Teil B
Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Werkvergleich
Thema: Rastlosigkeit Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. Falk Richter: Electronic City (Airport Romance) (2002) Aufgabenstellung:
1
Fasse den Auszug aus Falk Richters Dramentext „Electronic City“ zusammen und analysiere den Inhalt und die sprachlich-formale Gestaltung. (Material)
(40 BE)
2
Setze die Figur des Managers im vorliegenden Textauszug (Material) in Beziehung zur Figur Faust aus Goethes gleichnamigem Drama.
(35 BE)
3
Der Autor und Regisseur Falk Richter nimmt für Theaterstücke in Anspruch, dass sie „sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auseinandersetzen, [...] sich einmischen [sollen] in gesellschaftliche Diskussionen“.
Begründe, warum der Dramenauszug (Material) im Sinne des Zitats als „soziales“ Drama bezeichnet werden kann.
Material
Electronic City (Airport Romance) (2002)
Falk Richter
Im Personenverzeichnis werden die Figuren TOM und JOY sowie ein „Team von etwa 5 bis 15 Menschen“ genannt. Für dieses sogenannte Team sind u. a. die Textabschnitte vorgesehen, die mit einem Spiegelstrich beginnen. Der Textauszug ist der Beginn des Stückes.
(25 BE)
1
– Tom betritt das Gebäude, in dem er seit etwa zwei Wochen wohnt
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– kennt niemanden
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– endlose Flure
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– fünfundzwanzig Wohneinheiten auf jedem Flur
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– Die Stadt?
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– Los Angeles
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– New York
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– Berlin
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– Seattle, Tokio, Mexico City
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– er weiß es selbst nicht so genau
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– er läuft unsicher über den Flur
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– und schaut auf den Schlüssel in seiner Hand
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– schaut auf die Tapete
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– die seltsam schlicht gehalten ist
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– nichts fällt hier auf, nichts, an dem er sich orientieren könnte, und
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– ja, genau, er weiß es selbst nicht mehr, Europa, Nord- oder Südamerika
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– es könnte auch ein Wohnkomplex über dieser Einkaufszone in Brisbane, Queensland sein
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– in Melbourne oder Sydney
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– irgendwo in Hongkong, Taipeh oder Singapur
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– er hat keine Ahnung in diesem Moment
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– er kennt niemanden, und er kann sich an nichts erinnern: War ich hier schon einmal? Ist dies die
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richtige Etage, der richtige Flur, war das links oder rechts neben dem Fahrstuhl und vor allem: IST
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DAS HIER ÜBERHAUPT DAS RICHTIGE GEBÄUDE?
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– Zu oft den Ort gewechselt, in der letzten Zeit, völlig die Orientierung verloren: Wo ist Joy, wo ist
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Joy?, bin ich denn wirklich schon seit zwei Wochen hier oder oder ... ich weiß es nicht: Zwei
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STUNDEN, wann bin ich denn hier angekommen und vor allem: Wie? Mit welcher Maschine?
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Oder bin ich hierher gelaufen? Nein, das kann nicht sein, kann nicht, nein, warte, ich ... Stille in
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meinem Gehirn, ich ich ... nichts erinnert mich an irgendwas hier, nichts, das schlichte Grau, dann
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dieser Teppich, der Blick aus dem Fenster: Das könnte überall sein.
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– „Wenn ich doch bloß mein Handy mitgenommen hätte – meinen Palm, meinen Organizer, mein
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Notebook – oder wenigstens einen Kompass.
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– Oder einen Discman, dann könnte ich jetzt etwas Musik hören, bis hier irgendwann irgendwer
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vorbeikommen wird.“
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– Er hat ein Notizbuch, wo er sich notiert, auf welchem Flur in welcher Stadt er seine Zimmer ange-
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mietet hat
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– und er braucht diese UNTERLAGEN, verdammt, Scheiße, mein Flieger, wie soll ich das jetzt noch
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schaffen? Ich brauch doch diese Scheiß-, dings, unterlagen für den Weiterflug, sonst brauch ich da
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doch gar nicht erst hin und und – 7 – 1 – 7 – 2 – 4? 7 – 1 – 7 – 2 – 5? Diese verdammte Zahlen-
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kombination, wenn ich nur wüßte, in welcher Stadt ich hier bin, dann dann, und wieso dieser
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plötzliche Powerfailure in meinem Gehirn, alle Zahlen gelöscht, alles weg, JOY? Wo ist JOY? So
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hieß die doch, meine Frau, Freundin, so hieß die doch?, welches Genre haben wir hier eigentlich?
