Vorschlag A
Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Vergleich
Thema: Soziale Ächtung Hebbel, Friedrich (* 1813 - † 1863): Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten (1844) Büchner, Georg (* 1813 - † 1837): Woyzeck (1836/37) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Auszug aus Friedrich Hebbels Drama Maria Magdalena. (Material)
- Vergleiche Hebbels Drama Maria Magdalena (Material) und Goethes Drama Faust I im Hinblick darauf, wie Klara und Margarete sowie ihr Umfeld mit der drohenden sozialen Ächtung der jeweiligen Frauenfigur umgehen.
(60 BE)
(40 BE)
1
Dritter Akt
2
Zimmer bei Leonhard.
3
Erste Szene
4
LEONHARD (an einem Tisch mit Akten, schreibend). Das wäre nun der sechste Bogen nach Tisch!
5
Wie fühlt sich der Mensch, wenn er seine Pflicht tut! Jetzt könnte mir in die Tür treten, wer wollte,
6
und wenn’s der König wäre – ich würde aufstehen, aber ich würde nicht in Verlegenheit geraten! Ei-
7
nen nehm ich aus, das ist der alte Tischler! Aber im Grunde kann auch der mir wenig machen! Die
8
arme Klara! Sie dauert mich, ich kann nicht ohne Unruhe an sie denken! Dass der eine verfluchte
9
Abend nicht wäre! Es war in mir wirklich mehr die Eifersucht, als die Liebe, die mich zum Rasen
10
brachte, und sie ergab sich gewiss nur darein, um meine Vorwürfe zu widerlegen, denn sie war kalt
11
gegen mich, wie der Tod. Ihr stehen böse Tage bevor, nun, auch ich werde noch viel Verdruss haben!
12
Trage jeder das Seinige! Vor allen Dingen die Sache mit dem kleinen Buckel nur recht fest gemacht,
13
damit die mir nicht entgeht, wenn das Gewitter ausbricht! Dann hab ich den Bürgermeister auf meiner
14
Seite, und brauche vor nichts bange zu sein!
15
Zweite Szene
16
KLARA (tritt ein). Guten Abend, Leonhard!
17
LEONHARD. Klara? (Für sich.) Das hätt ich nun nicht mehr erwartet! (Laut.) Hast du meinen Brief
18
nicht erhalten? Doch – Du kommst vielleicht für deinen Vater und willst die Steuer bezahlen! Wie viel
19
ist es nur? (In einem Journal blätternd.) Ich sollte es eigentlich aus dem Kopf wissen!
20
KLARA. Ich komme, um dir deinen Brief zurückzugeben. Hier ist er! Lies ihn noch einmal!
21
LEONHARD (liest mit großem Ernst). Es ist ein ganz vernünftiger Brief! Wie kann ein Mann, dem
22
die öffentlichen Gelder anvertraut sind, in eine Familie heiraten, zu der (er verschluckt ein Wort) zu
23
der dein Bruder gehört?
24
KLARA. Leonhard!
25
LEONHARD. Aber vielleicht hat die ganze Stadt Unrecht? Dein Bruder sitzt nicht im Gefängnis? Er
26
hat nie im Gefängnis gesessen? Du bist nicht die Schwester eines – deines Bruders?
27
KLARA. Leonhard, ich bin die Tochter meines Vaters, und nicht als Schwester eines unschuldig Ver-
28
klagten, der schon wieder freigesprochen ist, denn das ist mein Bruder, nicht als Mädchen, das vor un-
29
verdienter Schande zittert, denn (halblaut) ich zittre noch mehr vor dir, nur als Tochter des alten Man-
30
nes, der mir das Leben gegeben hat, stehe ich hier!
31
LEONHARD. Und du willst?
32
KLARA. Du kannst fragen? O, dass ich wieder gehen dürfte! Mein Vater schneidet sich die Kehle ab,
33
wenn ich – heirate mich!
34
LEONHARD. Dein Vater –
35
KLARA. Er hat’s geschworen! Heirate mich!
