Vorschlag D
Materialgestütztes Schreiben eines argumentierenden Textes (Kommentar)
Thema: Werktreue Aufgabenstellung:- Im Kulturteil einer Tageszeitung wird eine Debatte darüber geführt, ob Klassiker der Dramenliteratur im Theater werkgetreu, also möglichst textnah, inszeniert werden sollten. Die Zeitung bittet unterschiedliche Gruppen, dazu Stellung zu nehmen, u. a. auch Oberstufenschülerinnen und -schüler.
- Verfasse als Beitrag zu dieser Debatte einen Kommentar.
- Nutze dazu die folgenden Materialien 1 bis 6 und beziehe unterrichtliches Wissen und eigene Erfahrungen insbesondere hinsichtlich Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck ein.
- Formuliere eine geeignete Überschrift.
- Verweise auf die Materialien erfolgen unter Angabe des Namens der Autorin oder des Autors und ggf. des Titels.
- Dein Kommentar sollte etwa 1000 Wörter umfassen.
(100 BE)
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Wie soll man das Erbe für die Zukunft fruchtbar machen? Nun, auf alle Fälle zunächst einmal
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dadurch, dass man es neu bekannt macht. Die Zeiten der Klassiker-Überfütterung an den Schulen sind
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endgültig vorbei. Gott sei Dank. Vielleicht ist den Klassikern am meisten dadurch geschadet worden,
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dass man sie dazu missbraucht hat, unschuldige Schüler damit zu quälen, die sogenannte „richtige In-
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terpretation“ zu liefern. Und es gibt ja auch gute und wichtige Gegenwartskunst und -literatur.
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Aber so ganz ohne Kenntnis der Klassiker sollte man doch nicht sein Abitur machen. Nur muss der
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Unterricht so frisch sein, dass es Freude macht, sich damit zu beschäftigen, ohne falsche Ehrfurcht und
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Dünkel und ohne Instrumentalisierung!
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[...] Und welch eine Chance besteht heute für das Theater selbst! In dieser Situation, wo die Kenntnis
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der großen Stücke, auch eben Schillers, immer geringer wird, wo die Menschen, gerade die jungen
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Leute, wissbegierig und neugierig sind, diese Stücke erst einmal kennenzulernen, können die Theater
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ihre Anstrengungen ganz darauf konzentrieren, diese Stücke in ihrer Schönheit und Kraft, in ihrer
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Komplexität und ihrem Anspruch zu präsentieren.
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[...] Ein ganzer Tell, ein ganzer Don Carlos! Das ist doch was! Natürlich stellt uns die hohe Sprache,
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auch das Pathos Schillers heute vor Schwierigkeiten. Aber soll man ihn deswegen auf kleines Maß re-
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duzieren?
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Ich stelle mir vor, dass in der Berliner Nationalgalerie die Bilder von Caspar David Friedrich mit
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schwarzer Pappe beklebt würden, nur hier und da ließe man zwanzig bis dreißig Quadratzentimeter
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sichtbar bleiben. Wer würde das akzeptieren? Oder dass man bei einer Aufführung von Beethovens
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6. Sinfonie nur den ersten Satz nach der Partitur spielte, den zweiten als Blockflötenquartett und den
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Rest ganz ausfallen ließe oder rückwärts spielte. Wer möchte sich das gefallen lassen?
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Nur unsere klassischen Dramen konnten sich Jahrzehnte nicht dagegen wehren, in Stücke zerlegt und
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nach Gutdünken wieder zusammengesetzt zu werden. Ich habe meine Zweifel, ob auf solche Weise
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Kultur an die kommenden Generationen produktiv weitervermittelt werden kann. [...]
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Wie bekommt ein Stadttheater der Zukunft ein Publikum – in einer Stadt, in der die Hälfte der jungen
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Leute, die ja auch älter werden, einen Migrationshintergrund hat? Was heißt im Zuge dieser neuen
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Entwicklungen Weitergabe unseres kulturellen Erbes? Wie fruchtbar können Klassiker sein für gesell-
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schaftliche Integration? Für Identitätsfindung in einer kulturell gemischten Gesellschaft? Wie müssen
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sie gespielt werden, damit sie in ihren Problemkonstellationen als aktuell angesehen werden? [...]