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Haben wir das schon entschieden?
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TOM Horror, Hektik, Großstadt, Banken, Börse, Geldströme fließen, Testosteron fließt, strömt, das
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ganze Gebäude, zweitausend Einzimmerappartements, alle gehören derselben Kette an, die Fassaden
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überall auf der Welt immer gleich, ich habe immer das Gefühl, anzukommen, nie wegzufahren, ich
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reise, aber ich bewege mich nicht, mein Gehirn sagt mir immer wieder: Hier warst du schon. Auch
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wenn ich noch nie da war. Mein Gehirn erkennt alles wieder, auch wenn ich weiß, nein, hier war ich
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noch nicht, ich kann das gar nicht kennen, aber die Zimmer sehen immer gleich aus, die Zimmer
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sagen: „Welcome Home“. Das steht auch auf der freundlichen handgeflochtenen Matte vor der Ein-
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gangstür: „Welcome Home“, und so heißt auch die Firma, die diese Einzimmerappartements überall
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auf der Welt baut: „Welcome Home“, DAS IST ABER NICHT MEIN ZUHAUSE VERDAMMT
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NOCHMAL ICH WOHNE HIER ZWAR ABER DAS IST NICHT MEIN ZUHAUSE.
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Kurze Atempause.
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Aber wo ist das dann? Wo könnte das sein?
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– Aber welches Genre haben wir hier eigentlich? Haben wir das schon entschieden?
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– Manager auf Psychopharmaka irgendwo am anderen Ende der Welt in Hochhausbetten Lager-
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stätten Halbtagsunterkünften wo sie sich ablegen kurzzeitig zusammenbrechen Ruhe finden um
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dann nach wenigen Stunden weiterzufliegen zu fusionieren zu investieren zu spekulieren
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– und überall wo sie ankommen sieht es gleich aus
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– und überall wo sie ankommen treffen sie auf dieselben Leute
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– und überall wo sie ankommen fallen sie erschöpft in Hotelzimmer
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– die überall wo sie ankommen im absolut gleichen Design gehalten sind nicht unterscheidbar
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– damit sie überall wo sie ankommen das Gefühl haben dass sie sich überhaupt gar nicht bewegt
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haben
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– dass sie überall dort wo sie ankommen ihre Heimat haben und nachts nach getaner Arbeit immer an
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denselben Ort zurückkehren.
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TOM Ich habe das Gefühl, ich sitze immerfort mit meinem Laptop auf dem Schoß in irgendeiner
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Lobby, einem Wartesaal, einer Businesslounge, und die Menschen um mich herum kenne ich allesamt
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sehr gut, das sind alles meine Freunde, obwohl ich sie noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe,
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obwohl ich noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt habe, und dann klingelt mein Handy und das
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Handy des Mannes, der neben mir sitzt, und dann klingelt das Handy des Mannes, der neben dem
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Mann sitzt, der neben mir sitzt, und dann sagen wir alle gleichzeitig in unser Handy, dass wir gleich
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ankommen, dass wir nur noch auf unsere Koffer warten, dass wir genau viereinhalb Minuten Ver-
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spätung haben, weil unsere Maschine genau viereinhalb Minuten verspätet angekommen ist und wir
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deshalb viereinhalb Minuten verspätet zu dem Meeting kommen werden und wir deshalb bitten, dass
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man das Meeting einfach viereinhalb Minuten später anfangen lässt, geht das?, sorry!, ich meine, wäre
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das machbar, könnten Sie alle noch bitte viereinhalb Minuten warten oder müssen alle gleich schon
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wieder weiter?, sind dann alle schon wieder weg?, auf zum nächsten Termin?, hallo ist da wer? Hallo
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die Verbindung ist grad irgendwie Scheiße was? Funkloch hallo! Fuck!
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– Die Businesslounges in den Flughäfen unterscheiden sich nicht mehr voneinander, und sie haben
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das Gefühl, sie sitzen in großen Warteräumen oder Lesesälen, wo sie noch nett nach getaner Arbeit
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mit den Kollegen einen Drink zu sich nehmen und den Tag ausklingen lassen können.