36
LEONHARD. Hand und Hals sind nahe Vettern. Sie tun einander nichts zuleide! Mach dir keine Ge-
37
danken!
38
KLARA. Er hat’s geschworen – heirate mich, nachher bring mich um, ich will dir für das eine noch
39
dankbarer sein, wie für das andere!
40
LEONHARD. Liebst du mich? Kommst du, weil dich dein Herz treibt? Bin ich der Mensch, ohne den
41
du nicht leben und sterben kannst?
42
KLARA. Antworte dir selbst!
43
LEONHARD. Kannst du schwören, dass du mich liebst? Dass du mich so liebst, wie ein Mädchen den
44
Mann lieben muss, der sich auf ewig mit ihr verbinden soll?
45
KLARA. Nein, das kann ich nicht schwören! Aber dies kann ich schwören: ob ich dich liebe, ob ich
46
dich nicht liebe, nie sollst du’s erfahren! Ich will dir dienen, ich will für dich arbeiten, und zu essen
47
sollst du mir nichts geben, ich will mich selbst ernähren, ich will bei Nachtzeit nähen und spinnen für
48
andere Leute, ich will hungern, wenn ich nichts zu tun habe, ich will lieber in meinen eignen Arm hin-
49
einbeißen, als zu meinem Vater gehen, damit er nichts merkt. Wenn du mich schlägst, weil dein Hund
50
nicht bei der Hand ist, oder weil du ihn abgeschafft hast, so will ich eher meine Zunge verschlucken,
51
als ein Geschrei ausstoßen, das den Nachbaren verraten könnte, was vorfällt. Ich kann nicht verspre-
52
chen, dass meine Haut die Striemen deiner Geißel nicht zeigen soll, denn das hängt nicht von mir ab,
53
aber ich will lügen, ich will sagen, dass ich mit dem Kopf gegen den Schrank gefahren, oder dass ich
54
auf dem Estrich, weil er zu glatt war, ausgeglitten bin, ich will’s tun, bevor noch einer fragen kann,
55
woher die blauen Flecke rühren. Heirate mich – ich lebe nicht lange. Und wenn’s dir doch zu lange
56
dauert, und du die Kosten der Scheidung nicht aufwenden magst, um von mir loszukommen, so kauf
57
Gift aus der Apotheke, und stell’s hin, als ob’s für deine Ratten wäre, ich will’s, ohne dass du auch nur
58
zu winken brauchst, nehmen und im Sterben zu den Nachbaren sagen, ich hätt’s für zerstoßenen Zu-
59
cker gehalten!
60
LEONHARD. Ein Mensch, von dem du dies alles erwartest, überrascht dich doch nicht, wenn er Nein
61
sagt?
62
KLARA. So schaue Gott mich nicht zu schrecklich an, wenn ich komme, ehe er mich gerufen hat!
63
Wär’s um mich allein – ich wollt’s ja tragen, ich wollt’s geduldig hinnehmen, als verdiente Strafe für,
64
ich weiß nicht was, wenn die Welt mich in meinem Elend mit Füßen träte, statt mir beizustehen, ich
65
wollte mein Kind, und wenn’s auch die Züge dieses Menschen trüge, lieben, ach, und ich wollte vor
66
der armen Unschuld so viel weinen, dass es, wenn’s älter und kluger würde, seine Mutter gewiss nicht
67
verachten, noch ihr fluchen sollte. Aber ich bin’s nicht allein, und leichter find ich am Jüngsten Tag
68
noch eine Antwort auf des Richters Frage: warum hast du dich selbst umgebracht? als auf die: warum
69
hast du deinen Vater so weit getrieben?
70
LEONHARD. Du sprichst, als ob du die Erste und Letzte wärst! Tausende haben das vor dir durchge-
71
macht, und sie ergaben sich darein, Tausende werden nach dir in den Fall kommen und sich in ihr
72
Schicksal finden: sind die alle Nickel, dass du dich für dich allein in die Ecke stellen willst? Die hat-
73
ten auch Väter, die ein Schock neue Flüche erfanden, als sie’s zuerst hörten, und von Mord und Tot-
74
schlag sprachen; nachher schämten sie sich, und taten Buße für ihre Schwüre und Gotteslästerungen,
75
sie setzten sich hin und wiegten das Kind, oder wedelten ihm die Fliegen ab!
