Teil D
Vergleichende Gedichtsanalyse
Thema: Lyrik als Ausdruck eines Lebensgefühls? Ernst Wilhelm Lotz: Die Nächte explodieren in den Städten... (1913) Marteria, Yasha und Miss Platnum: Lila Wolken (2012) Aufgabenstellung:
1
Interpretiere das Gedicht „Die Nächte explodieren in den Städten...“ von Ernst Wilhelm Lotz unter Berücksichtigung inhaltlicher, sprachlich-formaler und epochenspezifischer Aspekte. (Material 1)
(40 BE)
2
Vergleiche das Gedicht von Lotz (Material 1) mit dem Songtext „Lila Wolken“ von Marteria, Yasha und Miss Platnum (Material 2) im Hinblick auf das Lebensgefühl, das zum Ausdruck kommt. Berücksichtige dabei auch die sprachliche Gestaltung beider Texte.
(40 BE)
3
Beurteile, inwieweit populäre Musik und deren Texte im 21. Jahrhundert eine Rolle als Ausdrucksform des Lebensgefühls der jungen Generation einnehmen.
Material 1
Die Nächte explodieren in den Städten... (1913)
Ernst Wilhelm Lotz
(20 BE)
1
Die Nächte explodieren in den Städten,
2
Wir sind zerfetzt vom wilden, heißen Licht,
3
Und unsre Nerven flattern, irre Fäden,
4
Im Pflasterwind, der aus den Rädern bricht.
5
In Kaffeehäusern brannten jähe Stimmen
6
Auf unsre Stirn und heizten jung das Blut,
7
Wir flammten schon. Und suchen leise zu verglimmen,
8
Weil wir noch furchtsam sind vor eigner Glut.
9
Wir schweben müßig durch die Tageszeiten,
10
An hellen Ecken sprechen wir die Mädchen an.
11
Wir fühlen noch zu viel die greisen Köstlichkeiten
12
Der Liebe, die man leicht bezahlen kann.
13
Wir haben uns dem Tage übergeben
14
Und treiben arglos spielend vor dem Wind,
15
Wir sind sehr sicher, dorthin zu entschweben,
16
Wo man uns braucht, wenn wir geworden sind.
Anmerkungen zum Autor:
Ernst Wilhelm Lotz (1890–1914) gehörte zu den expressionistischen Dichtern, die sich direkt bei Kriegsausbruch im
August 1914 freiwillig zum Kriegsdienst meldeten. Kurze Zeit später fiel er im Alter von 24 Jahren. Aus: Ernst Wilhelm Lotz: Gedichte, Prosa, Briefe, hg. v. Jürgen von Esenwein, München 1994, S. 66. Material 2 Lila Wolken (2012) Marteria, Yasha und Miss Platnum
1
[Yasha]
2
Dreißig Grad, ich kühl mein’ Kopf
3
Am Fensterglas auf dem Zeitlupenknopf
4
Wir leben immer schneller, feiern zu hart
5
Wir treffen die Freunde und vergessen unser’n Tag
6
Woll’n kein Stress, kein Druck, nehmen zu, noch ’n Schluck
7
Vom Gin Tonic, guck in diesen Himmel, wie aus Hollywood
8
Rot knallt in das Blau, vergoldet deine Stadt
9
Und über uns ziehen lila Wolken in die Nacht
10
[Yasha]
11
Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind
12
Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind
13
(Oh oh) bis die Wolken wieder lila sind
14
Wir bleiben wach, die Wolken wieder lila sind
15
Guck, da oben steht ein neuer Stern (yeah)
16
Kannst du ihn sehen bei unser’m Feuerwerk? (oh)
17
Wir reißen uns von allen Fäden ab (yeah)
18
Lass sie schlafen, komm, wir heben ab
19
[Marteria]
20
Jung und ignorant, stehen auf’m Dach
21
Teilen die Welt auf und bau’n ein’ Palast
22
Aus Plänen und Träum’n, jeden Tag neu
23
Seh’n Geld gegen Probleme, wir nehm’n, was wir woll’n
