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Vorschlag C

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Arbeitsauftrag

Thema:
Veränderungstendenzen der Sprache
Theo Sommer (* 1930 - † 2022): Müssen wir nun den Schwarzwald umbenennen? (2021)
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Text Müssen wir nun den Schwarzwald umbenennen? von Theo Sommer. Berücksichtige dabei den Aufbau der Argumentation, die sprachlich-stilistische Gestaltung und die Intention. (Material)
  • (70 BE)
  • Nimm Stellung zu Theo Sommers Position (Material) bezüglich der von ihm angeführten Veränderungstendenzen der deutschen Sprache. Berücksichtige dabei dein unterrichtliches Wissen.
  • (30 BE)
Material
Müssen wir nun den Schwarzwald umbenennen? (2021)
Theo Sommer
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Ein Geständnis, eine Warnung vorab: Ich schreibe diese Kolumne als ein alter weißer Mann, der sich
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schwarzärgert. Über die überempfindliche, gendergeschlechtliche oder identitätspolitische Verschan-
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delung der deutschen Sprache. Über die Anmaßung von Minderheiten, der Mehrheit vorzuschreiben,
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was sie denken und wie sie sich ausdrücken darf. Und über die eilfertige Devotheit, mit der sich staat-
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liche Behörden, öffentliche Institutionen und deutsche Fernsehgrößen den modischen Anwandlungen
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der Sprach- und Denkpanscher unterwerfen.
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Auf einen Ausbruch von Schmähungen (wovon man zu sprechen pflegte, ehe der Ausdruck Shitstorm
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aufkam), bin ich gefasst. Die Zustimmung vieler anderer wird mich darüber hinwegtrösten.
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In der Sprache grassiert der Wahn der politischen Korrektheit am übelsten. Das jüngste Beispiel ist die
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Ankündigung des Hamburger Verkehrsverbunds (HVV), den Begriff „Schwarzfahren“ nicht mehr zu
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verwenden, sondern in Zukunft von „Fahren ohne gültiges Ticket“ zu sprechen. Andere Städte haben
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dies vorgemacht, jetzt wolle man sich über die Ablösung des wording Gedanken machen.
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Wording, Ticket – was für ein Deutsch unserer beamteten Sprachreiniger! Ticket heißt in unserer Mut-
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tersprache Fahrkarte, Fahrschein, Flugschein, übrigens auch Strafzettel, und für wording gibt es For-
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mulierung, Ausdrucksweise, Wortlaut. Aber es muss Englisch sein. Und „Schwarzfahren“ wird aus
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dem Sprachschatz – jawohl: dem Schatz unserer schönen, bunten, reichhaltigen Sprache – getilgt, weil
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er von Menschen mit dunkler Hautfarbe als diskriminierend empfunden werden könnte. Es ist aller-
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dings nicht bekannt geworden, dass auch nur ein einziger sich beschwert hätte.
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Dabei hat der Begriff keinerlei rassistischen Hintergrund. Er beschreibt Vorgänge, die sich im Dunk-
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len abspielen; vielleicht stammt er auch aus dem Rotwelschen oder dem Jiddischen, wo shvarts arm
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heißt. In „Wahrigs Deutsches Wörterbuch“ füllt er zwischen „schwarz“ und „Schwarzwurst“ eine eng
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gedruckte Seite mit 108 Einträgen, darunter Schwarzhandel, Schwarzmarkt, Schwarzbrot, Schwarz-
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brauerei, Schwarzarbeit, Schwarzes Brett (Anschlagtafel), Schwarzkittel (Wildschwein), Schwarzrock
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(Geistlicher), Schwarzer Peter (Kartenspiel für Kinder). Müssen wir nun den Schwarzwald umbenen-
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nen? Darf man von CDU-Leuten noch als „die Schwarzen“ reden? Sollten wir gar unsere Nationalfar-
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ben Schwarz-Rot-Gold ändern, weil Afrikaner und Chinesen daran Anstoß nehmen könnten?
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Sorgen bereitet mir auch die Vergenderung der deutschen Sprache. Sie verliert dadurch an innerer
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Harmonie, Musikalität, Natürlichkeit, Durchsichtigkeit und Einheitlichkeit. Die Annahme, dass sich
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nur auf diese Weise die politische Wirklichkeit verändern lasse, ist empirisch in keiner Weise zu bele-
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gen. Judith Sevinç Basad hat nicht von ungefähr in der NZZ darauf hingewiesen, dass sich Frauen
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und Queers während der letzten 70 Jahre in rasantem Tempo aus den Fesseln des Patriarchats befreit
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haben – und dies auch mit dem generischen Maskulinum und ohne Gendersternchen, Unterstriche oder
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Doppelpunkte.
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Dass Sprache sich wandelt, hat schon Wilhelm von Humboldt gesagt. Seine „Schriften zur Sprache“
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gehören in die Hand eines jeden, der heute in Behörden und Unternehmen über unsere Schreibweise
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entscheidet (überhaupt möchte man ja einmal die Abituraufsätze und Deutschnoten unserer Sprachpo-
