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Abi-Aufgaben GK
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen

Vorschlag C

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Arbeitsauftrag

Thema:
Zur Bedeutung von Lyrik
Florian Bissig (* 1979): Ein Auslaufmodell der Literatur? Warum wir Lyrik heute wieder dringend brauchen (2018)
Aufgabenstellung:
  • Stelle den Argumentationsgang des Meinungsbeitrags von Florian Bissig dar und erläutere die Intention des Textes. (Material)
  • (40 BE)
  • Erörtere ausgehend vom Text (Material) die These von Florian Bissig, dass „wir Lyrik heute wieder dringend brauchen“. Beziehe dabei auch eigene Erfahrungen mit der Lektüre von Gedichten ein.
  • (60 BE)
Material
Ein Auslaufmodell der Literatur? Warum wir Lyrik heute wieder dringend brauchen
Florian Bissig
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Eigentlich geniesst die Lyrik den Status einer aktuellen Kunstform. Die renommierteste deutschspra-
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chige Literaturauszeichnung, der Georg-Büchner-Preis, wurde gleich zweimal in Folge an einen Lyri-
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ker verliehen. Der Dichter Jan Wagner erhielt ausserdem den Preis der Leipziger Buchmesse. In der
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Schweiz widmen sich viele Autoren aller Generationen der Lyrik und haben damit intakte Chancen
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auf eine Vielzahl von Auszeichnungen und Werkbeiträgen.
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In jüngerer Zeit hat sich die Dichtkunst mit Poetry Slams und allerlei Performances verquickt und ver-
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jüngt und ist so ein gefragter Teil der Kulturszene. Dabei löst sich die Dichtkunst keineswegs bloss als
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Recycling-Material in den neuen Formen auf.
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Es ist zugleich eine Renaissance der klassischen Gedichtformen, wie dem Sonett, zu beobachten. Die
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Akzentuierung des Kunstvollen, die Abhebung von der Alltagssprache ist wieder zur schöpferischen
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Möglichkeit geworden, jedoch meist in einem spielerischen Gestus.
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Die Lektüre von moderner Lyrik passt überdies bestens zum Zeitgeist und zu den heutigen Lebensge-
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wohnheiten. Information und Unterhaltung werden überall und in kleinen Häppchen konsumiert. Ge-
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dichte weisen oft eine Abgeschlossenheit und Kürze auf, die auch in einer bescheidenen Aufmerksam-
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keitsspanne erlaubt, ein kleines Kunstwerk in Gänze zu erfassen.
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Ein kompletter Kunstgenuss innert Sekunden, das müsste vielen Heutigen gelegen kommen. Nicht
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zuletzt schärfen moderne Gedichte den Blick für das Nebensächliche und problematisieren das schein-
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bar Selbstverständliche, gleichsam als verdichtete Reportage.
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So ist es naheliegend, dass die Lyrik, bei aller Kürze und Handlichkeit, mit dem scharfen Blick auf
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Konvention und Sprachgebrauch auch zur expliziten Medienkritik werden kann. In impliziter Weise
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ist die Lyrik ein Gegenstück zum Informations-Business. Während Nachrichten Konsumartikel sind,
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die innert Minuten obsolet werden können und in denen die Sprache als blosses Instrument verwendet
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wird, pflegt die Lyrik einen bewussten Sprachgebrauch und beansprucht überzeitliche Gültigkeit.
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Die Begründer der romantischen Dichtung Englands, Wordsworth und Coleridge, gingen so weit, ihre
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Lyrik als Gift gegen das „entwürdigende Verlangen nach skandalöser Stimulation“ aufzufassen, wel-
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ches die Massenmedien schürten. Die Dichter geisselten die Sehnsucht nach im Stundentakt eintref-
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fenden Neuigkeiten. Das war um 1800, als die News noch per Schiff und Postkutsche erwartet wur-
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den. Was die beiden Dichterkollegen von den heutigen Smartphone-Zombies gehalten hätten, die nur
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noch im Notfall vom Bildschirm aufblicken, lässt sich nur erahnen.
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Die Zwiespältigkeit der Gefühle zwischen den Dichtern und den Medien beruht auf Gegenseitigkeit.
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In den Redaktionen überwiegt der Thematisierung der Lyrik gegenüber jene Skepsis, die allen Themen
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anhaftet, die im Verdacht stehen, Vorwissen vorauszusetzen. Darauf bedacht, ihre Leser nicht als An-
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hänger eines dünkelhaften Bildungsbegriffs zu behandeln, stecken die Zeitungsmacher den Bereich
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des Zumutbaren immer enger. Das bedeutet, dass sich ein öffentlicher Diskurs auf die westliche litera-
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rische Tradition beschränkt und die Gegenwartsliteratur nur noch unter dem Scheinwerferlicht der
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Bestsellerliste betrachtet wird.
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Freilich sind die privaten Medien keine Bildungseinrichtungen. Ihre verkürzten Zugriffe auf die litera-
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rische Tradition sind nicht Ursache, sondern Symptom eines Wandels. Als Werbeträger müssen sich
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Zeitungen immer konsequenter daran ausrichten, was die Aufmerksamkeit des Lesers zu erhalten ver-
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spricht. Und der Zeitungsleser, insofern er erforscht und vermessen ist, möchte anscheinend gross-
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mehrheitlich nichts über anspruchsvolle oder abseitige kulturelle Erzeugnisse erfahren.
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Diese Erkenntnis überrascht kaum, wenn man sie mit den Zahlen abgleicht, die jeder Lyrik-Verleger
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zähneknirschend wird bestätigen müssen. Die Lyrik hat reichlich Autoren, Verleger, Förderer, Für-
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sprecher und Kritiker, aber kaum Leser ausserhalb dieser Kreise.