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Alle gleichzeitig, aber nicht chorisch synchron:
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ABER WORAUF WARTEN WIR EIGENTLICH WORAUF VERDAMMT NOCHMAL
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WARTEN WIR EIGENTLICH
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– auf den Anschlussflug
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– auf eine Zahl die durchgegeben wird
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– jemand sagt uns was wir kaufen verkaufen halten abstoßen sollen
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– mein Ladegerät fuck Scheiße Hilfe wo ist mein Ladegerät!!
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– könnte dieses verdammte Flugzeug etwas schneller fliegen, ich muss doch noch weiter und diesen
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Deal in Seattle oder war das Rom? Ich weiß es nicht mehr, ich verpass ja schon wieder alles, aber
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bitte schneller, geht das, bitte, hallo, schneller, verdammte Scheiße, schneller, ich verpass sonst
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wieder alles und dann bin ich raus – raus woraus?, fragt sich nur – aber diese Frage werde ich mir
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nicht beantworten, denn das bremst nur das Tempo und ich brauche das Tempo sonst stürze ich ab
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und diese verdammten Sicherheitsvorkehrungen nützen ja auch alle nichts, wer abstürzt, stürzt ab
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und basta, ihr könnt euch ja gerne alle eine Schwimmweste überziehen, während wir in diesen
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Wald reincrashen, aber ich mach das nicht, ich nicht, verdammt nochmal, schneller!
Anmerkungen zum Autor:
Falk Richter (*1969), deutscher Dramatiker und Regisseur, dessen Stücke in mehr als 35 Sprachen übersetzt wurden und weltweit gespielt werden. Aus: Falk Richter: Electronic City (Airport Romance), Frankfurt am Main 2002, letzter Zugriff am 15.06.2021.
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Teilaufgabe 1
Inhaltsangabe und Analyse der sprachlich-formalen Gestaltung des Dramenanfangs von Electronic City
- Falk Richters 2002 erschienenes Drama Electronic City (Airport Romance) beginnt mit der Darstellung eines zutiefst desorientierten und überforderten Protagonisten namens Tom. In einem stark fragmentierten Monolog schildert dieser seine Rückkehr in ein anonymes Apartmentgebäude – wobei unklar bleibt, in welcher Stadt oder auf welchem Kontinent er sich befindet (Vgl. Z. 6–21).
- Diese Unsicherheit betrifft nicht nur den Ort, sondern auch den Zeitpunkt seines Eintreffens: Tom ist sich nicht sicher, ob er sich seit zwei Wochen oder lediglich zwei Stunden dort aufhält (Vgl. Z. 24 ff.).
- Selbst grundlegende Informationen über seinen Aufenthalt, wie die richtige Etage oder Zimmernummer, kann er sich nicht mehr ins Gedächtnis rufen (Vgl. Z. 21 ff.). Die Figur wird so als Getriebener einer entfremdeten, durchrationalisierten Welt gezeichnet, in der Vertrautheit, Orientierung und Identität zunehmend verloren gehen.
- Toms Krisenerfahrung wird durch die sprachlich-formale Gestaltung des Dramentextes intensiviert. Die Szene ist nicht als klassischer Dialog aufgebaut, sondern erinnert in ihrer Form vielmehr an einen Prosatext, durchsetzt mit kurzen Abschnitten, elliptischen Sätzen und abrupten Gedankenwechseln.
- Die Erzählperspektive variiert zwischen dritter Person und Ich-Form (z. B. Z. 36 ff.), wodurch der Text eine unklare Erzählinstanz suggeriert und die innerpsychische Zerrissenheit Toms unterstreicht. Die Sprechakte wechseln zwischen Tom selbst und einem „Team von 5 bis 15“ anonymen Stimmen, die teilweise seine Gedanken spiegeln oder kollektiv als Stimme einer ganzen Berufsgruppe fungieren (vgl. Z. 1–10; 67 ff.). So entsteht der Eindruck, Tom sei kein Individuum mit eigenem Profil, sondern ein austauschbares Exemplar innerhalb einer global agierenden Managerkaste.