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lizisten sehen; viel Kenntnisreichtum wird man da wohl kaum entdecken). Der Wortvorrat einer Spra-
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che sei keine „fertig daliegende Masse“, sagt Humboldt. Sie lebe „im Munde des Volkes“ als „fortge-
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hendes Erzeugnis und Wiedererzeugnis des wortbildenden Vermögens“. Doch wie Peter Schmachtha-
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gen, der Sprachpapst des Hamburger Abendblattes, zu Recht sagt: „Im Augenblick wandelt sich die
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Sprache nicht, sondern sie wird gewandelt, verunstaltet und missbraucht.“ Mit natürlichem Sprach-
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wandel hat die Gendersprache nichts zu tun. Vielmehr soll da eine Weltanschauung von oben durchge-
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setzt werden, und zwar gegen den Willen der Mehrheit, die zu über 70 Prozent dagegen ist.
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Ich bin absolut gegen Rassismus und ebenso entschieden für die rechtliche, finanzielle und gesell-
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schaftliche Gleichstellung der Frauen. Aber ich glaube nicht, dass die Tilgung des Wortes „schwarz“
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die Akzeptanz der Nicht-Weißen fördert, und ebenso wenig, dass Vergenderung unserer Schriftspra-
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che nötig ist, um die Verhältnisse zu ändern. Mir ist auch völlig egal, welche sexuellen Einstellungen
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und Vorstellungen die Menschen pflegen. Ob Hetero oder LGBTQ – ich respektiere es und trete für
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Optionsfreiheit eines jeden ein. Aber muss man wirklich – wie die Lufthansa – die Anrede „Sehr ge-
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ehrte Damen und Herren“ abschaffen, aus Rücksicht auf jene wenigen in einer Bevölkerung von 83
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Millionen, die sich als „divers“ registriert haben – bis Ende September ganze 394 Erwachsene?
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Da lobe ich mir doch Judith Rakers, die den Zuschauern der Tagesschau tapfer weiterhin ihr „Guten
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Tag, meine Damen und Herren!“ zuruft. Hingegen finde ich den Glottisschlag von Anne Will und
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Claus Kleber (und vielen kleineren TV-Leuchten), ihren als Doppelpunkt gesprochenen Schluckauf –
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Bürger:innen und Mitglieder:innen – einfach lächerlich. Ich frage dann jedes Mal: Und was ist mit den
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Bürgern und Mitgliedern außen?
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Hinter alledem steckt ein geradezu konstitutionelles Problem. In seinem magistralen Werk „Über die
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Demokratie in Amerika“ (1835) warnt Alexis de Tocqueville vor der Tyrannei der Mehrheit. Was ihn
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in Amerika am meisten abstieß, war nicht die weitgehende Freiheit, die dort herrscht, sondern „die ge-
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ringe Gewähr, die man dort gegen die Tyrannei“, die „Allmacht der Mehrheit“ findet.
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Blickte er heute auf die Bundesrepublik Deutschland, er würde zu einem entgegengesetzten Schluss
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kommen. Unser Problem ist nicht die Allmacht der Mehrheit, sondern die Tyrannei einer elitären ideo-
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logischen Minderheit. Das bleibt von der Lebenswirklichkeit der Menschen weit entfernt. Laut Allens-
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bach verstanden 95 Prozent der Befragten es nicht, warum eine Politikerin sich dafür entschuldigen
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musste, dass sie als Kind Indianerhäuptling habe werden wollen. Volle 87 Prozent fanden es über-
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trieben, dass das Gedicht, das die Schwarze Amanda Gorman bei der Amtsübernahme von Joe Biden
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vortrug, nicht von einer Weißen übersetzt werden durfte. Und eine Mehrheit zeigte sich genervt durch
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die Zumutung, sich politisch korrekt auszudrücken. Heiner Bremer, Urgestein des deutschen Illustrier-
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ten- und Fernsehjournalismus, hat recht: „Es macht die Gesellschaft kaputt, wenn einzelne Gruppen
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meinen, sie hätten die Wahrheit gepachtet.“ Da lauert allerhand Konfliktpotenzial.
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Retten wir also so schlichte Sätze wie „Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“. Lassen wir die Fanati-
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ker nicht an der Literatur herumfummeln („Die person of color hat ihre Schuldigkeit getan“). Und
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stehen wir dem Schriftsteller Matthias Politycki bei, der jüngst die Unversehrtheit unserer Sprache –
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Humboldt: „den Odem, die Seele der Nation“ – in einem aufwühlenden FAZ13-Aufsatz beschworen
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hat.

Anmerkungen zum Autor:
Theo Sommer (* 1930 - † 2022) war ein deutscher Dramatiker und Lyriker..
Aus: Sommer, Theo: Müssen wir nun den Schwarzwald umbenennen? (20.07.2021) (abgerufen am 01.03.2023).
Sprachliche Fehler in der Textvorlage wurden entsprechend der geltenden Norm korrigiert.

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