Vorschlag C
Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Arbeitsauftrag
Thema: Zur Bedeutung von Lyrik Florian Bissig (* 1979): Ein Auslaufmodell der Literatur? Warum wir Lyrik heute wieder dringend brauchen (2018) Aufgabenstellung:- Stelle den Argumentationsgang des Meinungsbeitrags von Florian Bissig dar und erläutere die Intention des Textes. (Material)
- Erörtere ausgehend vom Text (Material) die These von Florian Bissig, dass „wir Lyrik heute wieder dringend brauchen“. Beziehe dabei auch eigene Erfahrungen mit der Lektüre von Gedichten ein.
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Eigentlich geniesst die Lyrik den Status einer aktuellen Kunstform. Die renommierteste deutschspra-
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chige Literaturauszeichnung, der Georg-Büchner-Preis, wurde gleich zweimal in Folge an einen Lyri-
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ker verliehen. Der Dichter Jan Wagner erhielt ausserdem den Preis der Leipziger Buchmesse. In der
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Schweiz widmen sich viele Autoren aller Generationen der Lyrik und haben damit intakte Chancen
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auf eine Vielzahl von Auszeichnungen und Werkbeiträgen.
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In jüngerer Zeit hat sich die Dichtkunst mit Poetry Slams und allerlei Performances verquickt und ver-
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jüngt und ist so ein gefragter Teil der Kulturszene. Dabei löst sich die Dichtkunst keineswegs bloss als
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Recycling-Material in den neuen Formen auf.
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Es ist zugleich eine Renaissance der klassischen Gedichtformen, wie dem Sonett, zu beobachten. Die
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Akzentuierung des Kunstvollen, die Abhebung von der Alltagssprache ist wieder zur schöpferischen
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Möglichkeit geworden, jedoch meist in einem spielerischen Gestus.
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Die Lektüre von moderner Lyrik passt überdies bestens zum Zeitgeist und zu den heutigen Lebensge-
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wohnheiten. Information und Unterhaltung werden überall und in kleinen Häppchen konsumiert. Ge-
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dichte weisen oft eine Abgeschlossenheit und Kürze auf, die auch in einer bescheidenen Aufmerksam-
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keitsspanne erlaubt, ein kleines Kunstwerk in Gänze zu erfassen.
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Ein kompletter Kunstgenuss innert Sekunden, das müsste vielen Heutigen gelegen kommen. Nicht
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zuletzt schärfen moderne Gedichte den Blick für das Nebensächliche und problematisieren das schein-
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bar Selbstverständliche, gleichsam als verdichtete Reportage.
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So ist es naheliegend, dass die Lyrik, bei aller Kürze und Handlichkeit, mit dem scharfen Blick auf
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Konvention und Sprachgebrauch auch zur expliziten Medienkritik werden kann. In impliziter Weise
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ist die Lyrik ein Gegenstück zum Informations-Business. Während Nachrichten Konsumartikel sind,
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die innert Minuten obsolet werden können und in denen die Sprache als blosses Instrument verwendet
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wird, pflegt die Lyrik einen bewussten Sprachgebrauch und beansprucht überzeitliche Gültigkeit.
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Die Begründer der romantischen Dichtung Englands, Wordsworth und Coleridge, gingen so weit, ihre
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Lyrik als Gift gegen das „entwürdigende Verlangen nach skandalöser Stimulation“ aufzufassen, wel-
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ches die Massenmedien schürten. Die Dichter geisselten die Sehnsucht nach im Stundentakt eintref-
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fenden Neuigkeiten. Das war um 1800, als die News noch per Schiff und Postkutsche erwartet wur-
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den. Was die beiden Dichterkollegen von den heutigen Smartphone-Zombies gehalten hätten, die nur
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noch im Notfall vom Bildschirm aufblicken, lässt sich nur erahnen.
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Die Zwiespältigkeit der Gefühle zwischen den Dichtern und den Medien beruht auf Gegenseitigkeit.
