Vorschlag A
Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Vergleich
Thema: Fantastische Welten: Der neue Mensch Alfred Kubin (* 1877 - † 1959): Die andere Seite. Ein phantastischer Roman (1909) Juli Zeh (* 1974): Corpus Delicti (2009) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Auszug aus Alfred Kubins Roman Die andere Seite (Material) und ordne den Text begründet in den Kontext der literarischen Moderne im frühen 20. Jahrhundert ein.
- Vergleiche das in Kubins Textauszug beschriebene Traumreich (Material) mit der in Juli Zehs Roman Corpus Delicti. Ein Prozess geschilderten Welt.
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nem alten Schulfreund Claus Patera in ein von diesem geschaffenes sogenanntes „Traumreich“ einge-
laden wird. Bei dem Textauszug handelt es sich um den Romananfang.
I.
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Unter meinen Jugendbekannten war ein sonderbarer Mensch, dessen Geschichte wohl wert ist, der
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Vergessenheit entrissen zu werden. Ich habe mein möglichstes getan, um wenigstens einen Teil der
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seltsamen Vorkommnisse, die sich an den Namen Claus Patera knüpfen, wahrheitsgetreu, wie es sich
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für einen Augenzeugen gehört, zu schildern.
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Dabei ist mir etwas Eigentümliches passiert: während ich gewissenhaft meine Erlebnisse nieder-
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schrieb, ist mir unmerklich die Schilderung einiger Szenen untergelaufen, denen ich unmöglich beige-
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wohnt und die ich von keinem Menschen erfahren haben kann. Man wird hören, welcherlei seltsame
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Phänomene der Einbildungskraft die Nähe Pateras in einem ganzen Gemeinwesen hervorbrachte. Die-
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sem Einfluß muß ich meine rätselhafte Hellsichtigkeit zuschreiben. Wer eine Erklärung sucht, halte
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sich an die Werke unserer so geistvollen Seelenforscher.
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Ich lernte Patera vor sechzig Jahren in Salzburg kennen, als wir beide in das dortige Gymnasium ein-
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traten. Er war damals ein ziemlich kleiner, doch breitschultriger Bursche, bei dem höchstens der
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schöngelockte Kopf antiken Zuschnittes auffallen konnte. Mein Gott, wir waren damals wilde, lüm-
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melhafte Buben, was gaben wir viel auf Äußerlichkeiten? Trotzdem muß ich erwähnen, daß mir heute
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noch, als betagtem Mann, recht gut die etwas vorstehenden, übergroßen Augen von hellgrauer Farbe
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im Gedächtnis geblieben sind. Aber wer dachte denn in jenen Zeiten an das „Später“?
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Nach drei Jahren vertauschte ich das Gymnasium mit einer anderen Lehranstalt, der Verkehr mit mei-
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nen ehemaligen Kameraden wurde immer spärlicher, bis ich schließlich von Salzburg fort in eine an-
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dere Stadt kam und für viele Jahre alles, was mir dort bekannt war, aus den Augen verlor.
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Die Zeit floß dahin und mit ihr meine Jugend, ich hatte so manches Bunte erlebt, war nun schon ein
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Dreißiger, verheiratet und schlug mich als Zeichner und Illustrator schlecht und recht durchs Leben.
II.
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Da –, es war in München, wo wir damals wohnten, – wurde mir an einem nebligen Novembernachmit-
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tag der Besuch eines Unbekannten gemeldet.
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„Eintreten!“
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Der Besucher war – soweit ich im Dämmerlichte unterscheiden konnte – ein Mann von Durchschnitts-
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äußerem, der sich hastig vorstellte:
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„Franz Gautsch; bitte, kann ich Sie eine halbe Stunde sprechen?“
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Ich bejahte, bot dem Herrn einen Stuhl an und ließ Licht und Tee bringen.