24
Woll’n mehr sein, mehr sein als nur ein Moment
25
Yeah, komm mir nicht mit großen Namen, die du kennst
26
Wir trinken auf Verlierer, lassen Pappbecher vergolden
27
Feiern hart, fallen weich auf die lila Wolken
28
[Yasha]
29
Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind
30
Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind
31
(Oh oh) die Wolken wieder lila sind
32
Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind
33
Guck, da oben steht ein neuer Stern (yeah)
34
Kannst du ihn sehen bei unser’m Feuerwerk? (oh)
35
Wir reißen uns von allen Fäden ab (yeah)
36
Lass sie schlafen, komm, wir heben ab
37
[Miss Platnum]
38
Kannst du auch nicht schlafen
39
Wachst du auf, dann hör gut zu
40
Lass uns gemeinsam warten
41
Ich fühl’ mich genau wie du
42
Wir seh’n wie die Sonne
43
Aufgeht, yeah, yeah
44
Wir seh’n wie die Sonne
45
Aufgeht, yeah, yeah
46
Wir seh’n wie die Sonne
47
Aufgeht, yeah, yeah
48
Wir seh’n wie die Sonne
49
Aufgeht, yeah, yeah
50
[Yasha & Miss Platnum]
51
Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind
52
Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind
53
(Oh oh) bis die Wolken wieder lila sind
54
Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind
55
Guck, da oben steht ein neuer Stern (yeah)
56
Kannst du ihn sehen bei unser’m Feuerwerk? (oh)
57
Wir reißen uns von allen Fäden ab (yeah)
58
Lass sie schlafen, komm, wir heben ab
Anmerkungen zum Autor:
„Lila Wolken“ ist ein kommerziell sehr erfolgreiches Lied plus Video des deutschen Rappers Marteria (*1982) in Zusammenarbeit
mit den Musikern Yasha (*1981) und Miss Platnum (*1980). Aus: Website, letzter Zugriff am am 03.03.2021.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?Teilaufgabe 1
Vorarbeit
-
Lies dir den Text zunächst aufmerksam durch und markiere Satzteile oder Wörter, die dir auffallen. Auch hilft es, wenn du dir stichwortartig Notizen zum Thema des Textes machst.
Einleitung
- Das Gedicht „Die Nächte explodieren in den Städten...“ aus dem Jahr 1913 wurde von Ernst Wilhelm Lotz verfasst.
- Das Werk ist der Großstadtlyrik zuzuordnen und thematisiert das Leben in der Großstadt, welches unterschiedliche Facetten hat und verschieden wahrgenommen wird.
- Das Werk entstammt der literarischen Strömung des Expressionismus, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Blütezeit hat und weist zahlreiche epochenspezifische Parallelen mit der Epoche auf.
Formale Analyse
- Vier Strophen mit jeweils vier Versen in Kreuzreimen; Reimbruch in V. 1 und 3
- Als Metrum ist ein fünfhebiger Jambus erkennbar
- Änderung der Zeitform innerhalb des Gedichts
- Die verwendete Form des Metrums sowie zahlreiche Verben (Bewegungsverben) („explodieren“ Z. 1,„flattern“ Z. 3, „bricht“ Z. 4, „brannten“ Z. 5, „heizten“ Z. 6) sorgen für die Dynamik und Lebhaftigkeit im Gedicht.
- Personifikationen: „Nächte explodieren“ (Z. 1), „unsre Nerven flattern, irre Fäden“ (Z. 3), „eigner Glut“ (Z. 8), „zu entschweben“ (Z. 15) sorgen für die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Sprache.