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In den Redaktionen überwiegt der Thematisierung der Lyrik gegenüber jene Skepsis, die allen Themen
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anhaftet, die im Verdacht stehen, Vorwissen vorauszusetzen. Darauf bedacht, ihre Leser nicht als An-
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hänger eines dünkelhaften Bildungsbegriffs zu behandeln, stecken die Zeitungsmacher den Bereich
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des Zumutbaren immer enger. Das bedeutet, dass sich ein öffentlicher Diskurs auf die westliche litera-
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rische Tradition beschränkt und die Gegenwartsliteratur nur noch unter dem Scheinwerferlicht der
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Bestsellerliste betrachtet wird.
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Freilich sind die privaten Medien keine Bildungseinrichtungen. Ihre verkürzten Zugriffe auf die litera-
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rische Tradition sind nicht Ursache, sondern Symptom eines Wandels. Als Werbeträger müssen sich
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Zeitungen immer konsequenter daran ausrichten, was die Aufmerksamkeit des Lesers zu erhalten ver-
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spricht. Und der Zeitungsleser, insofern er erforscht und vermessen ist, möchte anscheinend gross-
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mehrheitlich nichts über anspruchsvolle oder abseitige kulturelle Erzeugnisse erfahren.
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Diese Erkenntnis überrascht kaum, wenn man sie mit den Zahlen abgleicht, die jeder Lyrik-Verleger
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zähneknirschend wird bestätigen müssen. Die Lyrik hat reichlich Autoren, Verleger, Förderer, Für-
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sprecher und Kritiker, aber kaum Leser ausserhalb dieser Kreise.
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Und so steht die Lyrik im Kampf um ein Plätzchen im öffentlichen Diskurs auf verlorenem Posten. Sie
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wird nicht gelesen und daher praktisch nicht besprochen, und umgekehrt. Weit entfernt sind wir von
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Friedrich Schlegels Idee eines produktiven ewigen literarischen Gesprächs, mit deren praktischer
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Umsetzung es freilich schon zur Zeit der Frühromantik haperte. Warum scheitert jeder Versuch eines
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Gesprächs über Lyrik? Und wieso ist es der Versuch trotzdem wert?
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Die Antwort auf beide Fragen ist ein und dieselbe: Weil Lyrik als „schwierig“ gilt und ihre Lektüre
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den Wunsch nach Eindeutigkeit frustriert. Lyrik ist typischerweise nicht zu lesen und sogleich zu ver-
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stehen wie ein Sachtext oder realistischer Erzähltext. Oft ist sie in die subjektive Färbung eines lyri-
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schen Ichs getaucht, oder es dominieren klangliche, grafische oder überhaupt sprachliche Elemente
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das Wesen eines Gedichts – und nicht etwa die blosse Kommunikation eines spezifischen Inhalts.
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Als überfordernd müssen Gedichte dem verschüchterten Leser notwendig scheinen, wenn er das Ver-
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stehen eines Gedichts als Verstandesurteil anstrebt, wenn er also beansprucht, es begrifflich ganz zu
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erfassen. Beim Betrachten eines abstrakten Gemäldes oder beim Anhören einer Symphonie ist man
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bereit, sich genüsslich dem freien Spiel der Gemütskräfte hinzugeben. Bei der Wortkunst hingegen
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wird stets ein handfestes Verständnis angestrebt, das bei den meisten lyrischen Formen nicht zu haben
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ist.
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Dem Wunsch nach sprachlicher Klarheit und Eindeutigkeit – der gewiss einer natürlichen menschli-
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chen Sehnsucht nach Orientierung und Sicherheit entspricht – kommen die populistischen Parteien
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entgegen. Sie beanspruchen, über die einzig richtige Einschätzung jeder Sachlage zu verfügen. Von
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ihren Anhängern erwarten sie unmissverständliche Gefolgschaft. Zweifel an ihrer Darstellung, eine
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eigenständige Überprüfung oder ein vorsichtiges Abwägen von Für und Wider: All das ist nicht er-
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wünscht.
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Was Populisten suggerieren, ist betrügerisch. Die Welt, die Probleme und ihre Lösungen sind keines-
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wegs klar und eindeutig. Eine demokratische Diskurskultur bedingt das Hinterfragen und Differenzie-
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ren, doch wir sind dem ferner denn je. Rund um die Fake News ist zwar eine Debatte um die Relevanz
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von Wahrheit und Journalismus entstanden.
