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Teil B

Hinweis: Wähle von den drei vorliegenden Vorschlägen einen zur Bearbeitung aus. Die nicht ausgewählten Vorschläge werden 60 Minuten nach Beginn der Bearbeitungszeit von der Aufsicht führenden Lehrkraft eingesammelt.

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema: Soziales Drama
Ödön von Horváth (* 1901 – † 1938): Die Bergbahn (1927)
Aufgabenstellung:
1
Fasse den Inhalt des Auszugs aus Ödön von Horváths Drama „Die Bergbahn“ zusammen und analysiere die Szene. (Material)
(40 BE)
2
Vergleiche den Dramenauszug aus „Die Bergbahn“ (Material) mit Büchners sozialem Drama „Woyzeck“ unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
(35 BE)
3
„Das moderne Theater muß nicht danach beurteilt werden, wieweit es die Gewohnheiten des Publikums befriedigt, sondern danach, wie weit es sie verändert.“ (Bertolt Brecht, 1898–1956)
Beurteile, wie das Theater heute dieser Forderung Brechts gerecht werden kann.
(25 BE)
Material
Die Bergbahn (1927)
Ödön von Horváth
1
Moser, Reiter, Sliwinski, Simon ließen Oberle an einem Seile in den Abgrund, um den abgestürzten
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Schulz zu bergen.
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Maurer auf einem Gratzacken; ruft durch Handtrichter: Huuu! – Huuu! [...]
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Der Sturmstoß fegt vorüber.
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Maurer klettert vom Zacken herab.
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Xaver leise: Wie so an Unglück passiert –
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Maurer ebenso: Schnell!! Der Reiter hat a Klammer braucht, und der Oberle sagt zum Schulz: hol
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ane her! und der arm Teufl springt dahin, ganz eifrig, und schreit glei, ganz entsetzli, und runter is er a
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scho über d’Wand. So vierzig Meter. Und bloß ausgrutscht –
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Moser erregt; unterdrückt: Hörts! Stehts do net so rum! Der Oberle holt den scho rauf! Laufts um a
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Tragbahr und telefonierts um an Dokter! Zu!
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Hannes Da werd nimmer viel zum doktern sein.
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Moser Meinst?
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Hannes Ja. Der is hin. [...]
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Stille.
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Alle entblößen ihr Haupt.
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Hannes fällt langsam in die Knie, betet: Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget werde Dein
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Name –
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Moser unterbricht ihn: Verflucht! Ka Litanei, ka Rosenkranz! Der da drobn is taub für uns arme Leut!
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In weiter Ferne Donnerrollen.
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Ja, donnern, des kann der! Und blitzn und stürmen! Schreckn und vernichtn! – Was gedeiht, ghört net
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uns. Was ghört dem armen Mann? Wenn die Sonn scheint, der Staub, wenns regnet, der Dreck! Und
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allweil Schweiß und Blut!
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Ein leiser Wind hebt an, der allmählich zum Sturm wird.
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Ingenieur erscheint; atemlos; aufgeregt: Was ist hier los? Warum steht man so herum? Wer gab das
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Notsignal?
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Maurer I.
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Ingenieur Was ist denn geschehen?
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Oberle Still, Herr! Hier liegt a Toter.
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Ingenieur Wieso? Wo? Wer?
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Oberle Dort. Den Ihr gestern eingestellt habt, der Schulz.
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Ingenieur Scheußlich!
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Oberle Er is bloß gestolpert – über die Wand da. So vierzig Meter. Schweigen.
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Ingenieur Verdammt! Tja, da kann keiner dafür. – Wollen wir ihn ehren, indem wir geloben, ihm, der
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in Erfüllung seiner Pflicht fiel, nachzueifern, weiterzuarbeiten. – Ich muß unbedingt darauf bestehen,
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daß die Arbeit sofort wieder aufgenommen wird. Den Leichnam lassen wir bis zum Abend hier liegen
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und nun –
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Moser unterbricht ihn: Na, der werd zuerst nuntergtragn und aufbahrt. Nachher werd weitergschafft.
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Eher net!
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Ingenieur Hoppla! Hier hat nur einer zu befehlen, und das bin ich! Pflicht kommt vor Gefühlsduselei.
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Reiter Pflicht is, a Leich net liegn zu lassn, wie an verrecktn Hund.
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Ingenieur Ich verbitte es mir, über Pflicht belehrt zu werden! Merken Sie sich das, Sie! Ich habe mir
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mein Ziel erkämpft und pflege meinem Willen Geltung zu verschaffen. Und seis mit schärfsten Mit-
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teln!
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Simon Bravo! Bravo!
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Ingenieur Was soll das?
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Schweigen.
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Es wird weitergearbeitet. Mit Hochdruck und sofort. Los!
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Keiner reagiert.
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Schweigen.
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Hört: sollte das Wetter umschlagen und wir hätten die Vorarbeiten noch nicht beendet, – das Werk,
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der Bau, die Bahn ist gefährdet!
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Moser Sonst nix? Werd scho schad sein um die Scheißbahn! Sehr schad! Wer werd denn damit amü-
