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Basiswissen

Vorschlag A

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Vergleich

Thema:
Soziale Ächtung
Hebbel, Friedrich (* 1813 - † 1863): Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten (1844)
Büchner, Georg (* 1813 - † 1837): Woyzeck (1836/37)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Auszug aus Friedrich Hebbels Drama Maria Magdalena. (Material)
  • (60 BE)
  • Vergleiche Hebbels Drama Maria Magdalena (Material) und Goethes Drama Faust I im Hinblick darauf, wie Klara und Margarete sowie ihr Umfeld mit der drohenden sozialen Ächtung der jeweiligen Frauenfigur umgehen.
  • (40 BE)
Material
Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten (1844)
Friedrich Hebbel
Klara, die Tochter des Tischlers Meister Anton, ist mit dem Steuereinnehmer Leonhard verlobt, liebt diesen jedoch nicht. Auch Leonhard liebt Klara nicht, sondern er hat es nur auf die Mitgift abgesehen. Aus Eifersucht auf einen Jugendfreund Klaras drängt Leonhard sie dazu, mit ihm zu schlafen; Klara ist danach von Leonhard schwanger. Leonhard erfährt von der Schwangerschaft und kurz darauf auch davon, dass die Mitgift nicht mehr existiert. Weiterhin gerät Klaras Bruder öffentlich unter Verdacht, Juwelen gestohlen zu haben. Klaras prinzipientreuer Vater droht sich umzubringen, falls auch Klara – genau wie ihr Bruder – Schande über die Familie bringen sollte, und lässt sie schwören, ihn nicht zu enttäuschen. Im zweiten Akt des Dramas trifft ein Brief von Leonhard ein, in dem er die Verbindung mit Klara endgültig auflöst.
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Dritter Akt
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Zimmer bei Leonhard.
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Erste Szene
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LEONHARD (an einem Tisch mit Akten, schreibend). Das wäre nun der sechste Bogen nach Tisch!
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Wie fühlt sich der Mensch, wenn er seine Pflicht tut! Jetzt könnte mir in die Tür treten, wer wollte,
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und wenn’s der König wäre – ich würde aufstehen, aber ich würde nicht in Verlegenheit geraten! Ei-
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nen nehm ich aus, das ist der alte Tischler! Aber im Grunde kann auch der mir wenig machen! Die
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arme Klara! Sie dauert mich, ich kann nicht ohne Unruhe an sie denken! Dass der eine verfluchte
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Abend nicht wäre! Es war in mir wirklich mehr die Eifersucht, als die Liebe, die mich zum Rasen
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brachte, und sie ergab sich gewiss nur darein, um meine Vorwürfe zu widerlegen, denn sie war kalt
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gegen mich, wie der Tod. Ihr stehen böse Tage bevor, nun, auch ich werde noch viel Verdruss haben!
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Trage jeder das Seinige! Vor allen Dingen die Sache mit dem kleinen Buckel nur recht fest gemacht,
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damit die mir nicht entgeht, wenn das Gewitter ausbricht! Dann hab ich den Bürgermeister auf meiner
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Seite, und brauche vor nichts bange zu sein!
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Zweite Szene
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KLARA (tritt ein). Guten Abend, Leonhard!
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LEONHARD. Klara? (Für sich.) Das hätt ich nun nicht mehr erwartet! (Laut.) Hast du meinen Brief
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nicht erhalten? Doch – Du kommst vielleicht für deinen Vater und willst die Steuer bezahlen! Wie viel
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ist es nur? (In einem Journal blätternd.) Ich sollte es eigentlich aus dem Kopf wissen!
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KLARA. Ich komme, um dir deinen Brief zurückzugeben. Hier ist er! Lies ihn noch einmal!
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LEONHARD (liest mit großem Ernst). Es ist ein ganz vernünftiger Brief! Wie kann ein Mann, dem
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die öffentlichen Gelder anvertraut sind, in eine Familie heiraten, zu der (er verschluckt ein Wort) zu
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der dein Bruder gehört?
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KLARA. Leonhard!
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LEONHARD. Aber vielleicht hat die ganze Stadt Unrecht? Dein Bruder sitzt nicht im Gefängnis? Er
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hat nie im Gefängnis gesessen? Du bist nicht die Schwester eines – deines Bruders?
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KLARA. Leonhard, ich bin die Tochter meines Vaters, und nicht als Schwester eines unschuldig Ver-
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klagten, der schon wieder freigesprochen ist, denn das ist mein Bruder, nicht als Mädchen, das vor un-
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verdienter Schande zittert, denn (halblaut) ich zittre noch mehr vor dir, nur als Tochter des alten Man-
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nes, der mir das Leben gegeben hat, stehe ich hier!
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LEONHARD. Und du willst?
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KLARA. Du kannst fragen? O, dass ich wieder gehen dürfte! Mein Vater schneidet sich die Kehle ab,
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wenn ich – heirate mich!
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LEONHARD. Dein Vater –
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KLARA. Er hat’s geschworen! Heirate mich!