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Gerade in Zeiten des Umbruchs, der auch für die individuellen Biographien zutiefst spürbar ist und
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immer mehr spürbar sein wird, brauchen wir eine kulturelle Selbstverständigung.
Anmerkungen zum Autor:
Horst Köhler (*1943) war von 2004 bis 2010 deutscher Bundespräsident. Aus: Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Schillermatinee im Berliner Ensemble am 17. April 2005; letzter Zugriff am 21.02.2021. Material 2 Das Gegenwartstheater zwischen Regietheater und traditioneller Form (2013) Andreas Englhart
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Der anhaltende Streit um das Regietheater ist eine Spezifität des deutschsprachigen Theaters, oder
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besser gesagt, des Sprechtheaters . [...] Im Sprechtheater muss die Regie jedoch entscheiden, welche
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Bedeutungen sie dem Stücktext in der Inszenierung verleiht: Ob sie ihn etwa „nur“ als Material be-
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trachtet, ob sie den Text „so lässt“, was fast nie der Fall ist, ob sie etwas streicht, umstellt, Fremdtext
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einfügt, den ganzen Text als Vorlage für eine eigene Version benutzt. Oder ob sie ihn so umschreibt,
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dass er – wie ein Palimpsest – mehrere Textschichten und Interpretationsmöglichkeiten erkennen oder
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erahnen lässt. [...] So etwas wie eine im Drama oder im Stücktext enthaltene Vorschrift, wie der Re-
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gisseur zu inszenieren habe – eine sogenannte implizite Inszenierung – , gibt es nicht. Denn jede Auf-
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führung ist das Ergebnis mehrerer Interpretationsakte und somit -perspektiven. Der Inszenierungspro-
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zess beinhaltet viele Ebenen der Interpretation: zunächst die Lektüre des gedruckten Textes, dann die
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Umsetzung auf der Bühne und nicht zuletzt die Interpretation des Bühnengeschehens durch den Zu-
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schauer. Regie führen bedeutet demnach, mehrfach zu interpretieren, was jede Forderung nach Werk-
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treue obsolet werden lässt.
Anmerkungen zum Autor:
Andreas Englhart (*1966) ist Professor für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Aus: Andreas Englhart: Das Theater der Gegenwart, München 2013, S. 9 f. Material 3 Wohin treibt das Theater? (2004) Andrea Breth
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Theater macht Sprache sichtbar. Es [...] ist polyphon, es flüstert, es schreit, es kann alle Saiten eines
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Textes anschlagen, es übersetzt Sprache in Körper, Gesten, in das Unausgesprochene, in das Ver-
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schwiegene, in Bewegung, in Pausen, in einen Blick, aus dem der Augenblick entsteht. Es übersetzt
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das Kopftheater des Lesens in ein Theater für Köpfe, es leiht dem Text den Herzschlag des Schauspie-
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lers. Doch vor der Sprache des Regisseurs muss die Sprache des Autors stehen, der Respekt vor dem
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Geschriebenen, vielleicht sogar ein Hauch von Demut.
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[...] Texte müssen einen auf Proben immer wieder überraschen. Wenn sie gut sind, sind sie immer
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klüger als der, der sie inszeniert und selbst als der, der sie geschrieben hat. [...]
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Hinzukommt, dass, was die Arbeit mit Klassikern betrifft, wir nicht mehr selbstverständlich davon
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ausgehen können, dass das Publikum, und vor allem das junge Publikum, die Stücke kennt, die wir
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dort auf der Bühne verhandeln. [...] Das Wissen des Publikums, seine Kenntnis der Stücke und ihres
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Bedeutungshorizontes, ermöglicht uns eine Freiheit der Interpretation und des Zugriffs, die fortschrei-
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tend mit der Bildungskrise und der medialen Verdummung verloren geht. Denn ohne ein Basiswissen
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über das, was dort auf der Bühne verhandelt wird, spielt jede Anspielung auf den klassischen Bil-
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dungskanon oder den historischen Rahmen des Stückes ins Leere.
