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Basiswissen

Teil A

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Werkvergleich

Thema:
Absolute Wahrheiten
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann
Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess., Über Menschen (2021)
Aufgabenstellung:
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Gib den Inhalt des Textauszugs aus Juli Zehs Roman „Über Menschen“ wieder und analysiere ihn unter Berücksichtigung der sprachlich-formalen Gestaltung. (Material)
(40 BE)
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Untersuche die Gemeinsamkeiten zwischen der Beziehung von Dora und Robert (Material) und der Beziehung von Clara und Nathanael aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“.
(30 BE)
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„[Sie] mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf stützen. In ihr wohnt etwas, das sich sträubt. Sie hat keine Lust auf den Kampf ums Rechthaben und will nicht Teil einer Meinungsmannschaft sein. Normalerweise ist ihr Sträuben kein Sich-Wehren. Man sieht es nicht. Sie lebt angepasst. Das Sträuben erzeugt eher eine Art Trotz, ein inneres Ankämpfen gegen die Verhältnisse.“ (Material)
Überprüfe, ob diese Beschreibung Doras auch auf Mia Holl aus Juli Zehs Roman „Corpus Delicti. Ein Prozess“ zutrifft.
(30 BE)
Material
Über Menschen (2021)
Juli Zeh
Dora, die Protagonistin des Romans, lebt zusammen mit ihrem Freund Robert in Berlin, bis sie, verschärft durch die Bedingung des Homeoffice während des Lockdowns der Corona-Pandemie, es in ihrer gemeinsamen Wohnung nicht mehr aushält und allein aufs Land zieht.
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Dora weiß nicht mehr, wann es angefangen hat. Sie weiß noch, dass sie schon während Roberts
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Klimaschützerphase manchmal dachte, dass er übertreibt. Wenn er die Politiker als Volltrottel und
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seine Mitmenschen als selbstsüchtige Ignoranten beschimpfte. Wenn er sich über Doras Fehler bei der
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Mülltrennung aufregte, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Da schien er ihr manchmal übereifrig
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und unversöhnlich, und sie überlegte, ob er vielleicht an einer Neurose, an einer Art politischem
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Waschzwang litt, der aus dem nachdenklichen, sanften Menschen einen Besessenen gemacht hat.
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Wobei sie am Anfang vor allem Bewunderung für ihn empfand, gewürzt mit einer Prise schlechtem
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Gewissen. Robert nahm die Sache ernst. Robert wurde politisch aktiv. In der Online-Zeitung, für die
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er arbeitete, gründete er ein eigenes Ressort für Klimafragen. Außerdem fing er an, sein Leben zu
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ändern, ernährte sich vegan, kaufte klimafreundliche Klamotten und ging regelmäßig zu den
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Freitagsdemonstrationen. Dass Dora nicht mitkommen wollte, verstörte ihn. Glaubte sie nicht an den
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menschengemachten Klimawandel? Sah sie nicht, dass die Welt auf den Untergang zusteuerte? Die
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Statistiken hielten Einzug in ihre Gespräche. Robert verwies auf Zahlen, Experten und Wissenschaft.
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Dora saß vor ihm als Repräsentantin der dummen Masse, die sich partout nicht überzeugen lassen
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wollte. Wenn er richtig in Fahrt kam, warf er ihr sogar ihren Job vor. Dass sie mit ihrer Arbeit den
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Konsum ankurbele. Dass sie Menschen dazu bringe, Dinge zu kaufen, die sie gar nicht wollten und
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erst recht nicht brauchten. Dora als Agentin der Wegwerfgesellschaft. Energievernichtend und
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müllbergvergrößernd. Sie hatte noch nie das Bedürfnis, die Werbebranche zu verteidigen. Trotzdem
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tat es weh, wenn Robert so mit ihr sprach.
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Schließlich mangelt es ihr nicht an Überzeugung. Natürlich hält sie den Klimawandel für ein schwer-
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wiegendes Problem. Was sie lähmt, ist die Ansprache. “How dare you“ anstatt “I have a dream“. Statt
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über Temperaturziele zu streiten, sollte man sich ihrer Meinung nach lieber auf das Wesentliche kon-
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zentrieren – das Ende des fossilen Zeitalters, welches sich nicht erreichen lässt, indem man die Bürger
