flüsternde Dörfer weist auf die Ruhe der ländlichen Dörfer im Gegensatz zum lauten und lebhaften Stadtleben hin. Dieser Eindruck bestätigt sich auch im Laufe des Gedichts.
- Die angesprochenen Städte werden durch ihre „Aussichtspunkte“ (V. 3) und „Balkone“ (V. 4) automatisch mit Höhe in Verbindung gebracht. Die Wolkenkratzer sollen dem Menschen „den Himmel vertrauter [...] machen“ (V. 2) und versprechen vermeintliche Sicherheit („uns die Sicherheiten zeigen“, V. 10).
- Die Behauptung über die Städte, „man sehe von oben den womöglich zärtlichsten Punkt im All“ (V. 5 f.) erfüllt sich nicht. Die Städte haben jedoch eine anziehende Kraft auf die Menschen. Das Lyrische Wir wird von den Städten an die höchsten Punkte gelockt (Vgl. V. 19). Alle bewundern „die Schönheit der Leuchtreklamen“ (V. 12 f.) von oben und sind vom Lärm unter sich „fast schon betört“ (V. 17). Es scheint, als würde sich die Menschengruppe von den Städten blenden lassen.
- Nach der detaillierten und zu größten Teilen ambivalent-ironischen Beschreibung des Stadtlebens, die den quantitativ größten Teil des Gedichts ausmacht, widmet sich das Lyrische Wir der Beschreibung des Landlebens. In diesem Abschnitt des Gedichts tritt es deutlich zurückgehaltener auf. Das Lyrische Wir kann aufgrund der Verzauberung durch den Lärm der Städte nur noch selten „das Flüstern der Dörfer“ (V. 19) wahrnehmen. Die letzten drei Verse des Gedichts haben einen zuversichtlichen und kraftspendenden Charakter und akzentuieren das Vertrauen der Menschen zu den Dörfern (Vgl. V. 19-21). Es findet eine Rückbesinnung auf das traditionelle, ursprüngliche Leben statt.
- Das offene Ende lässt unklar, ob das Lyrische Wir den Absprung schafft und die Stadt verlassen kann. Bringen die Dörfer die Zuversicht und Kraft, die sich das Lyrische Wir erhofft? Erfüllt sich der Glaube an die flüsternden Worte der Dörfer (Vgl. V. 19) oder erfahren die Menschen ausschließlich Enttäuschung, ähnlich wie es bei den unerfüllbaren Behauptungen der Städte der Fall ist?
Schluss
- Scheuermanns Gedicht thematisiert die Unsicherheit und Skepsis der Menschen in Bezug auf das Leben in der (Groß-)Stadt, die Angst vor Modernisierung und Technik und im Gegensatz dazu der Gedanke an das kraftspendende Leben auf dem ländlichen Dorf.
- Die Autorin schafft damit einen enormen Aktualitätsbezug zur heutigen Zeit. Auch noch heute ist die (Groß-)Stadt für viele Menschen negativ konnotiert. Sie haben Angst, enttäuscht zu werden und auf graue Betonfassaden statt ländliche, freie Grünflächen zu stoßen. Anonymität, Hektik, Umweltzerstörung und Kriminalität bereiten ihnen Sorgen.
- Dabei geht der aktuelle globale Trend immer mehr in Richtung Urbanisierung. Die sogenannten Mega-Citys wachsen immer weiter. Städte sind nicht nur Lebensräume, sondern stellen bspw. auch wichtige Knotenpunkte und Akteure für die Wirtschaft und Politik dar.