76
KLARA. O, ich glaub’s gern, dass du nicht begreifst, wie irgendeiner in der Welt seinen Schwur hal-
77
ten sollte!
Anmerkungen zum Autor:
Friedrich Hebbel (* 1813 - † 1863) war ein deutscher Dramatiker und Lyriker. Aus: Friedrich Hebbel: Maria Magdalena, Stuttgart 2002, S. 78–81. Die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?
Hier geht's zur Lektüre Woyzeck
Hier geht's zur Lektürehilfe Woyzeck
Hier geht's zur Lektürehilfe Woyzeck
Teilaufgabe 1
Einleitung
- Friedrich Hebbels Maria Magdalena ist ein bürgerliches Trauerspiel, das im Jahr 1844 uraufgeführt wurde. Das Werk behandelt Themen wie nationale Identität, soziale Moral und das Individuum im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichen Wünschen.
- Der hier analysierte Auszug aus dem dritten Akt zeigt die verzweifelte Situation der Protagonistin Klara, die sich in einem moralischen Dilemma befindet, während sie mit Leonhard, ihrem Verlobten, konfrontiert wird.
- Die Szene verdeutlicht die emotionalen Konflikte, die die Charaktere erleben, und thematisiert die erdrückenden, gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit.
Hauptteil
Formale Analyse- Hebbel nutzt in diesem Dialog zwischen Klara und Leonhard eine Vielzahl von dramaturgischen Mitteln, um die Spannung und den inneren Konflikt der Figuren zu intensivieren. Der Austausch erfolgt in Form eines dialogischen Spiels, das durch einen Wechsel zwischen direkten Ansprachen und inneren Monologen geprägt ist.
- Die Charaktere haben ein starkes emotionales Aufeinandertreffen, das durch häufige Fragen und Antworten strukturiert wird. Leonhards Fragen sind oft provokativ und ermöglichen Klara, ihre innere Zerrissenheit und Verzweiflung auszudrücken.
- Ein zentrales stilistisches Mittel in diesem Dialog ist die rhetorische Frage. Leonhard fragt Klara immer wieder, ob sie ihn liebt und ob sie bereit sei, mit ihm eine Verbindung einzugehen, die auf Liebe basiert (Vgl. Z. 40-44). Diese Fragen sind jedoch nicht Ausdruck echten Interesses, sondern dienen dazu, Klara weiter zu verunsichern und seine eigene Entscheidung zu rechtfertigen. Klara hingegen antwortet auf diese Fragen mit schonungsloser Ehrlichkeit, indem sie zugibt, dass sie Leonhard nicht liebt, jedoch bereit ist, alles zu tun, um das Leben ihres Vaters zu retten (Vgl. Z. 45 f.). Ihre Opferbereitschaft und der Ausdruck völliger Hingabe werden durch die Anapher „Ich will“ (Z. 47-58) verstärkt, die ihre Bereitschaft verdeutlicht, jedes Leid zu ertragen, um die Ehre ihrer Familie zu wahren.
- Klaras Rede gipfelt in ihrer dramatischen Bitte, die einem Befehl gleicht: „Heirate mich, nachher bring mich um“ (Z. 38 f.). Diese Aussage unterstreicht nicht nur ihre absolute Verzweiflung, sondern auch das Ausmaß ihrer inneren Zerrissenheit. Sie ist bereit, ihr eigenes Leben zu opfern, um die Schande von ihrer Familie abzuwenden. Diese eindringlichen Worte verstärken den tragischen Charakter ihrer Situation und zeigen, wie gefangen sie in den gesellschaftlichen Erwartungen ist.