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Doch der laute Streit um wahr und falsch übertönt Stimmen der Differenzierung. Eine Gesellschaft,
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die nicht die Manipulationsmasse von Populisten sein will, braucht den Mut, den voreiligen Dualismus
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von wahr und falsch und von gut und böse zu meiden und sich offen zu halten für das Uneindeutige
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und Unvertraute.
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Die Lektüre von Lyrik ist zugleich ein Übungsfeld und ein Ort der Ermächtigung, auf dem der Um-
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gang mit Vieldeutigkeit, Mehrschichtigkeit und Perspektivität erlernt und geprobt werden kann. Wer
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ein dichterisches Kunstwerk in der Uneindeutigkeit seines Sinns und in der Flüchtigkeit seiner Wahr-
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heitsansprüche ernst nimmt und zu verstehen versucht, wird lernen, dass es nicht die eine richtige Aus-
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legung gibt – sondern verschiedene Auslegungen, die durch je andere Kontexte, Argumente und Her-
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angehensweisen gestützt werden.
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Die Bereitschaft, die überfordernde Erfahrung der Mehrdeutigkeit auszuhalten, ist offenbar verloren
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gegangen. Man ist auf das klare Urteil aus. Wer nicht klar Position bezieht, wird in der Debatte über-
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vorteilt und übertrumpft. Das ist eine schlechte Ausgangslage für eine Vielzahl an aktuellen gesell-
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schaftspolitischen Themen – wie gerade beispielsweise den Wandel der Geschlechterverhältnisse und
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Identitäten.
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Hier verpasst das Wichtigste, wer kein Gehör für Ambiguitäten und Untertöne hat, und versäumt die
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Chance, den neuen Horizont auszuloten, in dem die neuen Phänomene erst erkennbar werden.
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Wir können nicht anders, als interpretierend durch die Welt gehen. Die Besinnung auf Wahrheit und
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Fakten ist löblich, doch sie reicht nicht aus. Denn die Welt besteht nicht aus Fakten, sondern sie ist ein
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Ensemble unserer Interpretationen. „Komm, leg die Welt aus mit dir“, forderte Paul Celan. Das sollte
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man einer Gesellschaft, die gerade auf ein kompetenzorientiertes Bildungssystem umstellt, nicht
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zweimal sagen müssen. Mit der überschaubaren Welt eines kurzen Gedichts könnte ein Anfang ge-
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macht werden.
Anmerkungen zum Autor:
Florian Bissig (*1979) ist ein Schweizer Kulturjournalist. Aus: Florian Bissig: Ein Auslaufmodell der Literatur? Warum wir Lyrik heute wieder dringend brauchen (10.03.2018); letzter Zugriff am 29.01.2021. Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textvorlage (schweizerische Orthografie).
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Einleitung
- Der Artikel Ein Auslaufmodell der Literatur? Warum wir Lyrik heute wieder dringend brauchen stammt von dem Autor und Schweizer Kulturjournalisten Florian Bissig und ist 2018 im St. Galler Tagblatt erschienen.
- Der Text handelt von der heutigen Bedeutung der Lyrik und dem gesellschaftlichen Umgang mit Ambiguität und Vieldeutigkeit.
Hauptteil
Argumentationsgang und Intention des Autors- Der Autor beginnt seinen Zeitungsartikel mit der Feststellung, dass Lyrik heutzutage noch „den Status einer aktuellen Kunstform“ (Z. 1) besitzt. Als Beispiele nennt er, dass renommierte deutsche Auszeichnungen an Lyriker verliehen wurden und die Dichtkunst durch „Poetry Slams und allerlei Performances“ (Z. 6) einen festen Platz in der Kulturszene einnimmt (Vgl. Z. 1-7).
- Bissig betont dabei jedoch, dass sich die Lyrik nicht nur in neuen Formen auflöst, sondern auch die klassischen lyrischen Formen, insbesondere das Sonett, eine regelrechte „Renaissance“ (Z. 9) erleben (Vgl. Z. 7-9). Dabei hebt er die Bedeutung der künstlerischen Ausdrucksweise und den kreativen Umgang mit Sprache hervor, durch die sich die klassische Lyrik von der heutigen Alltagssprache abheben kann (Vgl. Z. 9-11). Die Betonung des Kunstvollen steht heute jedoch in Verbindung mit einer gewissen Leichtigkeit bzw. Verspieltheit (Vgl. Z. 9-11).