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Unsere neuen Referenzmedien sind das Kino und das Fernsehen. Das muss man nicht bewerten, aber
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aus diesem Faktum erwächst uns die Pflicht, ein Erbe zu bewahren, das zu verschwinden droht. Das
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hat nichts mit musealem oder konservativem Theater zu tun, das ist kein Plädoyer gegen einen moder-
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nen Zugriff. Die Modernität eines Klassikers erschließt sich aber erst, wenn man ihn freilegt. Dies geht
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nur, wenn man ihn und seine Konflikte ernst nimmt. Versteht man Klassiker nur als Material, als Titel,
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die leichter die Häuser füllen, da es ja kein unbekanntes Stück ist und die Schulklassen sicher in die
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Theater hineingetrieben werden – macht man es sich so einfach, verrät man beides, das Stück und das
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Publikum.
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[...] Oft aber werden Klassiker nur mit einer zeitgenössischen Hülle versehen, einem Design, das
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wichtiger ist als das Sein des Stückes, und alles wird wegnivelliert, was uns nachhaltig irritieren
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könnte, weil es in unserem Leben nicht mehr verankert ist: Sei es die Religion, sei es die Moral, sei es
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das Tabu, die Utopie oder andere furchtbar unzeitgemäße Themen. Wir passen uns der Ästhetik der
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Medien an, suchen einen Wiedererkennungseffekt, der Erfolg verspricht, statt Irritation, Verunsiche-
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rung. Und wir bedienen uns dabei oft der Mittel, die im Fernsehen besser aufgehoben sind, weil sie
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dort auch professioneller beherrscht werden.
Anmerkungen zur Autorin:
Andrea Breth (*1952) ist eine deutsche Theaterregisseurin. Aus: Andrea Breth: Wohin treibt das Theater? Rede anlässlich der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2004, in: Theater heute 12 (2004), S. 16 ff. Material 4 Spiele mit neuen Regeln? Rollenverteilung im Regietheater (2008) Ortrud Gutjahr
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Mit dem Regietheater kommt dem Regisseur eine neue Rolle als Autor zu, insofern er seine Auseinan-
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dersetzung mit dem Text und den ihn tangierenden Künsten und Diskursen in seiner Inszenierung
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kommuniziert. Durch die Aufführung wird gleichsam ein theatraler Text geschaffen, der sich in ein
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intertextuelles Verhältnis zum literarischen Werk wie auch zur eigens erstellten Spielfassung setzt.
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Auf der Suche nach neuen Erkenntnis- wie Darstellungsmöglichkeiten hat sich die Regie von der Re-
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konstruktion und Deutung eines teilweise sakrosankt gesetzten Textes aufgemacht zur Neukonzeption
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eines Erfahrungsraumes auf der Bühne, in dem der theatrale Hypertext in eine vielschichtige Ausei-
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nandersetzung mit Diskursen, Künsten und Medien geführt wird. Regietheater ist so gesehen ein Thea-
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ter der Auseinandersetzung, dem es in der Inszenierung historischer wie zeitgenössischer Stücke um
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die Befragung der Gegenwart geht.
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Abwegig ist daher die Annahme, ältere Inszenierungskonzepte, die sich dezidiert in den Dienst der
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Dramen stellen, würden eine werkgetreue Aufführung ermöglichen, während das Regietheater die
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Texte notwendig verfehlt. Vielmehr wird mit der Entgegensetzung von Werktreue und Regietheater
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eine Differenz „dramatisiert“, die es so gar nicht geben kann. Denn ein literarischer Text ist anhand
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gattungsspezifischer Analysekategorien in seiner Struktur zwar beschreibbar, aber sein Sinn lässt sich
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nicht an ihm selbst festmachen, weil sich dieser durch die Auslegung und Sinngebung des jeweiligen
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Lesers überhaupt erst ergibt. [...]