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„Womit kann ich dienen?“ und meine anfängliche Gleichgültigkeit wandelte sich erst in Neugier, dann
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in Erstaunen, als der Fremde ungefähr nachfolgendes erzählte:
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„Ich werde Ihnen einige Vorschläge machen. Ich spreche nicht für mich, sondern im Namen eines
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Mannes, den Sie vielleicht vergessen haben, der sich Ihrer aber noch gut erinnert. Dieser Mann ist im
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Besitze von für europäische Begriffe unerhörten Reichtümern. Ich spreche von Claus Patera, Ihrem
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ehemaligen Schulkameraden. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht! Durch einen eigentümlichen Zufall
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kam Patera zu dem vielleicht größten Vermögen der Welt. Ihr einstiger Freund ging nun an die Ver-
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wirklichung einer Idee, welche allerdings eine gewisse Unerschöpflichkeit der materiellen Mittel zur
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Voraussetzung hat. – Ein Traumreich sollte gegründet werden! – Der Fall ist kompliziert; ich werde
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mich kurz fassen.
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Zunächst wurde ein geeignetes Areal von 3000 Quadratkilometern erworben. Ein Drittel dieses Lan-
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des ist stark gebirgig, den Rest bilden eine Ebene und Hügelgelände. Große Wälder, ein See und ein
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Fluß teilen und beleben dieses kleine Reich. Eine Stadt wurde angelegt, Dörfer, Meierhöfe; dazu war
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sofort ein Bedürfnis vorhanden, denn schon die Anfangsbevölkerung bezifferte sich auf 12 000 See-
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len. Jetzt zählt das Traumreich 65 000 Einwohner.“
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Der fremde Herr machte eine kleine Pause und nahm einen Schluck Tee. Ich war ganz still und sagte
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nur ziemlich betreten:
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„Weiter!“
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Und ich erfuhr dann folgendes:
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„Patera hegt einen außerordentlich tiefen Widerwillen gegen alles Fortschrittliche im allgemeinen. Ich
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sage nochmals, gegen alles Fortschrittliche, namentlich auf wissenschaftlichem Gebiete. Bitte meine
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Worte hier möglichst buchstäblich aufzufassen, denn in ihnen liegt der Hauptgedanke des Traumrei-
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ches. Das Reich wird durch eine Umfassungsmauer von der Umwelt abgegrenzt und durch starke
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Werke gegen alle Überfälle geschützt. Ein einziges Tor ermöglicht den Ein- und Austritt und macht
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die schärfste Kontrolle über Personen und Güter leicht. Im Traumreiche, der Freistätte für die mit der
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modernen Kultur Unzufriedenen, ist für alle körperlichen Bedürfnisse gesorgt. Der Herr dieses Landes
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ist weit davon entfernt eine Utopie, eine Art Zukunftsstaat schaffen zu wollen. Anhaltende materielle
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Not ist, nebenbei erwähnt, dort ausgeschlossen. Die vornehmsten Ziele dieser Gemeinschaft sind über-
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haupt weniger auf Erhaltung der realen Werte, der Bevölkerung und Einzelwesen gerichtet. Nein,
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durchaus nicht! ........ aber ich sehe Sie ungläubig lächeln, und in der Tat, es ist fast allzu schwer für
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mich, mit trockenen Worten das zu beschreiben, was Patera mit dem Traumreich eigentlich will.
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Zunächst wäre hier zu bemerken, daß jeder Mensch, der bei uns Aufnahme findet, durch Geburt oder
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ein späteres Schicksal dazu prädestiniert ist. Eminent geschärfte Sinnesorgane befähigen ihre Inhaber
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bekanntlich zum Erfassen von Beziehungen der individuellen Welt, welche für Durchschnittswesen,
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abgesehen von vereinzelten Momenten, einfach nicht vorhanden sind. Und sehen Sie, gerade diese
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sozusagen unvorhandenen Dinge bilden die Hauptessenz unserer Bestrebungen. Im letzten und tiefsten
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Sinne ist es die unergründliche Weltenbasis, welche die Traumleute, – so nennen sie sich –, keinen
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Augenblick außer acht lassen. Normalleben und Traumwelt sind vielleicht Gegensätze und eben diese
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Verschiedenheit macht eine Verständigung so schwer. Auf die Frage: Was geschieht eigentlich im
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Traumlande? Wie lebt man dort? müßte ich schlechterdings schweigen. Ich könnte Ihnen nur die
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Oberfläche schildern, aber zum Wesen des Traummenschen gehört es ja gerade, daß er in die Tiefe
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strebt. Alles ist auf ein möglichst durchgeistigtes Leben angelegt; Leid und Freud der Zeitgenossen
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sind dem Träumer fremd. Sie müssen ihm von seinem ganz anderen Wertungsmaßstab aus natürlich
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fremd bleiben. Am ehesten dürfte noch, wenigstens vergleichsweise, der Begriff ‚Stimmung‘ den Kern
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unserer Sache treffen. Unsere Leute erleben nur Stimmungen, besser noch, sie leben nur in Stimmun-
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gen; alles äußere Sein, das sie sich durch möglichst ineinandergreifende Zusammenarbeit nach
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Wunsch gestalten, gibt gewissermaßen nur den Rohstoff. Daß dieser nicht ausgeht, dafür ist selbstver-
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ständlich überreichlich gesorgt. Doch glaubt der Träumer an nichts als an den Traum, – an seinen
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Traum. Dieser wird bei uns gehegt und entwickelt, ihn zu stören wäre unausdenkbarer Hochverrat.