- Die Kürze bspw. von Gedichten passt zum heutigen Lebensstil und Zeitgeist, durch den sich der moderne Mensch auszeichnet (Vgl. Z. 12-16). Unterhaltung und Information werden in kurzen „Häppchen“ (Z. 13) konsumiert. Der Mensch verlangt nach Gedichten, die innerhalb kurzer Aufmerksamkeitsspannen erfasst werden können (Vgl. Z. 13-15). Modernen Gedichten kommt ebenfalls der Vorteil zugute, dass durch sie nebensächliche Elemente und Details, die in unserem schnelllebigen Alltag oft übersehen werden, stärker in den Fokus rücken (Vgl. Z. 16-18). Weiterhin schaffen es Gedichte, Beobachtungen und Emotionen in einem konzentrierten, reportagenähnlichen Stil zu präsentieren (Vgl. Z. 18).
- Im nächsten Abschnitt weist der Autor darauf hin, dass Lyrik trotz seiner „Kürze und Handlichkeit“ (Z. 19) die Medienlandschaft kritisch reflektieren kann (Vgl. Z. 19-20). Ebenfalls fungiert Lyrik als Gegenstück zum „Informations-Business“ (Z. 21). Die Sprache in der Lyrik ermöglicht tiefer gehende und dauerhaftere Aussagen im Gegensatz zu bspw. Nachrichten, die Bissig als bloße „Konsumartikel“ (Z. 21) bezeichnet (Vgl. Z. 20-23).
- Nachfolgend zieht der Autor einen Vergleich zwischen den Haltungen von romantischen Dichtern im 19. Jahrhundert und der heutigen Situation und stellt spekulative Überlegungen über die Reaktion der Dichter an. Er betont, dass z. B. Wordworth und Coleridge die übermäßige „Stimulation“ (Z. 25) durch skandalöse Nachrichten kritisieren würden (Vgl. Z. 24-29).
- Weiterhin macht der Text auf die ambivalente Beziehung zwischen Dichtern und Medien aufmerksam, die sich durch gegenseitige Skepsis auszeichnet (Vgl. Z. 30-36). Außerdem weist Bissig auf ein „Symptom“ (Z. 38) des allgemeinen Wandels, der in der Medienlandschaft zu verzeichnen ist hin. Die privaten Medien (z. B. Zeitungen) verändern sich zunehmend, indem sie sich immer mehr nach den Leserinteressen richten und womöglich weniger Platz für anspruchsvolle, kulturelle Inhalte bieten (Vgl. Z. 37-41). Für Lyrik bleibt, auch statistisch gesehen, nur äußerst wenig Interesse übrig (Vgl. Z. 42-48). Laut Bissig sind wir deshalb auch von der „Idee eines produktiven ewigen literarischen Gesprächs“ (Z. 47), das Friedrich Schlegel in der Frühromantik vorgeschlagen hatte, weit entfernt (Vgl. Z. 46-48). Trotz der Schwierigkeit von Gesprächen über Lyrik sieht der Autor wenigstens den Versuch, über Lyrik zu sprechen, als äußerst wertvoll an (Vgl. Z. 48-49).
- Ebenfalls legt der Autor mögliche Gründe dar, weshalb Lyrik als schwierig betrachtet wird und was sie im Vergleich zu anderen Kunstformen weniger populär macht (Vgl. Z. 50-60). Dazu gehören bspw. ihre Vielschichtigkeit und die menschliche Forderung nach einem handfesten Verständnis (Vgl. Z. 51 f.; Z. 58 f.).
- Im nachfolgenden Abschnitt geht es darum, wie populistische Parteien dieses Bedürfnis nach sprachlicher Eindeutigkeit und Klarheit nutzen, um ihre autoritären, weniger demokratischen Interessen zu fördern (Vgl. Z. 61-63). Der Autor warnt vor dieser vermittelten scheinbaren Klarheit, da sie betrügerische Züge enthält, die Realität oftmals verzerrt sowie die Notwendigkeit einer differenzierten „demokratische[n] Diskurskultur“ (Z. 68) vernachlässigt (Vgl. Z. 67-69).