- Synästhesie: „leise zu verglimmen“ (Z. 7), intensiviert und versinnlicht die Feuermetapher
- Enjambements: Z. 3/4, Z. 5/6 und Steigerungen in Form einer Klimax: „Wir flammten schon. Und suchen leise zu verglimmen, Weil wir noch furchtsam sind vor eigner Glut“ (Z. 7 f.), steigern die anfängliche Dynamik und Hektik des Gedichts ebenfalls
- Anaphern: Z. 9/11, Z. 13/15; durch die Wiederholung erhöht sich die Eindringlichkeit und die Möglichkeit zur Identifizierung mit dem Lyrischen Wir; betont die Verallgemeinerung
- Correctio: „Wo man uns braucht, wenn wir geworden sind“ (Z. 16) steht im Verhältnis zur Unsicherheit ind Bezug auf die Zukunft; die Aussage bedarf einer Korrektur
Inhaltliche Analyse
- Die erste Strophe beschreibt das Nachtleben der Großstadt und vermittelt die Gefühle, die dabei erlebt werden. Es spricht ein Lyrisches Wir, welches den Leser durch seinen Redegestus miteinbezieht. Der Sprecher empfindet negative Emotionen in Bezug auf die Stadt. („zerfetzt vom wilden, heißen Licht“, V. 2)
- Durch die zweite Strophe entsteht eine hektische Aufbruchsstimmung durch die Menschen in „Kaffeehäusern“ (Z. 5). Die Menschen haben Angst und wünschen sich eine gesellschaftliche Erneuerung. Das Motiv des Feuers intensiviert die Gefährlichkeit, Wut und Brutalität der Situation und wird durch das Motiv der Leidenschaft („Wir flammten schon.“, Z. 7) nochmals verstärkt.
- Die zweite und dritte Strophe sind durch eine inhaltliche Zäsur voneinander zu trennen. Genauer gesagt, leitet der siebte Vers im Gedicht die Wendung ein.
- Die Hektik der ersten zwei Strophen verwandelt sich in Unbeschwertheit und Leichtigkeit (vgl. Z. 9, 12). Die dritte Strophe zeichnet ein Bild der idyllischen Großstadt am Tag. Das Lyrische Wir spricht in deutlich positiveren Phrasen von der Stadt und seinem Tagesablauf. („schweben“ Z. 9, „hellen“ Z. 10, „Liebe“ Z. 12, „leicht“ Z. 12)
- Die „greisen Köstlichkeiten“ (Z. 11) zielen auf die Prostitution von Mädchen an „hellen Ecken“ (Z. 10) in der Stadt ab.
- Die fehlende Tagesaufgabe der Menschen in der Stadt (vgl. Z. 9) konkretisiert sich in der nächsten Strophe, wenn es heißt: „Wir haben uns dem Tage übergeben“ (Z. 13).
- Trotz Sorglosigkeit und Optimismus (vgl. Z. 14, 15) scheinen die Menschen wohl nicht ihren Lebenssinn zu finden und die Zukunft bleibt für sie ungewiss. (vgl. Z. 15 f.)
Epochenspezifische Aspekte
- Es werden Themen abgebildet, die die Realität der Menschen widerspiegelt: Erneuerung, Hektik, Individualitätsverlust, Prostitution etc.
- Verdinglichung und Instrumentalisierung des Menschen und ein damit einhergehender Identitätsverlust
- Orientierungslosigkeit und Hektik im Großstadtdschungel als Reaktion auf technische Erneuerungen und Modernisierung, die von den Menschen als kritisch betrachtet werden
- Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung der nachfolgenden Generationen; Abgrenzung von der Tradition
- zunehmende Anonymität und Passivität der Menschen als eine Folge der Urbanisierung
- Auch auf sprachlicher Ebene grenzen sich die expressionistischen Dichter von der starren Tradition ab. Im Gedicht findet man bspw. Enjambements, Personifikationen und eine Zäsur, die diese Annahme unterstützen.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Der Song „Lila Wolken“ des Rappers Marteria, geschrieben in Zusammenarbeit mit weiteren Musikern, wurde im Jahr 2012 veröffentlicht und gehört seitdem zu den erfolgreichsten Songs im Genre Deutschrap bzw. Hip-Hop. Das dazugehörige Musikvideo auf YouTube wurde 48 Mio. Mal aufgerufen.
- Im Folgenden soll die Bedeutung des Songtextes, insbesondere in Bezug auf das in ihm beschriebene Lebensgefühl genauer analysiert und in einem zweiten Schritt auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene mit dem 100 Jahre früher publizierten Gedicht von Lotz in Verhältnis gesetzt werden.
Das Lebensgefühl im Songtext „Lila Wolken“
- Den stressigen, gewöhnlichen Alltag des Tages vergessen (vgl. 5 f.)