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Die immer wieder gestellte Forderung, ein Werk müsse in ungekürztem Wortlaut zur Aufführung ge-
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langen, gibt der Befürchtung Ausdruck, dass mit dem Regietheater die theatral adäquaten Erinnerungs-
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formen für ein kulturelles Erbe zerstört werden. Mit dem Ruf nach Werktreue wird aber auch die Not-
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wendigkeit laut, die eigene Rezeptionshaltung zu überdenken, und zwar nicht nur die gegenüber litera-
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rischen Werken, sondern auch die gegenüber Inszenierungen. Dann könnte auch in den Blick kom-
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men, dass sich Werktreue in der engagierten und sachlich fundierten Auseinandersetzung mit einem
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Text erweist, bei der dessen Rezeptionsgeschichte und Inszenierungspraxis ebenso Berücksichtigung
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finden wie die Reflexion auf eigene Erkenntnisinteressen und Deutungsansätze. [...]
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Die prinzipielle Vieldeutigkeit des Textes konkretisiert sich für die Zuschauer unmittelbar sinnlich
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wahrnehmbar durch die szenische Vergegenwärtigung auf der Bühne, aber durch die Polyvalenz der
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eingesetzten theatralen Zeichen eröffnen sich zugleich auch andere Bezüge und Deutungsebenen.
Anmerkungen zur Autorin:
Ortrud Gutjahr (*1954) ist eine deutsche Professorin für Germanistik. Aus: Ortrud Gutjahr: Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt, Würzburg 2008, S. 21 ff. Material 5 Georg Büchners „Woyzeck“ in der Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne (2003) Hartmut Krug
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Büchners lumpenproletarischer Stadtsoldat Woyzeck ist an der Schaubühne im ostdeutschen Elend
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und Niemandsland gelandet. Bühnenbildner Jan Pappelbaum hat für den Fremdling eine riesige, das
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Publikum seitlich umschließende Panoramalandschaft gebaut. Am Rande einer Betonsenke, in deren
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Grund ein riesiges Abflussrohr in einer Pfütze endet, steht ein Imbisswagen mit Stapelstühlen und
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Mobilklo. Kein Durchgangsort, sondern ein steinern trübseliger Treffpunkt für Leute ohne Hoffnung.
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Die Autobahn, deren mächtige Pfeiler die zerstörte, leere Landschaft verstellen, scheint direkt drüber
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wegzuführen, während sich im Hintergrund die gemalten Plattenbauten staffeln. Zwar wird nicht recht
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klar, wer eigentlich dieser Woyzeck ist und was er hier tut. Doch wenn Bruno Cathomas auf die
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Bühne radelt, weiß man sofort: Dieser Woyzeck ist ein Loser. Von seiner zu engen Kleidung, einer
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erdfarbenen Jacke und einer zerknautschten braunen Hose, zusammengedrückt zu dicklicher Un-
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förmigkeit, fischt er mit eingezogenem Hals und tumb staunenden Augen in der Pfütze. Dann dröhnt
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Musik, eine Gang von jungen Männern in schwarzem Leder tritt auf, und während ein angeleinter
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Schäferhund aufgeregt bellt, wird Woyzeck zusammengeschlagen. Ohne ein Wort, ohne Begründung,
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ganz selbstverständlich. Wahrscheinlich ist er einfach ein Außenseiter ...
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Eine wortlose halbe Stunde ist bis zu dieser Szene vergangen. In dieser Zeit hat Regisseur Thomas Os-
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termeier rund um den von Woyzecks Kumpel Andres betriebenen Imbisswagen viel Atmosphäre in-
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szeniert: mit Vogelgezwitscher und Hubschrauberlärm, mit westlichem Imbissbesitzer und osteuropäi-
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schem Mädchen. [...] Die brachiale Gewalt, mit der Ostermeier Büchners Fragment ins heutige Ost-
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deutschland verfrachtet, kümmert sich in keiner Szene um die innere Begründung von Verhalten und
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Haltungen der Figuren. Und sie zieht die bei Büchner fragmentierten, ständig den Ort wechselnden
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Szenen zu einem durchgehenden Geschehen in der Betonkuhle zusammen. [...]
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Alles in dieser Inszenierung ist derb. Büchners Jahrmarktsszene wird zum Grillabend mit Filmvorfüh-
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rung. Statt des klugen Pferdes gibt es eine tote Katze. Deren ausgeweidete Innereien legt der Doktor
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auf den Grill, während Marie einen Bauchtanz vorführt. Christina Geiße ist eine kräftig-resolute Ma-
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rie, die in dieser von Männerritualen und Hackordnungen bestimmten Welt ihr kleines bisschen Be-
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friedigung zu finden sucht. Weshalb sie auch gerührt selbst das Märchen vom einsamen Kind spricht.