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Darum auch die strenge Sichtung der Personen, die eingeladen werden, an diesem Gemeinwesen teil-
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zunehmen. Um mich kurz zu fassen und zu Ende zu kommen“ – hier legte Gautsch seine Zigarette fort
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und blickte mir ruhig ins Gesicht:
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„Claus Patera, absoluter Herr des Traumreichs, beauftragt mich als Agenten, Ihnen die Einladung
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zur Übersiedelung in sein Land zu überreichen.“
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Die letzten Worte sprach mein Besucher etwas lauter und sehr förmlich. Und nun schwieg dieser
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Mensch und auch ich war vorerst still, was jeder meiner Leser begreifen wird. Fast zwingend hatte
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sich mir nämlich der Gedanke aufgedrängt, einem Irrsinnigen gegenüber zu sitzen. Es war mir wahr-
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haftig recht schwer, meine Aufregung zu verbergen. Scheinbar spielend rückte ich die Lampe aus dem
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unmittelbaren Bereich meines Besuchers, zugleich entfernte ich geschickt einen Zirkel sowie ein klei-
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nes Radiermesser, – spitze, gefährliche Gegenstände –.
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Die ganze Situation war entschieden äußerst peinlich. Beim Anfang der Traumgeschichte hatte ich an
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einen Scherz gedacht, den sich irgendein Bekannter mit mir erlauben wollte. Leider schwand dieser
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Hoffnungsschimmer immer mehr, und seit zehn Minuten überlegte ich krampfhaft meine Chancen.
Anmerkungen zum Autor:
Alfred Kubin (1877–1959): österreichischer Schriftsteller, Grafiker und Buchillustrator Aus: Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman, Reinbek bei Hamburg 2. Aufl. 2012, S. 7–11. Die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage.
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Teilaufgabe 1
Einleitung
- Der vorliegende Textauszug aus dem von Alfred Kubin geschriebenen fantastischen Roman Die andere Seite, der im Jahr 1909 erstmalig veröffentlicht wurde, lässt sich in den Kontext der literarischen Moderne im frühen 20. Jahrhundert einordnen.
- Die Leserschaft trifft auf charakteristische Merkmale und Elemente aus dieser literarischen Epoche, die sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene deutlich werden.
- Kubin lässt einen Ich-Erzähler zu Wort kommen, der eine sonderbare Einladung zu einer Übersiedelung in ein Traumland erhält.
Hauptteil
Formale Analyse- Der sprechende Ich-Erzähler gibt der Leserschaft einen tiefen Einblick in seine Gefühls- und Gedankenwelt. In seinem Monolog bestehend aus Reaktionen und Gedanken offenbart der Ich-Erzähler seine subjektive Sichtweise auf die erlebten Ereignisse und reflektiert seine gegenwärtige Situation. Es kommt zu einer Vermischung von Traum und Realität. Die Erzählform des Ich-Erzählers war in der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts sehr beliebt, da sie die individuellen Erfahrungen, Gefühle und inneren Konflikte des Erzählers beschreibt und der Leserschaft erlaubt, tief in das Bewusstsein und Unterbewusste der Person einzudringen.