- Bis zum Sonnenaufgang das Leben genießen, Spaß zu haben; schlaflose Nächte (vgl. Z. 18)
- Exzess, Rausch (Z. 6 f.), Alkohol (Z. 7) und Feiern (vgl. Z. 5) in der Nacht; vollzieht sich vom Sonnuntergang (lila färbende Wolken) bis zum Sonnenaufgang
- Die Sprecher sind „jung und ignorant“ (Z. 20), d. h. sie ignorieren den Ernst des Lebens, sind sich ihrer Naivität jedoch bewusst.
- In ihrer euphorischen Trance illusionieren sie die Welt. Gleichzeitig findet auch eine Romantisierung statt. Dies zeigt sich exemplarisch in der Aussage, dass sie nach dem Feiern „weich auf die lila Wolken fallen“ (Z. 27) oder auch „guck in diesen Himmel, wie aus Hollywood“ (Z. 7), „Rot knallt in das Blau, vergoldet deine Stadt“ (Z. 8), „Teilen die Welt auf und bau’n ein’ Palast“ (Z. 21) und „lassen Pappbecher vergolden“ (Z. 26) etc.
Inhaltlicher Vergleich zum Gedicht in Hinsicht auf das Lebensgefühl im Songtext
- Im Gedicht „Die Nächte explodieren in den Städten...“ thematisiert der Autor seine eigene zerissene und orientierungslose Generation einer Gesellschaft, die dem Sprung zur Modernisierung und Technisierung zwar skeptisch entgegenblickt, sich jedoch andererseits nach Erneuerung und Aufbruch sehnt.
- Lotz reflektiert das damalige hektische Lebensgefühl der Menschen, die unwissend in ihre Zukunft blicken.
- Statt Reflexion und schweren Gedanken stößt man bei Marteria hingegen auf Unbeschwertheit und Leichtigkeit einer frischen und jungen Generation, die ihr Leben genießt, im Moment lebt und nicht an den nächsten Morgen denkt.
Die sprachliche Gestaltung beider Texte
- Bei dem Text „Lila Wolken“ handelt es sich um einen Rap, weshalb freie Rhythmen und kein einheitliches Metrum zu finden sind. Jamben und Daktylen wechseln sich unregelmäßig ab.
- Es fällt ein wiederkehrender Refrain mit jeweils acht Versen auf. Zwischen den insgesamt drei Refrains steht jeweils eine Strophe.
- Insgesamt handelt es sich um einen Songtext in lockerer (Umgangs-)Sprache mit Abkürzungen und Interjektionen wie „Yeah“.
- Im Gedicht „Die Nächte explodieren in den Städten...“ finden wir eine deutlich knappere und einheitlichere Form.
- Statt einer dialogartigen, appellativen Situation aus mehreren Sprechen, wie wir sie in „Lila Wolken“ finden, treffen wir bei Lotz auf ein sprechendes „Wir“. Aufforderungen und Anreden sind ebenfalls nicht Teil von Lotz' Gedicht.
Teilaufgabe 3
Inwieweit nehmen populäre Musik und deren Texte im 21. Jahrhundert eine Rolle als Ausdrucksform des Lebensgefühls der jungen Generation ein?
- Musikhörende Menschen der jungen Generation sind tagtäglich und bei jeglichen Aktivitäten und Tätigkeiten beobachtbar.
- Musik spiegelt unsere aktuelle Lebenssituation wider: Je nach Gemütszustand ändert sich das z. B. Genre etc.
- Musik produziert Glückshormone, fördert gute Laune und sorgt für Unbeschwertheit und Leichtigkeit.
- Sie trägt zur eigenen Fantasie, zum Nachdenken und zur Reflexion bei.
- Sie trägt zur eigenen Leistung z. B. bei sportlichen Aktivitäten bei und hat die Fähigkeit, ihre Hörer zu ermutigen sowie ihr Selbstwertgefühl zu stärken.
- Songtexte und ihre Hintergründe können in jungen Menschen den eigenen Ausdruck von persönlicher Stärke und Rebellion fördern sowie Angstgefühle verringern, wie es z. B. bei Songtexten aus den Genres Rap oder Hip-Hop der Fall ist.
- Formen von Entspannungsmusik können zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit, Ruhe, Gelassenheit und Entspannung beitragen.
- Musik fördert ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammenhalt z. B. ähnlicher Musikgeschmack, Musiktrends auf Social Media, Partys, Konzerte etc.