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Basiswissen

Vorschlag B

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Vergleich

Thema:
Liebeskonzepte
Sibylle Berg (* 1962): Und jetzt: die Welt! Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen (2014)
Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Faust I (1808)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Textauszug aus Sibylle Bergs Drama Und jetzt: die Welt! Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen. (Material)
  • (60 BE)
  • Setze die Liebesvorstellungen der Protagonistin aus Sibylle Bergs Dramentext (Material) in Beziehung zu denen von Margarete aus Goethes Drama Faust I.
  • (40 BE)
Material
Und jetzt: die Welt! Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen
Sibylle Berg
Es handelt sich bei dem Text um einen dramatischen Monolog. Der vorliegende Textauszug ist der Be-
ginn des Stücks.
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Hart muss ich werden, um zu wissen,
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was zählt, was wichtig ist,
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und dann
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kann ich der Welt die Antwort geben,
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die ist: Ich muss hier überleben.
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Muss Sieger sein, mit aller Macht –
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nicht angerührt, nicht ausgelacht,
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auch nicht bedrängt und kleingemacht.
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Ich werde meinen Körper stählen,
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fickt euch ins Knie und gute Nacht!
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Ich bin beeindruckt von meiner Fähigkeit zu reimen.
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Und der, Versprechen einzuhalten. [...]
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Meine Hoffnung, auch wenn du nicht danach fragst, ist, dass da draußen ein Mensch auf mich wartet.
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Warten können sie, die Jungen, sie sind fast alle arbeitslos. Oder studieren, um im Anschluss arbeits-
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los zu sein. Oder sie befinden sich in einem Praktikum. Für zehn Jahre. Problemlos könnte da also je-
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mand herumlungern und auf mich warten. Eine junge Frau mit grünen Augen und Interesse an Kung-
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Fu. Vielleicht heißt sie Lina.
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Mein Mensch befindet sich vielleicht genau jetzt an seinem Fenster, sieht dahin, wo vor dem Dauerre-
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gen mal Himmel war, und fragt sich, ob in einem Liebeskontext ein anderes Gefühl hergestellt werden
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kann als Schmerz. Irgendwann tut es doch immer weh. Weil einer will und der andere nicht oder einer
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nicht mehr will oder beide nicht genug, und dann sitzt man sich gegenüber und wundert sich.
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Summen.
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Vor dem Fenster kreisen schon wieder Spionagedrohnen. Das neue Hobby halbwüchsiger junger Män-
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ner, die sich die Dinger aus 3D-Printern ausdrucken und dann auf die Suche nach Geschlechtspartnern
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schicken. Demnächst werden sie ihre Penisse an diese Drohnen hängen. Prost. Es gibt Schlimmeres.
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Jung zu sein und am Abend alleine zu Hause zum Beispiel. Meine selbst zusammengestellte Familie
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ist auswärts. Gemma beim Shoppen, Minna beim Sport, und ich hänge hier rum und mache ein Video,
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das außer dir, lieber Paul, keiner zu sehen bekommen wird.
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Guten Abend, meine Möbel,
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was habt ihr heute so gemacht?
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Bin ich daheim, schnappt mich die Stille,
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das Bett, der alte Hund, der lacht.
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Es riecht so einsam in der Wohnung,
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die Lampe hängt so gelb darin.
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Und ich weiß nicht, was ich lieber,
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alleine oder Gruppe bin.
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Liebe gibt’s doch nur in Liedern,
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im Leben gibt’s doch so was nicht.
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Wenn dich die Sehnsucht richtig packt,
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dann ist es Nacht, und du bist nackt.
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Ich rede noch was zu mir selber,
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dann lösche ich mit Angst das Licht.
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Obwohl ich nicht darauf brenne, nackt zu sein. Und Sehnsucht das falsche Wort ist. Ich sehne mich
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nur nach Orten und Dingen, die ich kenne. Also zum Beispiel sehne ich mich nicht nach dem Gipfel
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des Himalaya oder nach einer Darmspiegelung, sondern nach einem Gefühl, das mir aus Filmen be-
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kannt ist. Ich wurde noch nie von einem Menschen geliebt. Also in diesem gewaltigen, durch die Me-
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dien und Kunst aufgeladenen Sinn. Jemanden, der, ohne sich an mich gewöhnt zu haben, von mir be-
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zaubert ist, gibt es nicht. Dabei entspreche ich rein optisch allen Parametern, die ein begehrenswerter
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Mensch unserer Zeit zu erfüllen hat. Ich habe gute Zähne und bin politisch korrekt.
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Hör ich dich widersprechend wimmern, Paul?
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An Abenden wie diesem habe ich eine unklare Angst, dass alles so bleiben könnte, wie es gerade ist:
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grau. Und dass ich von einem dämmrigen Junge-Mensch-Gefühl direkt in das gerate, was ich bei Älte-
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ren sehe: die pure Verzweiflung. Als hätte sich irgendein Versprechen nicht erfüllt. Alle, die ich
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kenne, suchen nach diesem Unbekannten, das sie in Momenten ahnen, in denen der Alkohol genau in
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der richtigen Menge im Körper steht und genau das richtige Lied läuft. Grenzenlos und unendlich wol-
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len wir sein. Und sind doch nur wer, der besoffen ist und mit jemandem nach Hause geht, der auch nur
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mit jemandem nach Hause geht.
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Ich bin mit Lina nach Hause gegangen, doch leider hat sich bei mir ein Gefühl entwickelt. Das ich
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aber ignoriere. Im Gefühle-Ignorieren bin ich großartig. Wir sind jetzt sehr gute Freundinnen, sagte
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sie, und ich bin nicht unglücklich verliebt. Ich mache nur eine Persönlichkeitsentwicklung durch. Ich
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lerne, keine Ansprüche zu haben, zu nehmen, was ich geschenkt bekomme. Bla.
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Ich kenne keine, die nicht süchtig nach Liebeskummer wäre. Man nimmt so schön ab dabei, und die
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tiefen Gedanken sind auch nicht zu verachten. Liebeskummer gibt mir das Gefühl, eine außerordent-
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lich emotionale Person zu sein.
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Magst du meine Filme aus dem Leben eines Teenagers? Beißt du in den Teppich vor Wut? Ach, du
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hast keinen Teppich. Besser. Die Abwesenheit von Deko-Elementen, auch das Nicht-Tragen eines
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Fascinators fördert die Konzentration auf das Wesentliche. Auf die menschlichen Überreste.
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Also fokussiere dich,
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schau, die Sonne geht unter,
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vielleicht stirbt sie auch gerade aus.
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Ich war nicht vor der Tür, um das zu überprüfen.
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Dieses tolle „Draußen“ sagt mir momentan nichts, denn da ist die Welt, und man muss sich zu ihr ver-
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halten, muss Meinungen haben, und die sollen politisch korrekt sein, ich muss den Fluss meiner Ge-
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danken pausenlos auf ihre Korrektheit überprüfen. Welche Randgruppe, zum Beispiel Frauen, könnte
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sich durch welchen heteronormativen Sprachgebrauch missachtet sehen. Heteronormativ ist das Wort
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der Saison. Letztes Jahr war es authentisch und im Jahr zuvor nachhaltig.
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Before printing think of the environment.

Anmerkungen zur Autorin:
Sibylle Berg (*1962): deutsch-schweizerische Schriftstellerin
Aus: Sibylle Berg: Und jetzt: die Welt! Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen, Reinbek 2014 (Rowohlt-Theater eBook), Abs. 1–16.
Die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage.

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