- Die Unterteilung in zwei Abschnitte strukturiert den Text inhaltlich. Im ersten Abschnitt legt der Erzähler die Grundlagen für die nachfolgende Handlung und gibt einen Überblick über die Person Patera. Der zweite Textabschnitt beinhaltet die Wendung der Erzählung.
- Hinsichtlich der Zeitstruktur fällt auf, dass der Ich-Erzähler Analepsen verwendet, um auf bereits Vergangenes in Form von Rückblicken zu verweisen. Danach folgen wieder Beschreibungen von aktuellen Geschehnissen. Die Zeitsprünge zu Beginn des Textes (z. B. Vgl. Z. 20-23) ermöglichen einen Einblick in verschiedene Lebensabschnitte des Erzählers.
- Der Dialog zwischen Ich-Erzähler und Franz Gautsch, dem Agenten von Patera, enthüllt die Haltung von Franz Gautsch. Ebenfalls erhält die Leserschaft dadurch die Möglichkeit zu verstehen, was es mit dem Traumreich auf sich hat.
- Die detaillierte Sprache, bestehend aus beschreibenden Begriffen wie „Hellsichtigkeit“ (Z. 9) und „Traumreich“ (Z. 37), trägt zur mysteriösen und fantastischen Atmosphäre des Textes bei.
- Die Personifikation „Die Zeit floß dahin“ (Z. 20) verleiht der Erzählung eine gewisse Lebendigkeit.
- Die „Umfassungsmauer“ (Z. 51), welche das Traumreich umgibt, steht symbolisch für die Abgrenzung von der realen Welt. Die Traummenschen zeichnen sich durch besondere Fähigkeiten aus, über die die Menschen in der normalen, realen Welt nicht verfügen. Das Symbol der Mauer macht die Trennung zwischen realer und irrealer Welt deutlich und stellt damit auch die Abkehr von objektiven Realitäten im frühen 20. Jahrhundert beispielhaft dar.
- Mit den rhetorischen Fragen „Was geschieht eigentlich im Traumlande? Wie lebt man dort?“ (Z. 67 f.), die Gautsch stellt, zielt dieser nicht darauf ab, eine Antwort zu erhalten, sondern die Neugier des Erzählers noch weiter zu verstärken und das Mysterium und Geheimnis rund um das Traumreich hervorzuheben. Außerdem lenken sie die Aufmerksamkeit der Leserschaft erheblich.
- Auffällig ist ebenfalls das fragmentarische Erzählen, das durch den bewussten Einsatz von Gedankenstrichen verstärkt wird. Die Gedankenstriche durchbrechen den Gedankenfluss der Personen, erzeugen eine gewisse Dramatik und heben die verschiedenen Aspekte der Traumwelt formal hervor.
- Die „Hellsichtigkeit“ (Z. 9) dient als Metapher für die Bewusstseinserweiterung, die durch das Eintreten in das Traumreich erfahren werden kann und konstatiert die Besonderheit der Traummenschen, die im Gegensatz zu den durchschnittlichen Menschen in der Lage sind, übersinnliche Fähigkeiten und Phänomene zu erleben.
- Der namenlose Ich-Erzähler, zugleich Protagonist im Werk, berichtet zunächst aus der Vergangenheit von seinem ehemaligen Mitschüler namens Claus Patera und beschreibt ihn als sonderbare Person mit auffälligen Merkmalen, z. B. seinen großen hellgrauen Augen (Vgl. Z. 15). In Pateras Verbindung stehen eigenartige Phänomene und Geschehnisse (Vgl. Z. 7-10). Der Ich-Erzähler beschreibt bspw., dass die Nähe zu Patera eine außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit, die „rätselhafte Hellsichtigkeit“ (Z. 9) in ihm hervorruft. Der Erzähler schildert, dass diese Ereignisse „vor sechzig Jahren in Salzburg“ (Z. 11) begannen. Es fällt jedoch auf, dass der Ich-Erzähler gegenüber den Ereignissen, die er erzählt, skeptisch ist (Vgl. Z. 5-10). Dies lässt auch die Leserschaft des Textes an der Glaubwürdigkeit der erzählten Geschehnisse zweifeln. Insgesamt zeichnet sich die Einleitung durch eine mysteriöse Stimmung aus, die einen im Hinblick auf die weiter folgende Geschichte neugierig werden lässt. Die Spannung verstärkt sich durch den unerwarteten Besuch.