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LEONHARD. Hand und Hals sind nahe Vettern. Sie tun einander nichts zuleide! Mach dir keine Ge-
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danken!
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KLARA. Er hat’s geschworen – heirate mich, nachher bring mich um, ich will dir für das eine noch
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dankbarer sein, wie für das andere!
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LEONHARD. Liebst du mich? Kommst du, weil dich dein Herz treibt? Bin ich der Mensch, ohne den
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du nicht leben und sterben kannst?
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KLARA. Antworte dir selbst!
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LEONHARD. Kannst du schwören, dass du mich liebst? Dass du mich so liebst, wie ein Mädchen den
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Mann lieben muss, der sich auf ewig mit ihr verbinden soll?
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KLARA. Nein, das kann ich nicht schwören! Aber dies kann ich schwören: ob ich dich liebe, ob ich
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dich nicht liebe, nie sollst du’s erfahren! Ich will dir dienen, ich will für dich arbeiten, und zu essen
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sollst du mir nichts geben, ich will mich selbst ernähren, ich will bei Nachtzeit nähen und spinnen für
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andere Leute, ich will hungern, wenn ich nichts zu tun habe, ich will lieber in meinen eignen Arm hin-
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einbeißen, als zu meinem Vater gehen, damit er nichts merkt. Wenn du mich schlägst, weil dein Hund
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nicht bei der Hand ist, oder weil du ihn abgeschafft hast, so will ich eher meine Zunge verschlucken,
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als ein Geschrei ausstoßen, das den Nachbaren verraten könnte, was vorfällt. Ich kann nicht verspre-
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chen, dass meine Haut die Striemen deiner Geißel nicht zeigen soll, denn das hängt nicht von mir ab,
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aber ich will lügen, ich will sagen, dass ich mit dem Kopf gegen den Schrank gefahren, oder dass ich
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auf dem Estrich, weil er zu glatt war, ausgeglitten bin, ich will’s tun, bevor noch einer fragen kann,
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woher die blauen Flecke rühren. Heirate mich – ich lebe nicht lange. Und wenn’s dir doch zu lange
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dauert, und du die Kosten der Scheidung nicht aufwenden magst, um von mir loszukommen, so kauf
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Gift aus der Apotheke, und stell’s hin, als ob’s für deine Ratten wäre, ich will’s, ohne dass du auch nur
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zu winken brauchst, nehmen und im Sterben zu den Nachbaren sagen, ich hätt’s für zerstoßenen Zu-
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cker gehalten!
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LEONHARD. Ein Mensch, von dem du dies alles erwartest, überrascht dich doch nicht, wenn er Nein
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sagt?
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KLARA. So schaue Gott mich nicht zu schrecklich an, wenn ich komme, ehe er mich gerufen hat!
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Wär’s um mich allein – ich wollt’s ja tragen, ich wollt’s geduldig hinnehmen, als verdiente Strafe für,
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ich weiß nicht was, wenn die Welt mich in meinem Elend mit Füßen träte, statt mir beizustehen, ich
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wollte mein Kind, und wenn’s auch die Züge dieses Menschen trüge, lieben, ach, und ich wollte vor
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der armen Unschuld so viel weinen, dass es, wenn’s älter und kluger würde, seine Mutter gewiss nicht
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verachten, noch ihr fluchen sollte. Aber ich bin’s nicht allein, und leichter find ich am Jüngsten Tag
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noch eine Antwort auf des Richters Frage: warum hast du dich selbst umgebracht? als auf die: warum
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hast du deinen Vater so weit getrieben?
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LEONHARD. Du sprichst, als ob du die Erste und Letzte wärst! Tausende haben das vor dir durchge-
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macht, und sie ergaben sich darein, Tausende werden nach dir in den Fall kommen und sich in ihr
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Schicksal finden: sind die alle Nickel, dass du dich für dich allein in die Ecke stellen willst? Die hat-
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ten auch Väter, die ein Schock neue Flüche erfanden, als sie’s zuerst hörten, und von Mord und Tot-
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schlag sprachen; nachher schämten sie sich, und taten Buße für ihre Schwüre und Gotteslästerungen,
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sie setzten sich hin und wiegten das Kind, oder wedelten ihm die Fliegen ab!
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KLARA. O, ich glaub’s gern, dass du nicht begreifst, wie irgendeiner in der Welt seinen Schwur hal-
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ten sollte!

Anmerkungen zum Autor:
Friedrich Hebbel (* 1813 - † 1863) war ein deutscher Dramatiker und Lyriker.
Aus: Friedrich Hebbel: Maria Magdalena, Stuttgart 2002, S. 78–81.
Die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage.

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