- Kennzeichnend für die sprachliche Gestaltung ist eine kurzgliedrige, häufig parataktische Syntax (Vgl. Z. 6–10), die durch plötzliche Gedankensprünge, Ausrufe (z. B. „Scheiße“, Z. 36) und Fragmentierungen („mein Ladegerät fuck Scheiße Hilfe“, Z. 89) unterbrochen wird. Die Wiederholung von Begriffen wie „viereinhalb Minuten“ (Vgl. Z. 74–77) oder die Aufzählung identischer Hotelzimmerausstattungen weltweit (Z. 59–64) erzeugen eine monotone, fast mantrahafte Sprachstruktur, die den Verlust individueller Wahrnehmung und Orientierung widerspiegelt.
- Inhaltlich wird Tom als ein exemplarischer Vertreter einer globalisierten, hochmobilen und durchökonomisierten Arbeitswelt inszeniert. Er ist Teil eines Systems, das von internationaler Mobilität, Zeitdruck und Uniformität geprägt ist – Flughäfen, Hotels, Lobbys und Arbeitsprozesse erscheinen weltweit identisch (vgl. Z. 56–66).
- Selbst sein Zuhause wird ihm zur Fiktion: Das Willkommensschild „Welcome Home“ (Z. 49) erweist sich als zynische Ironie in einem Leben ohne Verankerung. In einem Zustand völliger Überforderung wünscht sich Tom technische Geräte herbei, die ihn durch digitale Assistenz retten könnten (Vgl. Z. 30-33), verliert jedoch die Kontrolle über seine Wahrnehmung, Zeit und Sprache. Die kapitalistische Leistungsgesellschaft wird so als ein sich beschleunigendes System der Selbstentfremdung dargestellt, in dem der Einzelne seine Identität einbüßt.
Teilaufgabe 2
Vergleich zwischen Tom aus Electronic City und Faust aus Goethes Faust I
- Obwohl zwischen Tom, einem Manager der Gegenwart, und Faust, einem Gelehrten des frühen 19. Jahrhunderts, scheinbar Welten liegen, ergeben sich erstaunliche Parallelen. Beide Figuren sind von innerer Unruhe und einem tiefen Gefühl der Entfremdung getrieben.
- Tom ist zu Beginn des Dramas völlig desorientiert: Er weiß nicht, wo er ist, wie er dorthin gelangt ist, oder ob er sich am richtigen Ort befindet (Vgl. Z. 6–27). Dieser Zustand erinnert an Fausts Erlebnis in der Walpurgisnacht, in der Raum, Zeit und Realität verschwimmen: Auch er weiß nicht mehr, ob er steht oder geht, ob er träumt oder wacht (Vgl. V. 3906 ff.). Die Auflösung der räumlich-zeitlichen Orientierung ist Ausdruck eines metaphysischen Orientierungsverlusts, den beide Figuren durchleben – Tom als Opfer einer entfremdeten Arbeitswelt, Faust als Gelehrter, der an die Grenzen des Wissens gelangt ist.
- Beide Männer sind heimatlos: Tom erkennt, dass seine ständig wechselnden Aufenthaltsorte keine echte Heimat mehr bieten, trotz der standardisierten Willkommensmatte „Welcome Home“ (Z. 49). Faust empfindet seine Studierstube als „verfluchtes, dumpfes Mauerloch“ (V. 399) und nennt sich selbst den „Unbehausten“ (V. 3348). Heimat wird in beiden Fällen zur Utopie, ein Ort, der entweder längst verloren oder nie vorhanden war.
- In menschlichen Beziehungen zeigen sich ähnliche Entfremdungserscheinungen: Tom erinnert sich kaum noch an seine Partnerin Joy (Z. 40 f.), während Faust an keinem echten sozialen oder familiären Leben teilnimmt. Seine Beziehung zu Gretchen ist geprägt von Instrumentalisierung und späterer Flucht. Beide Figuren erscheinen beziehungsunfähig und gefangen in ihren jeweiligen Systemen.