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Eine Großmutter gibt es nicht. Woyzeck tötet schließlich Marie in einer wahren sexuellen Gewaltor-
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gie. Während der Beat dröhnt, sticht er mit heftigen Beischlafbewegungen in wechselnden Stellungen
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unentwegt in den Körper der Frau.
Anmerkungen zu den Autoren:
Hartmut Krug (*1946) ist ein deutscher Theaterkritiker und Publizist, tätig für Fachzeitschriften und Rundfunksender.
Thomas Ostermeier (*1968) ist künstlerischer Leiter und Regisseur an der Schaubühne Berlin. Aus: Hartmut Krug: Georg Büchners „Woyzeck“ in der Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne (21.05.2003); letzter Zugriff am 16.03.2022. Material 6 Ein Woyzeck, der rührt und bewegt (2019) Eva-Maria Reuther
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In der Bürgersparte des Theaters Trier hatte Georg Büchners Drama „Woyzeck“ mit ausgesprochen
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engagiertem Spiel Premiere. [...] Der „Woyzeck“ ist – das sei gleich vorab gesagt – ein Wahnsinns-
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drama, das nichts von seiner Faszination und Komplexität verloren hat. Es verdient allergrößten Res-
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pekt, dass sich Theaterpädagogin und Regisseurin Nina Dudek und ihr generationenübergreifendes
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Laien-Ensemble an diesen höchst anspruchsvollen Stoff gewagt haben [...]. Tatsächlich präsentiert
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sich der Trierer „Woyzeck“ gleich bei der Premiere im Studio des Theaters als ein Projekt, dem sich
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die Schauspieler hochengagiert widmen. So vergeht der eineinhalb Stunden dauernde Theater-Abend
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auch als eine zügige bunte Aufführung, die ausgesprochen bewegende wie sehr poetische Momente
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hat. Schlüssig sind auch die Symbole des Bühnenbildes (Bühne: Nina Dudek). Ein paar Baumstämme
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und ein Wasserbecken als Teich stehen für die ambivalente Natur, die wie in jedem Menschen auch in
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Woyzeck gleichermaßen tröstlich wie bedrohlich mächtig ist. Hoch auf ihrem Podest sitzen die hohen
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Herren, Woyzecks Peiniger, Arzt und Hauptmann. Dagegen schaut das einfache Volk aus der Röhre,
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hier aus aufgetürmten Tonnen. All das ist eindrücklich. Allerdings fehlt es der Inszenierung an szeni-
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scher und dramaturgischer Phantasie. Dudek lässt in einer Art neo-realistischen Szenenfolge solide am
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Text entlang spielen [...]. „Was ist der Mensch?“, ist die zentrale, ungeheuer aktuelle Frage dieses
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Stücks, ein biologisch gesteuerter Organismus oder ein sozial bestimmtes Wesen? Für Büchner ist er
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vordringlich ein gesellschaftliches Produkt, im Fall der „einfachen“ Leute und in Woyzecks Fall im
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Besonderen das Opfer einer dünkelhaften Ständegesellschaft und ihrer beschränkten Konventionen.
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Dudek zeigt dazu keine klare Haltung und verzichtet auch auf den Nachweis der Aktualität ihres
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Stücks durch entsprechende Verweise. Das ist ein ausgesprochenes Defizit dieser Aufführung. Statt-
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dessen belässt sie es bei der reinen Parabel und setzt auf poetische Bilder, das burlesk Volksnahe ein-
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schließlich seiner Lieder sowie den Psychoterror der Wahnvorstellungen.
Anmerkungen zur Autorin:
Eva-Maria Reuther ist eine deutsche Kulturjournalistin, die unter anderem für die Tageszeitung „Trierer Volksfreund“ tätig ist. Aus: Eva-Maria Reuther: Ein Woyzeck, der rührt und bewegt (10.11.2019); letzter Zugriff am 28.02.2021. Die Rechtschreibung der Materialien entspricht den jeweiligen Textvorlagen.
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Überschrift
- Klassiker im Theater: Werkgetreu oder zeitgemäß interpretiert?