- Eines Tages werden der Ich-Erzähler und seine Frau in München von einem ihnen Unbekannten namens Franz Gautsch besucht. Der Dialog zwischen den beiden Männern wird von Gautschs direkten Anrede eingeleitet: „Franz Gautsch; bitte, kann ich Sie eine halbe Stunde sprechen?“ (Z. 27). Das schafft direkt eine persönliche Bindung. Gautsch erzählt von einem Traumreich, welches Claus Patera erschaffen hat, das durch eine Mauer von der Außenwelt abgegrenzt ist (Vgl. Z. 51 f.) und in dem nach eigenen Werten und Prinzipien gelebt wird (Vgl. Z. 56 f., Z. 71-77.). Es zeichnet sich durch eine besondere Verbindung zur Traumwelt aus. Gautsch beschreibt die träumerische Umgebung, in der sich das Traumreich befindet (Vgl. Z. 39-43).
- Nach Gautschs langer Rede überbringt dieser dem Erzähler eine Einladung von Claus Patera. Es handelt sich um eine Einladung in das von Patera geschaffene Traumreich. Er erklärt, dass er von ihm zu einem „Agenten“ (Z. 81) benannt wurde, der nun die Aufgabe hat, die Einladung zur Reise in das Traumreich zu überbringen. Auf die Einladung regiert der Ich-Erzähler zunächst mit Skepsis (Vgl. Z. 83 ff.). Die Leser*innen erwarten spannend seine Reaktion auf diese ungewöhnliche Einladung.
- Die „Aufregung“ (Z. 86) und Unsicherheit des Ich-Erzählers zeigen sich anhand seiner eigenartigen Verhaltensweisen (Z. 86-88). Der anfängliche Unglaube und die Hoffnung, dass es sich nur einen bloßen Scherz handeln könnte, verwandeln sich in Angst vor der Ernsthaftigkeit des Angebots und die Realität holt ihn schließlich komplett ein (Vgl. Z. 89-91). Auch die Tatsache, dass die Einladung „förmlich“ (Z. 83) überbracht wird, steigert die Ernsthaftigkeit der Einladung.
- Im frühen 20. Jahrhundert etabliert sich das Interesse an der Traumdeutung („Doch glaubt der Träumer an nichts als an den Traum, – an seinen Traum. Dieser wird bei uns gehegt und entwickelt, ihn zu stören wäre unausdenkbarer Hochverrat.“, Z. 76-77), der Rätselhaftigkeit sowie der generellen Bedeutung von Dualität und Polarität. Die Menschen reagieren auf die sozialen und kulturellen Veränderungen der modernen Wellt und der daraus resultierenden Unzufriedenheit mit Isolation und Abgrenzung zur Außenwelt. Das Traumreich erweist sich als alternative Realität, die eine Weltflucht ermöglicht. Die Menschen fliehen vor der Fortschrittlichkeit und Modernisierung. Indirekt handelt es sich um eine Kritik an der Gesellschaft und ihren Erneuerungen.
- Auch Claus Patera zeichnet sich durch eine Abkehr vom Fortschritt aus (Vgl. Z. 48 f.). Er reflektiert die vehemente Skepsis gegenüber wissenschaftlichem Fortschritt. Dazu passt wiederum, dass das Traumreich für die Menschen, die mit der modernen Kultur und Wissenschaft unzufrieden sind, als Zufluchtsort fungieren soll. Der Unbekannte macht deutlich, dass Patera eine Gemeinschaft schaffen möchte, in der die Menschen „nur in Stimmungen“ (Z. 73) leben. Der Fokus auf die Innenschau und den Subjektivismus der Menschen ist charakteristisch für die im 20. Jahrhundert aufkommende literarische Bewegung.
- Die existenzielle Unsicherheit in Bezug auf die gesellschaftlichen Umbrüche zu dieser Zeit führt neben der Suche nach einer alternativen Welt auch zu einer Sinn- und Identitätssuche. Die Traummenschen erfassen Dimensionen, die für Durchschnittsmenschen der realen Welt unsichtbar bleiben und suchen nach einem tieferen Verständnis, einer Erfüllung, die sie im Traumreich finden möchten. Dieser Gedanke wird durch die Metapher der „Hellsichtigkeit“ (Z. 9) verstärkt.
