Aufgabe 2

Sachtextanalyse

Thema:
Pieke Biermann: Sprachschluderei auf allen Ebenen
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Hörfunkbeitrag.
Material
Sprachschluderei auf allen Ebenen
Pieke Biermann
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Wenn sich hierzulande über Sprachliches erbost wird, geht es entweder um den
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unmittelbar bevorstehenden Tod der deutschen Sprache durch denglische Unter-
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wanderung und raumgreifende SMS-Twitter-Akronymik von OMG (oh my god)
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bis LOL (laughing out loud). Oder es geht um die politische Korrektheit einzelner
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Wörter. Immer wird – zurecht! – auf die engen wechselseitigen Beziehungen von
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Denken, Sprechen und Handeln verwiesen und von da geht’s ganz schnell ans
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ideologisch Eingemachte, um die Moral.
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Nur, wenn etwas besonders laut beschrien wird, drängt sich automatisch die
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Frage auf: Was wird da gleichzeitig beschwiegen?
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Globalesische Infiltrate, Kommunikationskürzel, die Frage, ob Zigeuner aus
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dem Wortschatz getilgt gehören und wenn ja, warum nicht – all das sind nämlich
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causes célébres : leicht von jedem Kontext isolierbare Leuchttürme, die durch lau-
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tes Beschreien sogar noch endlos weiter „zelebriert“ werden. Was dahinter kom-
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plett aus dem Blick rutscht, ist die alltägliche Sprachschluderei auf allen Ebenen.
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Und verglichen mit dem Dauerbeschuss sind Hexen und Negerkönige in Kinder-
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büchern Aerosolpartikel aus der Wasserpistole.
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Was keineswegs heißt, dass über die rassistische, sexistische, Hass und Gewalt
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fördernde Potenz von Sprache im Allgemeinen und einzelnen Wörtern im Beson-
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deren nicht mehr nachgedacht werden muss, im Gegenteil. Denn wie lernt man
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Sprache – die Muttersprache wie auch Fremdsprachen?
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Grob gesagt, indem man nachahmt, was man hört, und dabei logische Muster
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entdeckt, Normen, auf die man sich stützen, von denen aus man selbstständig
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weiterdenken und sprechen kann. Auch und gerade, um unmoralische Normen zu
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sprengen.
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Die Sprachvorbilder vervielfachen und verfeinern sich im Lauf des Lebens –
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vom Hören zum Lesen, von den Eltern über Schule, Fernsehen, Radio, Kino bis
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zu Zeitungen, Internet, Büchern. Flüchtlinge und Diplomaten erzählen gern, wie
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viel sie über populäre Massenmedien gelernt haben, nicht nur die neue, fremde
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Sprache, sondern auch, wie das neue, fremde Land tickt. Hierzulande ist das heute
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riskant. Unsere populärsten Fernsehserien und Kinofilme sind synchronisiert und
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nicht unbedingt in idiomatisch und grammatisch richtigem Deutsch, sondern
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zumeist nach dem Prinzip: „Hauptsache die Lippenbewegung passt!“
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Wo verlässliche Muster gebraucht werden, gilt das gesprochene Wort also bes-
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ser nicht. Und das geschriebene?
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Lesen bildet, heißt es. Die tägliche Zeitungslektüre allerdings – egal ob Boule-
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vard oder seriös – verbildet allzu oft. Es wimmelt von Satzfehlern, weil Korrek-
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turgänge aus Zeit- und Geldgründen entfallen. Die logische Beziehung von Haupt-
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und Relativsatz wird oft zur liaison dangereuse. Zum Beispiel: „Es soll ein Termin
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für die Nachwelt sein, dessen Urteil ihm so wichtig ist.“
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Dem republikweit belachten Phänomen „Rettet dem Dativ“ folgt seit einiger
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Zeit anscheinend „Rettet des Genitivs“: Man sucht „eine Kopfdeckung ähnlich
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eines Anglerhutes“ oder „frönt diverser Liebeleien“. Ganz zu schweigen von aku-
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ter Konjunktivitis und Satzzeichen aus dem Würfelbecher, auch bei feinsten Edel-
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federn.
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Unseren Einwanderern wird gern um die Ohren gehauen: Wenn ihr Integra-
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tion wollt, lernt erst mal richtig Deutsch! Ja – von wem denn? Schulen und
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Sprachkurse mal beiseite: von unseren Medien lieber nicht. Die bieten eher
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Einübung in schluderigen Umgang mit der Sprache, also auch in schludriges
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Denken. Und dabei schafft doch selbst ein kleines Komma den großen Unter-
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schied. Hier zum Beispiel: Der gute Mensch denkt an sich selbst zuletzt. Oder:
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Der gute Mensch denkt an sich, selbst zuletzt.

Aus: Biermann, Pieke: Sprachschluderei auf allen Ebenen, (12. 05. 2023).

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