Einleitung
- Die Frage nach der werkgetreuen Inszenierung von Klassikern birgt eine grundlegende Herausforderung, die es im folgenden Kommentar unter Berücksichtigung des 1877 erschienenen Dramenfragments Woyzeck, geschrieben von Georg Büchner, zu diskutieren gilt.
- Es sollen sowohl Stimmen, die dafür plädieren, die Ursprünglichkeit des Textes zu bewahren, als auch die andere Seite, die sich für eine moderne Inszenierung von Klassikern ausspricht, zu Wort kommen. Ebenfalls möchte ich meine eigene Perspektive zum Ausdruck bringen.
Hauptteil
- Einige Stimmen sagen, dass es notwendig sei, kulturelles Erbe bekannt und für nachfolgende Generationen „fruchtbar“ (M1) zu machen. Häufig kommt es an Schulen nur leider zu einer regelrechten „Klassiker-Überfütterung“ (M1). Man plädiert stattdessen für einen frischen Unterricht ohne Instrumentalisierung oder Ehrfurcht. Das Theater und seine modernen Inszenierungen können die Neugier der Jugendlichen, Klassikerlektüren zu lesen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, deutlich stärken.
- In Zeiten des gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Umbruchs können Klassikerlektüren Problematiken für ihre Leser*innen nahbar machen (M1). Das würde ebenfalls für eine moderne Inszenierung von Klassikerlektüren sprechen. Die Gesellschaft soll über klassische Werke nachdenken und diskutieren. Die Beschäftigung mit Klassikern, ausgehend von einer modernen Inszenierung, fördert bspw. auch die Fähigkeit zur kritischen Reflexion sowie der Auseinandersetzung mit veränderten gesellschaftlichen Normen und Werten. Ebenfalls erhalten Zuschauer*innen moderner Inszenierungen die Möglichkeit, ihre eigene kulturelle Identität zu verstehen, indem sie sich mit den in den Werken präsentierten Werten und Normen auseinandersetzen. Klassikerlektüren können ebenfalls einen Beitrag zur Förderung gesellschaftlicher Integration und Identitätsfindung in einer kulturell diversen Gesellschaft leisten (M1).
- Für eine moderne Inszenierung von Klassikern spricht ebenfalls, dass die Auseinandersetzung mit dem Werk und der moderne Bezug auf die heutige Welt, dem Publikum dabei helfen, die damaligen gesellschaftlichen und sozialen Probleme besser nachzuvollziehen und eventuelle thematische Verbindungen zwischen Büchners literarischen und unserer heutigen Welt zu schließen. Das Dramenfragment Woyzeck gilt als Beispiel für die zeitlose Relevanz von Theaterkunst. Woyzeck porträtiert auch noch heutige aktuelle Themen wie Armut, Hoffnungslosigkeit, psychische Belastung, soziale Ungerechtigkeit und ein Leben im gesellschaftlichen Abseits. Eine insbesondere für jüngere Menschen ansprechende Inszenierung, die die ursprüngliche Intention des Autors bewahrt und trotzdem die Brücke zur aktuellen Zeit schlägt, könnte enorm dazu beitragen, die Faszination für Klassikerlektüren zu bewahren bzw. wieder aufleben zu lassen.
- Auf der anderen Seite könnte man natürlich auch damit argumentieren, dass gerade eine werkgetreue Inszenierung des Dramenfragments Woyzeck, es dem Publikum erlaubt, sich besser in die historischen Umstände hineinzuversetzen als eine moderne Inszenierung, die nur vermeintliches Identifikationspotenzial besitzt. Mit einer werkgetreuen Inszenierung wird zusätzlich die historische und kulturelle Bedeutung sowie die ursprüngliche Absicht von Georg Büchner bewahrt. Der Autor hat das Drama Woyzeck für gesellschaftliche Belange funktionalisiert. Die soziale Determiniertheit des Menschen steht im Vordergrund des Werks. Die Figur Woyzeck zeichnet sich weder durch Individualität noch Subjektivität aus. Hinter diesen Aspekten lässt sich möglicherweise eine Absage an die Maxime der Aufklärung erkennen, die Büchner bewusst intendiert haben könnte. Der Autor verzichtet in Woyzeck ebenfalls bewusst auf die Finalität und Geschlossenheit des Werks und somit bleibt Woyzeck ein Fragment. Dieser Aspekt korrespondiert auf inhaltlicher Ebene wiederum mit der damaligen Zerrissenheit der Welt. Die Gesellschaft zeichnet sich durch Missstände, ungerechte soziale Konstitutionen sowie grundverschiedene Milieus, Lebensweisen und Verhaltensformen aus. Büchner bringt keinesfalls ein geschlossenes und einheitliches Weltbild zum Ausdruck. Mit seiner Form distanziert er sich auch von der literarischen Bewegung des Jungen Deutschlands. Insbesondere kritisiert er den mangelnden Realitätsbezug dieser Epoche.