- Die fantastische und surreale Handlung, die man als Leser*in in dem vorliegenden Textauszug vorfindet, gilt als Hauptmerkmal der literarischen Epoche des frühen 20. Jahrhunderts. Die Autoren fokussieren sich vielmehr auf die Innenwelt und das Innenleben bzw. „die Tiefe“ (Z. 69) des Menschen als auf die Außenwelt und tatsächliche Realität. Psychologische Aspekte wie das Unbewusstsein gewinnen in der Moderne immer mehr an Bedeutung.
- Die Menschen im Traumreich zeichnen sich außerdem durch „eminent geschärfte Sinnesorgane“ (Z. 61) aus. Dem Motiv des Übermenschlichen, über die normalen Sinne des Menschen hinausgehende, begegnen wir schon zu Beginn des Textes, wenn der Erzähler von seiner „Hellsichtigkeit“ (Z. 9) spricht. Diese erweiterte Wahrnehmungsebene geht über das Normale hinaus und unterstreicht den mystischen und fantastischen Charakter des Traumreichs.
- Die fragmentarische Erzählweise korrespondiert mit der Fragmentierung der Welt als inhaltliches Merkmal der Moderne. Die Aspekte der Fragmentierung der Welt sind u. a. der Fokus auf die subjektive Wahrnehmung des Menschen, das aufkommende Gefühl der Desorientierung und Entfremdung im Hinblick auf gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen von Wert- und Normvorstellungen sowie der Bruch mit Traditionen, der sich in der Form von neuen Schreibstilen und im Gebrauch von symbolischen und surrealen Elementen bemerkbar macht. Statt der Außenwelt steht die subjektive Innenwelt des Menschen im Vordergrund, die es zu erforschen gilt. Der lyrische Erzähler spricht in diesem Kontext von sogenannten „geistvollen Seelenforschern“ (Z. 10), die sich mit dem Unterbewusstsein des Menschen auseinandersetzen.
Fazit
- Der Textauszug gibt einen ersten Vorgeschmack auf die Existenz des fantastischen Traumreichs. Der literarische Stil im frühen 20. Jahrhundert, der in diesem Abschnitt von Kubins Werk Die andre Seite wiedergefunden werden kann, zeichnet sich durch die Verbindung von fantastischen, psychoanalytischen Elemente aus dem Traumreich mit objektiven Realitäten der tatsächlichen Welt aus.
- Die spannungsgeladene und mysteriöse Atmosphäre zieht sich von Anfang bis Ende durch den Textauszug. Auch die Leserschaft möchte mehr von Patera und seinem Traumreich erfahren. Der offene Schluss lässt die Leser*innen in ihrer Ungewissheit jedoch zurück und bringt sie dazu, über den weiteren Verlauf der Geschichte und die Konsequenzen der Entscheidung des Erzählers nachzudenken.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Der Zukunftsroman Corpus Delicti. Ein Prozess stammt von der Autorin Juli Zeh und gehört zur dystopischen Literatur, die gesellschaftliche Entwicklungen kritisch darstellt und einen erschreckenden Ausgang zeichnet.
- Nachfolgend sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Welten herausgearbeitet werden.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten- Kubin fokussiert sich auf die Thematisierung des Innenlebens, Subjektivismus, des Unbewussten sowie der Selbstreflexion des Menschen. Diese Themen kommen durch die Erschaffung des Traumreichs zum Tragen. Im Vordergrund stehen also die inneren Prozesse, die von außen nicht zwingend sichtbar sind. In Corpus Delicti verwendet die Autorin Juli Zeh eine personalisierte Erzählperspektive, die es den Leser*innen ermöglicht, die Welt aus der subjektiven Sicht der Protagonistin Mia Holl zu erleben. Die Leserschaft erhält einen Einblick in ihr chaotisches Innenleben, also ihre Gedanken und Emotionen.