- Weiterhin ruft der Autor seine Leserschaft dazu auf, literarische Werke zu interpretieren, sich von starren dualistischen Denkmustern zu lösen (Vgl. Z. 71-74) und sich damit „für das Uneindeutige / und Unvertraute“ zu öffnen (Z. 73-74). Der Autor hebt die Notwendigkeit der Interpretation und Vielschichtigkeit sowie des Perspektivenwechsels in unserer heutigen Welt hervor (Vgl. Z. 75-80).
- Der Umgang mit Mehrdeutigkeit stellt sich für die gegenwärtige Gesellschaft als Herausforderung dar (Vgl. Z. 81-85). In einer auf klare Urteile ausgerichteten Welt tritt die Betonung von Ambiguitäten in den Hintergrund (Vgl. Z. 86-89). Dabei ist es gerade die Offenheit für Mehrdeutigkeit und die Fähigkeit für Interpretation, die als wichtige Kompetenzen in einer komplexen Welt betrachtet werden sollten. Wiederholend ruft der Autor seine Leser*innen dazu auf, „interpretierend durch die Welt [zu] gehen“ (Z. 88). Mit dem dazu passenden Zitat von Paul Celan „‚Komm, leg die Welt aus mit dir‘“ (Z. 90) endet der Text.
- Insgesamt zielt die Argumentation des Autors darauf ab, das Bewusstsein für die Bedeutung von Lyrik zu schärfen und die Leser*innen zu ermutigen, sich der Vieldeutigkeit der Welt bewusst zu sein. Die Position des Autors wird bereits im Titel des Artikels durch die These Warum wir Lyrik heute wieder dringend brauchen deutlich. Die zahlreichen verwendeten Zitate legitimieren die Glaubhaftigkeit des Autors zusätzlich.
Fazit
- Der Zeitungsartikel Ein Auslaufmodell der Literatur? Warum wir Lyrik heute wieder dringend brauchen thematisiert die umstrittene Rolle von Lyrik in der heutigen Gesellschaft.
- Der Autor argumentiert für die Wichtigkeit von Ambiguitäten als eine Fähigkeit, die sich durch die Lektüre von Lyrik entwickeln kann. Er hat die Absicht, seine Leserschaft dazu zu bewegen, die Welt als eine Ansammlung von Interpretation zu betrachten und über ihre eigene Schwarz-Weiß-Sichtweise hinauszugehen.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Nachdem der Argumentationsgang Bissigs thematisiert wurde, soll im Folgenden der Wahrheitsgehalt seiner vorliegenden These zunächst erörtert und darüber hinaus weitere Argumente für die Daseinsberechtigung der Lyrik gefunden werden.
Hauptteil
- Florian Bissig spricht sich für die Aktualität von Lyrik aus. Es ist eine Kunstform, die von vielen Künstlern und Autoren immer noch geschätzt wird, was sich bspw. an der Literaturauszeichnung des Georg-Büchner-Preises deutlich zeigt (Vgl. Z. 1-5).
- Die Aktualität von Gedichten wird ebenfalls an vielfältigen und lebendigen, modernen Ausdrucksformen wie in Poetry Slams und Performances deutlich (Vgl. Z- 6-7). Es handelt sich dabei nur um einen neuen Umgang mit Lyrik. Insbesondere unter den jungen Leuten steigt die Beliebtheit von Poetry-Slams enorm an. Menschen treten auf Bühnen auf, um ihre lyrischen Werke vorzutragen. Dies stärkt ebenfalls die Verbindung zwischen den Künstlern und ihrem Publikum. Die bekannte Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer warnt bspw. in ihrem Poetry-Slam One Day vor den Auswirkungen der Klimakrise. Damit fungiert Lyrik sogar als Mittel, um wie in diesem Beispiel auf Umweltprobleme aufmerksam zu machen.
- Aufgrund der Kürze und Abgeschlossenheit moderner Gedichte passen sie gut zum heutigen Lebensstil. Die Menschen haben die Möglichkeit, Kunst in kurzen Augenblicken zu genießen (Vgl. Z. 12-15).