- In der ersten Szene des dritten Aktes ist Leonhard am Tisch sitzend dargestellt, was eine Verbindung zu seinem gesellschaftlichen Status und seiner Rolle als Steuereinnehmer schafft. Hebbel nutzt den Monolog Leonhards, um seine innere Zerrissenheit und die Kälte seiner Gefühle zu verdeutlichen.
- Ein weiteres stilistisches Mittel ist der Imperativ, den Klara benutzt, um Leonhard zu konfrontieren („Lies ihn noch einmal!“, Z. 20). Dies zeigt ihre Entschlossenheit und ihren Willen, ihre Situation selbst in die Hand zu nehmen, obwohl sie in einer zutiefst machtlosen und unterdrückten Position ist.
- Wiederholung und Parallelismus betonen Klaras tiefe Verzweiflung und die emotionale Last. Die Aufzählung ihrer Zweifel („und nicht als Schwester eines unschuldig Verklagten...“ und „nicht als Mädchen, das vor unverdienter Schande zittert“, Z. 27-29) verstärkt den Eindruck ihrer Isolation und der erschütternden Realität, in der sie lebt.
- Im Laufe des Dialogs wird klar, dass Klara aus einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit heraus handelt. Sie sieht die Ehe als einzige Möglichkeit, ihrem Schicksal zu entkommen, obwohl sie Leonhard nicht liebt. Ihr inniger Wunsch, ihn zu heiraten, ist durch Angst und Verzweiflung motiviert: „Mein Vater schneidet sich die Kehle ab” (Z. 32). Hier offenbart sich die psychische Belastung, die die familiären Erwartungen und der gesellschaftliche Druck auf sie ausüben.
- Leonhard hingegen bleibt gefühlskalt und weicht ihren Bitten aus, indem er die Gründe für seine Ablehnung erneut formuliert. Seine Argumentation offenbart seine egoistischen Motive und die Oberflächlichkeit seiner Verbindung zu Klara. Er verhandelt über gesellschaftliche Konventionen, die für Klara zweitrangig sind, da sie nicht für ihren eigenen Willen kämpft, sondern für die Familienehre und ihrer tiefen Angst vor Schande (Vgl. Z. 22-26).
- Der Dialog verdeutlicht die existenziellen Konflikte der Figuren in einem von gesellschaftlichen Normen bestimmten Umfeld. Klara kämpft um ihre Identität, während Leonhard als Inbegriff des patriarchalen Systems erscheint, das sie unterdrückt (Vgl. Z. 40-44).
- Das Spiel mit den Machtverhältnissen zwischen den beiden Charakteren zeigt die Ungleichheit und die blinde Kälte der sozialen Strukturen, die den Einzelnen in seine Rolle zwängen. Klara ist bereit, alles für die Liebe und die Familie zu opfern, auch wenn sie damit gegen ihre eigenen Belange und Wünsche handelt (Vgl. Z. 45-59).
- Der zentrale Konflikt in dieser Szene ist moralischer Natur und entfaltet sich in Klaras Dialog mit Leonhard. Sie ist in einer ausweglosen Situation gefangen: Sie ist schwanger, ihr Vater steht unter Druck, und Leonhard zeigt wenig echtes Interesse an ihr, sondern eher an der gesellschaftlichen Anerkennung, die die Heirat mit ihr mit sich bringen würde (Vgl. Z. 22-26, 60 f.).
- Für Klara stellt die Ehe mit Leonhard eine Möglichkeit dar, ihre eigene Schande abzuwenden, doch zugleich ist sie sich der Kälte und Berechnung bewusst, die diese Verbindung prägt. Klaras verzweifeltes Bitten um eine Heirat, verbunden mit der Entblößung ihrer Ängste und der Bereitschaft, ihr Leben zu opfern, spiegelt ihr Gefühl der inneren Isolation wider (Vgl. Z. 38 f.. Z. 45-59).
- Sie ist bereit, jede Form von Unterdrückung hinzunehmen, um die Erwartungen ihrer Familie und der Gesellschaft zu erfüllen. Gleichzeitig zeigt sie eine bemerkenswerte Stärke und Entschlossenheit, indem sie ihre Situation kritisch reflektiert, indem sie Leonhard dazu auffordert, sich seiner eigenen Verpflichtungen und der Bedeutung seines „Nein“ bewusst zu werden (Vgl. Z. 62-69).