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siert? Die Aufputztn, Hergrichtn, Hurn und Wucherer! Wer geht dran zu Grund?! Wir!
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Simon Wir! Wir!
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Ingenieur höhnisch, doch etwas unsicher: So?
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Maurer Gfährdet ist bloß unser Lebn!
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Ingenieur Hier gibt es Hetzer?
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Reiter Und Ghetzte!
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Moser Und was is denn scho, wenns überhaupt kane Bahnen gibt?! Kamst um dei Seelenheil? Stürzet
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die Welt ein?!
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Ingenieur Unreifes Zeug, dummes!
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Reiter Wenn Sie, Herr, so a gscheits Genie san, so denkens halt mal an uns! Bauns ka Bergbahn!
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Bauns uns Häuser statt Barackn!
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Ingenieur Hier wird nicht geredet, hier wird gearbeitet! Ohne Kritik!
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Oberle Habt Ihrs net donnern ghört, zuvor?
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Ingenieur Quatsch! Quatsch! Ich kenne das Wetter! Das hält!
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Hannes lacht.
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Oberle Herr, i bin a alter Arbeiter und die Verantwortung –
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Ingenieur unterbricht ihn: Nur keine Anmaßung! Die Verantwortung trage ich. Nur ich.
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Es donnert.
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Stille.
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Hm. Jetzt dürfte sich manches geändert – Grinst nur, grinst! Ja, jetzt könnt ihr den aufbahren. Alles
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aufbahren! Auch euch selbst! Er will absteigen.
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Maurer Halt! An Augenblick! Darf man fragn, obs stimmt, daß wir ghetzt werdn? Und daß es ganz
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gleich is, ob wir runterfalln, wenn nur des Kabel herobn hängt, bevors Wetter umschlagt? Und daß
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wir, wanns umgschlagn hat, fortgtriebn werdn –
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Ingenieur unterbricht ihn: Jetzt könnt ihr gehen!
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Maurer Wohin?
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Ingenieur Die Arbeit ist eingestellt. Alles ist eingestellt. Ihr seid entlassen.
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Maurer Habts es ghört?! Habts es ghört?
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Reiter Des hättns uns scho sagn können!
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Sliwinski Solln!
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Simon Müssn!
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Maurer Lügner! Lügner!
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Reiter Jetzt kriegst nirgends Arbeit! Jetzt nimmer!
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Ingenieur Wer arbeiten will, der kann! Jetzt und immer!
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Simon applaudiert.
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Wird immer erregter. Hört! Ich habe alles verlassen, um mein Ziel zu erreichen! Ich habe in Baracken
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gehaust –
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Moser Wir habn no nie anderswo ghaust!
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Ingenieur – ich habe verzichtet, ich habe im Schatten geschuftet an dem Werk!
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Sliwinski Im Schattn deiner Villa!
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Ingenieur Ich habe keine Villa!
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Simon Aber a Wohnung hast! Unds Fressn hast! Und an Mantl, wanns di friert! Ists wahr oder net?
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Ingenieur Ich werde mir erlauben, eine Wohnung zu besitzen! Doch ich hätte auch hungernd und frie-
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rend an meinen Plänen gearbeitet – Er hält plötzlich verwirrt die Hand vor die Augen. Aber ich habe
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ohne den lieben Gott kalkuliert. Allerdings, ja, jetzt schlägt das Wetter um –
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Maurer Also, weil Sie Herr sich verrechnet habn, drum stehn wir da, mittn im Winter! Ohne Dach,
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ohne Holz, ohne Brot!
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Simon A jeder redt si aufs Wetter naus, aber kaner rechnet damit!
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Hannes Die ganzn Plän san halt falsch.
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Ingenieur Was?! Kritik? Kritik! Du Trottel! Ungebildetes Pack erlaubt sich –
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Xaver unterbricht ihn: Ohne uns Pack, was war denn dei Werk?! Bloß a Plan! Papier! Papier!!
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Stille.
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Ingenieur geht langsam auf Xaver zu und hält dicht vor ihm; fixiert ihn; plötzlich schlägt er ihm vor
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die Brust, daß er zurücktaumelt.
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Stille.
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Ingenieur verliert die Nerven: Jetzt könnt ihr gehen! Verschwindet! Marsch!
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Oberle Wohin!?
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Ingenieur Was weiß ich?! Wohin ihr wollt! Wohin ihr könnt! Wohin ihr gehört! Zum Teufel!

Anmerkungen zum Autor:
Ödön von Horváth ist ein aus Österreich-Ungarn stammender deutschsprachiger Schriftsteller, dessen Texte häufig
eine sozialkritische Ausrichtung haben. Den Stoff für Horváths Bühnenstück „Die Bergbahn“ lieferte der Bau der Tiroler
Zugspitzbahn, die 1926 eröffnet wurde und deren Bau zahlreiche Unfallopfer forderte. Die Zugspitzbahn war für ihre Zeit
eine technische Meisterleistung und führte in fast 3000 Metern Höhe.
Aus: Ödön von Horváth: Gesammelte Werke, Band 1, Frankfurt am Main 2. Aufl. 1972, S. 87–93.

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