- Generell kann man sich fragen, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, Klassiker auf ein kleines Maß zu reduzieren, um sie bspw. für Schüler*innen vermeintlich zugänglicher zu machen (M1, M3). In anderen Kunstformen wie der Musik und Malerei erscheint die fragmentarische Darbietung von Musikstücken oder Gemälden ebenfalls inakzeptabel (M1).
- Büchners Woyzeck zeichnet sich zusätzlich durch seine bewusst gesetzten, vielschichtigen sprachlichen Besonderheiten aus, die erst und ausschließlich durch die werkgetreue Inszenierung seines Werks, seine angemessene Wertschätzung erhalten. Die Bedeutung von Textualität, die Authentizität des Werks und Büchners einzigartige Sprache stehen bei werkgetreuen Inszenierungen somit deutlich im Vordergrund.
- Der Originaltext des Dramenfragments Woyzeck könnte jedoch für einige Zuschauer*innen aufgrund seiner Sprache, seines Stils sowie seiner komplexen Struktur und der Vielschichtigkeit seiner Charaktere zu anspruchsvoll sein. Eine moderne Anpassung des Sprachgebrauchs könnte dazu beitragen, den Klassiker verständlicher zu machen und seine Botschaft deutlich effektiver zu vermitteln.
- Eine starre Werktreue gilt in der Theaterkunst heutzutage oft als unzeitgemäß und nicht praktisch umsetzbar, da jede Theateraufführung das Ergebnis verschiedener Interpretationsperspektiven ist (M4) und keine expliziten Vorschriften an den Regisseur vorhanden sind, die vorschreiben, wie das Werk auf der Bühne konkret umgesetzt oder inszeniert werden soll (M2). Die Vielfältigkeit in der Interpretation von Dramen zeigt sich nicht nur an der unterschiedlichen Umsetzung auf der Bühne, sondern fängt bereits beim Lesen der Lektüre an und zieht sich bis zur Interpretation des Bühnengeschehens hindurch (M2). Man könnte sogar so argumentieren, dass die Unterscheidung zwischen Werktreue und Regietheater gar nicht existiert, da der eigentliche Sinn eines Werks nicht allein durch den Text selbst, sondern erst durch die Auslegung der Leser*innen bzw. Zuschauer*innen entsteht (M4). Eine flexiblere Herangehensweise in Bezug auf die Inszenierungen von Klassikern passt somit deutlich besser in unsere heutige Zeit. (M2)
- Ebenfalls kann das Theater als Ort der Reflexion über die eigene Rezeptionshaltung gegenüber literarischen Werken als auch Inszenierungen, vielschichtigen Diskursen und als generelle Auseinandersetzung mit dem Text, der auf der Bühne inszeniert wird, gesehen werden (M4). Der Regisseur bringt in seiner „neue[n] Rolle als Autor“ (M4) seine eigene Auseinandersetzung mit dem Text und anderen künstlerischen Elementen der Inszenierung zum Ausdruck (M4). Die Freiheit in der Interpretation und Deutung sowohl des Regisseurs als auch des Publikums würde durch ein statisches Vorgehen zu sehr verloren gehen. Die Inszenierung sollte somit Raum für kreative Interpretation bieten. Die angemessene Auseinandersetzung mit einem Werk kann diese Interpretationsvielfalt überhaupt erst ermöglichen (M3, M4). Werktreue kann demnach auch als engagierte Auseinandersetzung mit dem Text verstanden werden (M4).