- Leonhard hingegen sieht sich nicht nur als das Opfer der Umstände, sondern auch als jemand, der die gesellschaftlichen Konventionen verteidigt. Sein Widerstand gegen Klaras Bitte offenbart eine Mischung aus Selbstsucht und einem Bedürfnis nach sozialem Ansehen, während er gleichzeitig die tragische Lage der jungen Frau ignoriert (Vgl. Z. 22-26, Z. 70-75). Der Dialog verdeutlicht die gesellschaftlichen Strukturen, die Klara und Leonhard umgeben und die sie in ihren Entscheidungen gefangen halten.
Schluss
- In dieser Szene aus Maria Magdalena wird das zentrale Thema der menschlichen Tragödie deutlich, das durch die Verstrickungen sozialer Erwartungen und persönlicher Sehnsüchte hervorgehoben wird.
- Klara ist nicht nur ein Opfer ihrer Umstände, sondern auch ein Symbol für den Kampf um das individuelle Glück in einer Welt, die von Konventionen und Moralvorstellungen beherrscht wird.
- Hebbel thematisiert die Gesellschaft als gespaltenes System, das Individuen dazu zwingt, sich ihren Erwartungen unterzuordnen. Der Dialog zwischen Klara und Leonhard fungiert somit auch ein Spiegelbild der inneren Widersprüche einer ganzen Epoche.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Friedrich Hebbels Maria Magdalena und Johann Wolfgang von Goethes Faust I sind zwei bedeutende deutsche Dramen des 19. Jahrhunderts. Sie setzen sich thematisch unter anderem mit den sozialen und moralischen Herausforderungen von Frauen in einer von patriarchalen und moralischen Normen geprägten Gesellschaft auseinander.
- Beide Werke befassen sich mit den Schicksalen der Protagonistinnen Klara und Margarete (Gretchen) und deren Umgang mit drohender sozialer Ächtung. Die nachfolgende Analyse soll die beiden Charaktere und die Reaktion ihres Umfelds auf ihre jeweilige Lage näher analysieren, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung und Bewältigung dieser Konflikte näher darzustellen.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten- Klara und Margarete geraten durch ihre Beziehungen zu Männern, denen sie emotional gesellschaftlich verpflichtet sind, in Schwierigkeiten. Beide Frauen erleben in ihren jeweiligen Dramen eine dramatische Verschlechterung ihrer sozialen Stellung und drohen, vollständig aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Für beide Frauen ist die zentrale Bedrohung nicht nur ihre persönliche Schande, sondern auch die Auswirkungen ihrer Handlungen auf ihre Familien und deren gesellschaftliche Position.
- Sowohl Klara als auch Margarete handeln aus Liebe bzw. aus einem Gefühl von Pflicht und Loyalität gegenüber ihren Familien. In beiden Dramen wird die Frage der Ehre und der sozialen Anerkennung als zentraler Konflikt dargestellt.
- Gesellschaftliche Erwartungen und moralische Normen stellen die Frauen vor nahezu unüberwindbare Hürden. Beide Frauen stehen schließlich vor der Konsequenz der sozialen Ächtung: Margarete wird aufgrund ihrer Beziehung zu Faust und ihrer Schwangerschaft verstoßen, während Klara aufgrund ihrer Beziehung zu Leonhard und ihrer Schwangerschaft in ein moralisches Dilemma gestürzt wird.
- Beide Figuren zeigen jedoch auch eine bemerkenswerte innere Stärke: Margarete verwehrt sich Fausts Angebot zur Flucht und stellt sich moralisch über ihn, indem sie den Verlockungen des Teuflischen widersteht. Klara versucht verzweifelt, ihre Ehre durch eine Aufopferung für ihren Vater und ihre eigene künftige Unterwürfigkeit gegenüber Leonhard zu retten.