- Lyrische Kunstformen sorgen für eine Schärfung unseres Blicks. Der Autor stellt fest, dass Lyrik scheinbar Selbstverständliches problematisiert und unseren Blick auf Nebensächliches schärft (Vgl. Z. 16-18). Ebenfalls bietet uns Lyrik, die sich durch ihre zeitlose Gültigkeit und bewusste Sprachauswahl auszeichnet, die Möglichkeit, sich von der oberflächlichen Sprache der Medien abzuheben (Vgl. Z. 19-23). Demnach leistet Lyrik auch einen wichtigen Beitrag zur Medienkritik. In einer Welt, die von einer schnellen Informationsüberflutung und oberflächlichen Kommunikation geprägt ist, heben sich die zeitlosen Themen innerhalb der Lyrik deutlich ab.
- Lyrik bietet uns die Möglichkeit, Mehrdeutigkeit wahrzunehmen, als Fähigkeit zu erlernen und sorgt für die Akzeptanz verschiedener Interpretationen (Vgl. Z. 75-80). Sie erweitert unseren Horizont im Hinblick auf unterschiedliche Perspektiven, Kulturen und zeithistorische Kontexte. Lyrik bietet uns eine Plattform, um unseren persönlichen Meinungen und einzigartigen Perspektiven Ausdruck zu verleihen, ermöglicht dadurch eine Vielfalt an Standpunkten und Erfahrungen und stärkt außerdem unseren Perspektivenwechsel sowie unser Verständnis im Umgang mit Mitmenschen. Diese Fähigkeiten sind in einer Zeit, in der Inklusivität und Diversität immer wichtiger werden, besonders von Bedeutung.
- Lyrik ermöglicht es Künstlern und Autoren, komplexe Emotionen und Gefühle auszudrücken. In einer häufig von Rationalität und schnellem Informationsaustausch geprägten Gesellschaft, in der es oft schwer ist, Emotionen auf anderen Wegen der Kommunikation zu vermitteln, bietet diese Kunstform eine intimere Form des Kommunizierens und damit auch einen Raum für eine authentische und lebendige Darstellung von eigenen Gefühlen. Im Gegenzug fördert Lyrik das eigene Verständnis von Gefühlen sowie Empathie und Verständnis im gesellschaftlichen Umgang. Menschen können ihre Gedanken reflektieren und erreichen eine höhere Form der Selbsterkenntnis. Gedichte können die Verbindung zwischen Menschen stärken, indem sie Trost spenden und als wichtige Inspirationsquelle fungieren.
- Die lyrische Sprache zeichnet sich insbesondere durch ihren Metapher-, Symbol- und Bildreichtum aus. Leser*innen kommen durch das Lesen lyrischer Werke in den Genuss von ästhetischer Sprache in ihrer Reinform, wie sie heute oftmals nur noch selten zu finden ist oder in anderen literarischen Formen gar nicht in dieser Art möglich ist. Dadurch wehrt sich Lyrik auch gegen die heutige Simplifizierung von Sprache und Gedanken und ermöglicht ein tieferes Verständnis von Inhalten. Künstler haben die Möglichkeit, ihre Kreativität und Originalität durch lyrische Kunstformen auch auf sprachlicher Ebene auszudrücken. Dies fördert innovative Ausdrucksformen und sprachlich experimentelle Vorgehensweisen. Lyrik bietet Schriftsteller*innen somit einen Ort der künstlerischen Freiheit.
- Damit dient Lyrik auch als Fluchtmöglichkeit aus einer zunehmend hektischen Welt. Das Eintauchen in die Welt der Poesie ermöglicht uns Menschen, dem Alltagsstress und der tagtäglichen Informationsflut für einen Moment zu entkommen und schärft unseren Blick für die eigene Reflexion und Selbstfindung.
- Als wichtiger Bestandteil unseres kulturellen Erbes ermöglicht Lyrik es uns, kulturelle Traditionen zu bewahren und sowohl literarische als auch historische Entwicklungen nachzuvollziehen, viel über die Werte und Denkweisen aus der Geschichte zu lernen und neue Blickwinkel einzunehmen. Gleichzeitig hat man durch Gedichte die Möglichkeit, traditionelle Formen und Aspekte der Lyrik mit zeitgenössischen Themen und Sprachstilen zu verknüpfen und somit eine Verbindung zwischen den aktuellen Lebensrealitäten und der kulturellen bedeutsamen Geschichte der Lyrik zu schaffen. Gedichte wie Der Panther von Rainer Maria Rilke oder Heimweh, wonach? von Mascha Kaléko behandeln bspw. zeitlose Themen, die menschliche Grunderfahrungen ansprechen und deshalb auch heute noch von Bedeutung sind. Aus diesen Gedichten lässt sich viel lernen, sie leisten quasi einen Bildungsauftrag.