- Die theatrale Inszenierung umfasst nicht nur den eigentlichen Text, sondern auch visuelle und akustische Reize oder emotionale und provokante Elemente (M5, M6). Insbesondere die emotionale Wirkung des Dramas kann durch kreative Inszenierungen verstärkt werden und ermöglicht, die Zuschauer*innen auf einer weitaus persönlicheren Ebene anzusprechen. Die künstlerische Umsetzung verleiht dem klassischen, anspruchsvollen Werk Woyzeck außerdem eine zeitgemäße Note (M6). Diese kreative Neugestaltung eines Klassikers wie Woyzeck steht im Gegensatz zur klassischen Auffassung von Dramen, fesselt das Publikum regelrecht, fordert es zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Text heraus und zeigt die Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten und -perspektiven (M2, M3, M4, M5).
- Man sollte sich jedoch bewusst sein, dass der zunehmende Verlust von Basiswissen über Klassiker, insbesondere innerhalb des jungen Publikums, zunehmend auch zu einem Verlust an interpretatorischer Freiheit führen kann. (M3) Deshalb bedarf es als Voraussetzung für die Interpretation dringend einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk, d. h. einem grundsätzlichen Verständnis für das Werk z. B. hinsichtlich des historischen Kontextes (M3). Dieses Argument spricht wiederum dafür, dass eine ausgewogene Balance zwischen historischer Originalität und kreativer, zeitgemäßer Innovation von Vorteil sein könnte.
- Andererseits lässt sich damit argumentieren, dass der geschriebene Text durch die Art von Neugestaltung auf der Bühne keineswegs mehr geachtet wird. Aufgrund der typischen Anpassung des Werks an die heutige Medienästhetik und der Suche nach Wiedererkennungseffekten kann die Respektierung und Anerkennung des Autors und seines Textes nicht mehr gewährleistet werden (M3). Insgesamt kann man sagen, dass die Werke nicht einfach oberflächlich modernisiert werden sollten, nur um ein möglichst breites zeitgenössisches Publikum anzusprechen (M1, M3).
- Außerdem bleibt es fraglich, ob die moderne Inszenierung das klassische Werk überhaupt in einen zeitgemäßen Kontext setzt (M6), da die Inszenierung häufig keine expliziten Verweise auf die Aktualität der gesellschaftlichen Themen oder Haltungen hinsichtlich der zentralen Fragen des Stücks bietet. Die Verbindung zwischen gestern und heute entsteht teilweise auch erst durch die Sinngebung und Reflexion der Zuschauer*innen, die jedoch nicht von außen sichtbar sein muss, da diese auch intrapsychisch vollzogen werden kann. Statt dramaturgischer Fantasie und Innovation folgt die Inszenierung einer schlichten „neo-realistischen Szenenfolge“ (M6), die sich durch eine Distanz zur Wirklichkeit auszeichnet (M6).
Schluss
- Die Frage nach der werkgetreuen Inszenierung oder zeitgemäßen Interpretation klassischer Werke wie Büchners Woyzeck ist Teil einer komplexen und facettenreichen Diskussion. Der Mittelpunkt dieser Debatte ist die Frage: Wie schafft man es, sowohl die Originalität klassischer Stücke als auch die kreative Freiheit der Theaterregisseure und Zuschauer*innen gleichermaßen zu gewährleisten?
- Meiner Meinung nach ist es mit Sicherheit notwendig, die kulturelle Bedeutung von Klassikern zu bewahren und sie zugleich zeitgemäß für das heutige Publikum zu gestalten, sodass das Wesentliche der Stücke nicht verloren geht. Somit wird die ursprüngliche Intention des Autors weiterhin gewahrt, der Text aber in einen aktuellen Kontext gesetzt, um die davon ausgehende Relevanz und sein Identifikationspotenzial für das Publikum nahbar zu machen.
- Theater gilt als lebendiger Raum, in dem klassische Werke tagtäglich zeitgemäß inszeniert werden können, ohne ihre kulturelle Bedeutung komplett zu verlieren. Das zeigt, dass auch (scheinbar) Unvereinbares miteinander vereint werden kann.