- Die Flucht vor der Welt bzw. der Moderne wird in beiden Werken thematisiert. Die reale Welt wird sowohl bei Zeh als auch bei Kubin als bedrohlich wahrgenommen. Die Menschen fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt. In Kubins Werk wird dies durch das Schaffen eines Traumreichs deutlich. In Juli Zehs Roman sind die Protagonisten unglücklich, protestieren gegen den bestehenden totalitären Staat und sehen ihren einzigen Ausweg im Tod.
- In beiden Werken spielen, wenn auch unterschiedlich positiv bzw. negativ konnotiert, die Themen Isolation und Abgrenzung eine wichtige Rolle. In Corpus Delicti wird die Gesellschaft dauerhaft durch den Gesundheitsstaat mit seinen strengen Vorschriften überwacht und reglementiert. Das Traumreich befindet sich abgeschieden von der restlichen Außenwelt und zeigt keinerlei Verbindung zu objektiven Realitäten.
- Die Kritik an der Wissenschaft und am Fortschritt der modernen Welt verbindet ebenfalls beide Werke miteinander. In Die andre Seite wird Pateras kritische Haltung gegenüber allem Fortschritt thematisiert, während in Corpus Delicti extreme Gesundheitsmaßnahmen, die der Staat gegen den Willen der Bevölkerung ergreift, im Vordergrund stehen und durch die Protagonist*innen scharf kritisiert werden.
- Der zeithistorische Kontext der beiden Werke ist verschieden, was sich auch auf die Darstellung der jeweiligen Welt überträgt. Juli Zehs Werk gehört zur zeitgenössischen Literatur. Kubins Roman stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die Traumwelt hat in Kubins Werk einen stark surrealen Charakter, wohingegen die Welt bei Juli Zeh realistischere Züge aufweist.
- Das einzelne Individuum nimmt innerhalb der Gesellschaft ebenfalls eine unterschiedliche Rolle ein. Statt strenger Überwachung bei Juli Zeh stehen das Individuum und seine Entscheidungsfreiheit bei Alfred Kubin im Vordergrund. Juli Zeh konstatiert eine Welt, in der Menschen keine freien Bürger sind und ihr Leben demnach auch nicht selbstbestimmt beschreiten dürfen. Die Handlung ihres Werks Corpus Delicti. Ein Prozess spielt in einem totalitären Überwachungsstaat im 21. Jahrhundert. Die Einhaltung der Vorschriften des Gesundheitsregimes wird streng kontrolliert. Außerdem wird das Gesundheitssystem idealisiert und als einzig gültige und beste Staatsform propagiert.
- Realität und Flucht werden in den Werken ebenfalls teilweise unterschiedlich dargestellt. Bei Kubin stellt die Traumwelt eine fantastische Alternative zur realen Welt dar. Juli Zeh beschäftigt sich mit einer dystopischen Zukunft, die von einem totalitären Überwachungsstaat geprägt ist. Mit ihrem Werk möchte die Autorin vor einer totalen Überwachung warnen.
- Die Welt und ihre Prinzipien in Corpus Delicti. Ein Prozess werden als bedrohlich und unharmonisch dargestellt. Die Gesundheitsmethode wird beklagt und es bestehen gesellschaftliche Spannungen. Das Traumreich wird im Gegensatz dazu als harmonisch beschrieben. Kubins Werk thematisiert, dass man sich im Traumreich auf das Wohl der Menschen, die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse (Vgl. Z. 54) und die Individualität fokussiert. Auf der Suche nach individueller Freiheit kommen die Menschen im Traumreich an ihr Ziel. In Corpus Delicti. Ein Prozess steht der Kollektivismus und die absolute Unterwerfung unter den totalitären Staat im Vordergrund.
Schluss
- Die Gegenüberstellung zeigt, dass je nach zeitlichem Kontext der Werke unterschiedliche inhaltliche und thematische Schwerpunkte gelegt werden.
- Grundlegende Themen wie Weltflucht, Wunsch nach einer alternativen Welt, Isolation und Abgrenzung sowie Kritik an der Wissenschaft und der Moderne tauchen in beiden Werken auf. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, dass diese Themen verschieden dargestellt werden und sich, wenn auch nur in Details, einige Diskrepanzen erkennen lassen, wie unter anderem anhand der unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen deutlich wird.