- Lyrik fördert Gesellschaftskritik und Aktivismus. Sowohl in der Geschichte als auch heute noch gilt Lyrik als Kommunikationsmittel, um auf soziale, politische oder kulturelle Ungerechtigkeiten und Probleme aufmerksam zu machen und mögliche Veränderungen herbeizuführen. So gibt es bspw. die Kriegslyrik, in der politische Themen, Ereignisse und Aspekte wie z. B. Traumabewältigung und die Konsequenzen des Krieges nicht nur thematisiert, sondern Krieg und das damit verbundene Menschenleid selbstverständlich auch häufig scharf kritisiert werden, wie dies in Hans-Peter Krauses Werk Ein guter Soldat der Fall ist. Lyrik kann eine kritische Perspektive auf gesellschaftliche Fragen bieten und ermutigt die Leserschaft, über das Leben, die Gesellschaft sowie persönliche und globale Herausforderungen nachzudenken.
- Andererseits empfinden viele Menschen den Zugang zu Lyrik heute als sehr schwierig. Es fällt nicht immer leicht, die tiefere Bedeutung des Gedichts zu verstehen oder bspw. mit der alten Rechtschreibung und Grammatik klarzukommen. Gedichte erreichen im Gegensatz zu anderen Kommunikationsmitteln nicht die breite Masse, was u. a. auch daran liegt, dass sie generell als schwer zugänglich gelten.
- Außerdem sind lyrische Gedichte häufig äußerst subjektiv und persönlich geschrieben. Nicht selten ist es schwierig, allgemeingültige Interpretationen zu finden, insbesondere im schulischen Kontext, in dem häufig wenig Raum für interpretatorische Freiheit besteht. Dies steht gerade im Gegensatz zur Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit, die durch Lyrik erreicht werden sollen.
- Formale Strukturen wie Reimschema und Metrik könnten als einschränkend empfunden werden und stehen im Kontrast zur zuvor propagierten künstlerischen Freiheit. Doch insbesondere in unserer heutigen Zeit bietet dieses Argument keinen Grund mehr, sich von der Poesie abzuwenden, da die Lyrik nicht mehr wie früher an bestimmte Regeln und Strukturen gebunden ist und Gedichte gerade aufgrund ihrer Regellosigkeit ein wichtiges Ausdrucksmittel von Gedanken und Gefühlen werden können.
- Die Vielfalt der heutigen Medienlandschaft bietet viele andere Möglichkeiten, sich auszudrücken und kreativ zu sein. Menschen können ihre Gedanken und Gefühle durch Musik, Film, Fotografie oder soziale Medien ausdrücken, was möglicherweise als effektiver und zugänglicher angesehen wird als die Lektüre von Gedichten.
Schluss
- Insgesamt fällt auf, dass die Wahrnehmung von Gedichten stark von persönlichen Erfahrungen, Einflüssen und Vorlieben abhängig ist.
- Lyrik gilt jedoch auch heute noch als bedeutendes Mittel der kreativen Kommunikation in unserer modernen Welt. Sie erfasst und reflektiert verschiedene Aspekte des menschlichen Lebens, schafft einen Raum für emotionale Ausdrücke, kulturelle Vielfalt, Reflexion und kritisches Denken. Insgesamt bieten uns lyrische Texte die Möglichkeit, uns mit der Welt, anderen Menschen und uns selbst näher auseinanderzusetzen.
- Ebenfalls zeichnet sie sich durch eine vielseitige Form der künstlerischen Ausdrucksweise aus. Es gibt unterschiedliche Inhalte und Unterformen, nach denen man Gedichte differenzieren kann, wie z. B. Liebes- oder Naturgedichte. Selbst wenn man traditionelle Gedichte heutzutage nicht als ausreichend zugänglich wahrnimmt, gibt es heute andere Zugänge zur Lyrik z. B. Poetry-Slams. Die Schwierigkeiten in Bezug auf die Beschäftigung mit Lyrik sollten nicht verallgemeinert werden und dazu verleiten, sich erst gar nicht mit Lyrik zu befassen.