- Auch die Arbeitswelt, in der sie sich bewegen, wird von beiden als entfremdend erlebt. Tom arbeitet in einem globalisierten Konzernumfeld, das von Profit, Geschwindigkeit und Funktionalität dominiert wird (Vgl. Z. 43-46; 56 ff.). Für ihn ist Arbeit nicht sinnstiftend, sondern zerstörerisch. Faust hingegen strebt in der Wissenschaft nach der Erkenntnis, „was die Welt / im Innersten zusammenhält“ (V. 382 f.). Doch auch dieses Streben bleibt erfolglos, da ihn der Erdgeist als zu klein erkennt (V. 512 f.). Beide scheitern – der eine am Übermaß technisierter Arbeit, der andere am Übermaß theoretischen Denkens.
- Schließlich sind beide von permanenter Bewegung getrieben. Tom jagt von Termin zu Termin, ohne je zur Ruhe zu kommen (Vgl. Z. 90-94). Auch Faust wird durch Mephisto rastlos durch die Welt geführt, stets auf der Suche nach dem erfüllenden Augenblick, der jedoch nie eintritt. Beide erleben ein Leben ohne Stillstand, das sie existenziell erschöpft.
- Tom und Faust stehen somit exemplarisch für zwei Epochen – den modernen Kapitalismus und die romantische Sinnsuche – und verweisen zugleich auf ein zeitloses Motiv: das des Menschen, der in einer ihm entfremdeten Welt keinen Halt mehr findet.
Teilaufgabe 3
Electronic City als soziales Drama
- Auch wenn Falk Richters Electronic City auf den ersten Blick nicht dem klassischen Muster eines sozialen Dramas entspricht, erfüllt es die zentralen Kriterien dieser Gattung in zeitgemäßer Weise. Anders als etwa in Büchners Woyzeck oder Hauptmanns Die Weber steht bei Richter kein Mitglied der Unterschicht im Fokus, sondern ein Angehöriger der globalisierten Leistungselite. Doch gerade hierin liegt die Modernität des Textes: Die Kritik richtet sich gegen soziale Missstände im Kontext spätkapitalistischer Arbeitsverhältnisse.
- Tom ist kein freier Akteur, sondern eine Figur, die durch ihr soziales Milieu – die globale Geschäftswelt – massiv geprägt und gesteuert wird. Seine Wohnung ist austauschbar, seine Beziehungen sind flüchtig, seine Arbeit verlangt absolute Mobilität und Anpassung (Vgl. Z. 62-66). Selbst seine Identität scheint er zu verlieren: Er kann sich nicht mehr erinnern, wer Joy ist oder in welcher Stadt er sich befindet (Vgl. Z. 22–27, 44 f.).
- Wie im klassischen sozialen Drama sind auch hier die Ursachen der Notlage strukturell bedingt. Tom gerät nicht durch eigenes Fehlverhalten, sondern durch ein System in die Krise, das ihn permanent überfordert: Seine Notizbücher, digitalen Geräte und Unterlagen sind zugleich seine Überlebenswerkzeuge – ihre Abwesenheit stürzt ihn ins Chaos (Vgl. Z. 30–40). Die Anonymität und Gleichförmigkeit der Räume und Menschen verstärken dieses Gefühl der Austauschbarkeit.
- Hinzu tritt der Verlust individueller Selbstbestimmung: Entscheidungen werden von Vorgesetzten gefällt („jemand sagt uns“, Z. 88), die Manager sind „auf Psychopharmaka“ (Z. 56) und in einem ständigen Zustand der Übermüdung, Hetze und Angst vor dem Scheitern.Diese Entfremdung von Arbeit und Selbst lässt sich direkt auf die Diagnose moderner Arbeitsverhältnisse beziehen – der Mensch wird zum austauschbaren Bestandteil einer wirtschaftlichen Maschine.
- Auch formal verweist das Drama auf gesellschaftliche Strukturen: Die kollektive Sprecherfigur des Teams entindividualisiert die Aussagen. Toms persönliche Geschichte wird zum Prototyp eines globalisierten Arbeitsnomaden – damit verweist das Stück über das Individuelle hinaus auf strukturelle Bedingungen.
- Falk Richters Electronic City thematisiert somit in eindrucksvoller Weise die psychischen und sozialen Folgen einer durchkapitalisierten Arbeitswelt. Als Drama, das die Entfremdung, Erschöpfung und Desorientierung des modernen Menschen ins Zentrum rückt, erfüllt es den Anspruch, sich kritisch in gesellschaftspolitische Diskurse einzumischen – und verdient es, als zeitgemäßes soziales Drama verstanden zu werden.