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besser erzieht, sondern nur durch einen Umbau von Infrastruktur, Mobilität und Industrie. Dass Robert
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im Angesicht dieser Aufgabe stolz darauf ist, kein Auto zu fahren, kommt ihr merkwürdig vor.
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Dora mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf stützen. In ihr wohnt et-
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was, das sich sträubt. Sie hat keine Lust auf den Kampf ums Rechthaben und will nicht Teil einer Mei-
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nungsmannschaft sein. Normalerweise ist ihr Sträuben kein Sich-Wehren. Man sieht es nicht. Sie lebt
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angepasst. Das Sträuben erzeugt eher eine Art Trotz, ein inneres Ankämpfen gegen die Verhältnisse.
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Deshalb musste sie Robert irgendwann sagen, dass er aufpassen solle, ab wann es bei seinen Statisti-
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ken nicht mehr um ernsthafte Anliegen, sondern ums Rechthaben gehe. Er schaute sie erschrocken an
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und fragte, ob sie die alternativen Fakten eines Donald Trump bevorzuge.
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Da zeigte sich zum ersten Mal das Problem mit Doras Gedanken: Sie waren jetzt unverständlich, viel-
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leicht sogar verwerflich. Man konnte nicht darüber sprechen. Jedenfalls nicht mit Robert. Nicht mehr.
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Er saß vor ihr wie eine Instanz, strahlend und selbstsicher. Über jeden Irrtum, jeden Zweifel erhaben.
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Angehöriger einer Gruppe, die das Mängelwesen Mensch transzendiert hat. Da kam Dora nicht mit.
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Gleichzeitig schämte sie sich für ihr Sträuben und den Trotz. Im Grunde war es doch gleichgültig, ob
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es Robert ums Rechthaben ging, solange er wirklich recht hatte. Klimapolitik war und ist eine wich-
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tige Sache. Außerdem wirkte Robert zufrieden, während Dora häufig an Selbstzweifeln litt. Es musste
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sich gut anfühlen, für eine wichtige Sache zu kämpfen. Robert brauchte sich die Sinnfrage nicht mehr
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zu stellen. Er hatte sogar den Projekte-Kreislauf überwunden, indem er viele kleine zu erreichende
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Ziele gegen ein vermutlich unerreichbares Großziel eintauschte. Ein genialer Schachzug, eine ge-
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schickte Rochade.
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Dora beschloss, sich Mühe zu geben. Sie verzichtete auf Fleisch. Sie kaufte im Bioladen ein. Robert
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zuliebe wechselte sie sogar die Agentur. Sus-Y ist mittelgroß, auf nachhaltige Produkte sowie Non-
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Profit-Organisationen spezialisiert und hat sich vorgenommen, verantwortungsvolle Unternehmen bei
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der Umsetzung ihrer sozialökologischen Ideen zu unterstützen. Statt Dosensuppen, Luxus-Kreuzfahr-
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ten oder Direktversicherungen zu bewerben, entwickelt Dora bei Sus-Y Ideen für vegane Schuhe, den
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plastiktütenfreien Tag oder fair gehandelte Schokolade. Dass auf ihrer Visitenkarte statt „Senior-Co
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pywriter“ nur noch das einsame Wörtchen „Text“ steht, hat sie nie gestört. Auch nicht, dass sie etwas
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weniger verdient als zuvor. Aber aus Roberts Sicht genügte das alles nicht. Noch lange nicht. Schließ-
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lich begriff Dora, was er wollte, und das konnte sie ihm nicht geben. Er wollte Gefolgschaft. Er wollte
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ihr Sträuben bezwingen. Er wollte, dass sie einen Treueschwur auf die Apokalypse leistete, und wurde
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immer wütender auf ihren heimlichen Trotz. Auf ihre Unfähigkeit, mit ihm gemeinsam in erster Reihe
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zu marschieren. Er war unzufrieden mit ihr, und sie lachten weniger miteinander als früher.

Aus: Juli Zeh: Über Menschen, München 2. Aufl. 2021, S. 20 – 23 (die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage).

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