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Und so steht die Lyrik im Kampf um ein Plätzchen im öffentlichen Diskurs auf verlorenem Posten. Sie
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wird nicht gelesen und daher praktisch nicht besprochen, und umgekehrt. Weit entfernt sind wir von
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Friedrich Schlegels Idee eines produktiven ewigen literarischen Gesprächs, mit deren praktischer
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Umsetzung es freilich schon zur Zeit der Frühromantik haperte. Warum scheitert jeder Versuch eines
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Gesprächs über Lyrik? Und wieso ist es der Versuch trotzdem wert?
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Die Antwort auf beide Fragen ist ein und dieselbe: Weil Lyrik als „schwierig“ gilt und ihre Lektüre
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den Wunsch nach Eindeutigkeit frustriert. Lyrik ist typischerweise nicht zu lesen und sogleich zu ver-
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stehen wie ein Sachtext oder realistischer Erzähltext. Oft ist sie in die subjektive Färbung eines lyri-
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schen Ichs getaucht, oder es dominieren klangliche, grafische oder überhaupt sprachliche Elemente
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das Wesen eines Gedichts – und nicht etwa die blosse Kommunikation eines spezifischen Inhalts.
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Als überfordernd müssen Gedichte dem verschüchterten Leser notwendig scheinen, wenn er das Ver-
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stehen eines Gedichts als Verstandesurteil anstrebt, wenn er also beansprucht, es begrifflich ganz zu
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erfassen. Beim Betrachten eines abstrakten Gemäldes oder beim Anhören einer Symphonie ist man
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bereit, sich genüsslich dem freien Spiel der Gemütskräfte hinzugeben. Bei der Wortkunst hingegen
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wird stets ein handfestes Verständnis angestrebt, das bei den meisten lyrischen Formen nicht zu haben
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ist.
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Dem Wunsch nach sprachlicher Klarheit und Eindeutigkeit – der gewiss einer natürlichen menschli-
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chen Sehnsucht nach Orientierung und Sicherheit entspricht – kommen die populistischen Parteien
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entgegen. Sie beanspruchen, über die einzig richtige Einschätzung jeder Sachlage zu verfügen. Von
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ihren Anhängern erwarten sie unmissverständliche Gefolgschaft. Zweifel an ihrer Darstellung, eine
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eigenständige Überprüfung oder ein vorsichtiges Abwägen von Für und Wider: All das ist nicht er-
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wünscht.
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Was Populisten suggerieren, ist betrügerisch. Die Welt, die Probleme und ihre Lösungen sind keines-
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wegs klar und eindeutig. Eine demokratische Diskurskultur bedingt das Hinterfragen und Differenzie-
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ren, doch wir sind dem ferner denn je. Rund um die Fake News ist zwar eine Debatte um die Relevanz
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von Wahrheit und Journalismus entstanden.
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Doch der laute Streit um wahr und falsch übertönt Stimmen der Differenzierung. Eine Gesellschaft,
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die nicht die Manipulationsmasse von Populisten sein will, braucht den Mut, den voreiligen Dualismus
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von wahr und falsch und von gut und böse zu meiden und sich offen zu halten für das Uneindeutige
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und Unvertraute.
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Die Lektüre von Lyrik ist zugleich ein Übungsfeld und ein Ort der Ermächtigung, auf dem der Um-
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gang mit Vieldeutigkeit, Mehrschichtigkeit und Perspektivität erlernt und geprobt werden kann. Wer
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ein dichterisches Kunstwerk in der Uneindeutigkeit seines Sinns und in der Flüchtigkeit seiner Wahr-
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heitsansprüche ernst nimmt und zu verstehen versucht, wird lernen, dass es nicht die eine richtige Aus-
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legung gibt – sondern verschiedene Auslegungen, die durch je andere Kontexte, Argumente und Her-
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angehensweisen gestützt werden.
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Die Bereitschaft, die überfordernde Erfahrung der Mehrdeutigkeit auszuhalten, ist offenbar verloren
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gegangen. Man ist auf das klare Urteil aus. Wer nicht klar Position bezieht, wird in der Debatte über-
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vorteilt und übertrumpft. Das ist eine schlechte Ausgangslage für eine Vielzahl an aktuellen gesell-
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schaftspolitischen Themen – wie gerade beispielsweise den Wandel der Geschlechterverhältnisse und
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Identitäten.
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Hier verpasst das Wichtigste, wer kein Gehör für Ambiguitäten und Untertöne hat, und versäumt die
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Chance, den neuen Horizont auszuloten, in dem die neuen Phänomene erst erkennbar werden.
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Wir können nicht anders, als interpretierend durch die Welt gehen. Die Besinnung auf Wahrheit und
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Fakten ist löblich, doch sie reicht nicht aus. Denn die Welt besteht nicht aus Fakten, sondern sie ist ein
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Ensemble unserer Interpretationen. „Komm, leg die Welt aus mit dir“, forderte Paul Celan. Das sollte
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man einer Gesellschaft, die gerade auf ein kompetenzorientiertes Bildungssystem umstellt, nicht
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zweimal sagen müssen. Mit der überschaubaren Welt eines kurzen Gedichts könnte ein Anfang ge-
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macht werden.

Anmerkungen zum Autor:
Florian Bissig (*1979) ist ein Schweizer Kulturjournalist.
Aus: Florian Bissig: Ein Auslaufmodell der Literatur? Warum wir Lyrik heute wieder dringend brauchen (10.03.2018); letzter Zugriff am 29.01.2021.
Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textvorlage (schweizerische Orthografie).

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