- Ein weiteres zentrales Thema in beiden Dramen ist der moralische und religiöse Konflikt, mit dem die Protagonistinnen konfrontiert sind. Klara sieht sich gezwungen, sich vollständig den gesellschaftlichen Normen und der Ehre ihrer Familie zu unterwerfen, während Margarete von Schuldgefühlen geplagt ist und schließlich im Gefängnis Vergebung bei Gott sucht. Beide Frauen kämpfen mit moralischen und religiösen Fragen, die ihr Handeln und ihre Selbstwahrnehmung bestimmen.
- Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es bedeutende Unterschiede in der Art und Weise, wie Klara und Margarete sowie deren Umfeld mit der drohenden sozialen Ächtung umgehen. Klara sieht sich dem strengen Moralkodex und den Erwartungen ihres Vaters gegenüber verpflichtet. Der Druck, die Familienehre zu bewahren, ist immens und wird durch die Drohung des Vaters, sich umzubringen, weiter verstärkt. Der familiäre Druck wird zum zentralen Treiber ihres Handelns.
- Klara ist bereit, sich Leonhard vollständig unterzuordnen, um ihre und die Ehre ihrer Familie zu retten. Ihre eindringlichen Bitten und ihre Bereitschaft, jede Misshandlung zu ertragen, zeigen das Ausmaß ihrer Verzweiflung und Selbstaufopferung.
- Außerdem wird bei genauerem Hinsehen ein Unterschied zwischen individueller Schuld und göttlicher Strafe deutlich. Margarete sieht ihre Situation als eine Folge göttlicher Strafe für ihre Sünden. Im Gegensatz zu Klara, die die gesellschaftlichen und familiären Normen über alles stellt, sieht Margarete ihre Misere als eine individuelle moralische Schuld und sucht Vergebung bei Gott. Trotz ihrer schwierigen Lage lehnt Margarete die Möglichkeit ab, mit Faust zu fliehen. Ihr starker moralischer Standpunkt verhindert, dass sie sich völlig der Situation unterordnet. Ihr Glaube und ihre moralische Haltung stehen im Vordergrund, was sie letztlich ins Gefängnis und in den Wahnsinn treibt, aber auch eine Reinheit und innere Stärke zeigt, die über die irdischen Konsequenzen hinausgeht.
- In Maria Magdalena liegt der Hauptfokus auf der Familie und dem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld. Klaras Vater verkörpert die strenge gesellschaftliche Moral, die sie gefangen hält. Leonhard zeigt keine echte Verantwortung oder Liebe, sondern agiert aus Berechnung und Eifersucht.
- In Faust I spielt das Umfeld Margaretes Familie ebenfalls eine Rolle, aber die Einflüsse darüber hinaus sind bedeutender. Faust und Mephisto als zentrale Figuren stellen eine größere kosmische und moralische Dimension dar, die Margarete verstrickt und schließlich zu ihrem Untergang führt. Ihr gesellschaftliches Umfeld reagiert mit Empörung und Verachtung, lässt sie jedoch letztlich allein.
Schluss
- Der Vergleich von Klara und Margarete in Hebbels Maria Magdalena und Goethes Faust I zeigt, dass beide Dramen die drohende soziale Ächtung ihrer jeweiligen Protagonistinnen eindrucksvoll thematisieren.
- Doch während Klara sich den gesellschaftlichen und familiären Normen unterwirft und dadurch ihre persönliche Freiheit und Würde opfert, bleibt Margarete bis zum Ende ihrem moralischen und religiösen Überzeugungen treu, was sie vor der vollständigen Unterordnung bewahrt.
- Beide Frauen verdeutlichen die zerstörerische Kraft sozialer und moralischer Konventionen, reflektieren jedoch verschiedene Aspekte der menschlichen Natur und des sozialen Drucks in ihrer jeweiligen Epoche.
- Das Umfeld in beiden Dramen agiert dabei als Katalysator dieser Tragödien und unterstreicht die individuellen und gesellschaftlichen Konflikte.