Teil A
Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Werkvergleich
Thema: Absolute Wahrheiten E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess., Über Menschen (2021) Aufgabenstellung:
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Gib den Inhalt des Textauszugs aus Juli Zehs Roman „Über Menschen“ wieder und analysiere ihn unter Berücksichtigung der sprachlich-formalen Gestaltung. (Material)
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Untersuche die Gemeinsamkeiten zwischen der Beziehung von Dora und Robert (Material) und der Beziehung von Clara und Nathanael aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“.
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„[Sie] mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf stützen. In ihr wohnt etwas, das sich sträubt. Sie hat keine Lust auf den Kampf ums Rechthaben und will nicht Teil einer Meinungsmannschaft sein. Normalerweise ist ihr Sträuben kein Sich-Wehren. Man sieht es nicht. Sie lebt angepasst. Das Sträuben erzeugt eher eine Art Trotz, ein inneres Ankämpfen gegen die Verhältnisse.“ (Material)
Überprüfe, ob diese Beschreibung Doras auch auf Mia Holl aus Juli Zehs Roman „Corpus Delicti. Ein Prozess“ zutrifft.
Material
Über Menschen (2021)
Juli Zeh
Dora, die Protagonistin des Romans, lebt zusammen mit ihrem Freund Robert in Berlin, bis sie, verschärft durch die Bedingung des Homeoffice während des Lockdowns der Corona-Pandemie, es in ihrer gemeinsamen Wohnung nicht mehr aushält und allein aufs Land zieht.
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Dora weiß nicht mehr, wann es angefangen hat. Sie weiß noch, dass sie schon während Roberts
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Klimaschützerphase manchmal dachte, dass er übertreibt. Wenn er die Politiker als Volltrottel und
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seine Mitmenschen als selbstsüchtige Ignoranten beschimpfte. Wenn er sich über Doras Fehler bei der
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Mülltrennung aufregte, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Da schien er ihr manchmal übereifrig
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und unversöhnlich, und sie überlegte, ob er vielleicht an einer Neurose, an einer Art politischem
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Waschzwang litt, der aus dem nachdenklichen, sanften Menschen einen Besessenen gemacht hat.
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Wobei sie am Anfang vor allem Bewunderung für ihn empfand, gewürzt mit einer Prise schlechtem
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Gewissen. Robert nahm die Sache ernst. Robert wurde politisch aktiv. In der Online-Zeitung, für die
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er arbeitete, gründete er ein eigenes Ressort für Klimafragen. Außerdem fing er an, sein Leben zu
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ändern, ernährte sich vegan, kaufte klimafreundliche Klamotten und ging regelmäßig zu den
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Freitagsdemonstrationen. Dass Dora nicht mitkommen wollte, verstörte ihn. Glaubte sie nicht an den
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menschengemachten Klimawandel? Sah sie nicht, dass die Welt auf den Untergang zusteuerte? Die
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Statistiken hielten Einzug in ihre Gespräche. Robert verwies auf Zahlen, Experten und Wissenschaft.
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Dora saß vor ihm als Repräsentantin der dummen Masse, die sich partout nicht überzeugen lassen
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wollte. Wenn er richtig in Fahrt kam, warf er ihr sogar ihren Job vor. Dass sie mit ihrer Arbeit den
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Konsum ankurbele. Dass sie Menschen dazu bringe, Dinge zu kaufen, die sie gar nicht wollten und
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erst recht nicht brauchten. Dora als Agentin der Wegwerfgesellschaft. Energievernichtend und
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müllbergvergrößernd. Sie hatte noch nie das Bedürfnis, die Werbebranche zu verteidigen. Trotzdem
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tat es weh, wenn Robert so mit ihr sprach.
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Schließlich mangelt es ihr nicht an Überzeugung. Natürlich hält sie den Klimawandel für ein schwer-
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wiegendes Problem. Was sie lähmt, ist die Ansprache. “How dare you“ anstatt “I have a dream“. Statt
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über Temperaturziele zu streiten, sollte man sich ihrer Meinung nach lieber auf das Wesentliche kon-
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zentrieren – das Ende des fossilen Zeitalters, welches sich nicht erreichen lässt, indem man die Bürger
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besser erzieht, sondern nur durch einen Umbau von Infrastruktur, Mobilität und Industrie. Dass Robert
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im Angesicht dieser Aufgabe stolz darauf ist, kein Auto zu fahren, kommt ihr merkwürdig vor.
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Dora mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf stützen. In ihr wohnt et-
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was, das sich sträubt. Sie hat keine Lust auf den Kampf ums Rechthaben und will nicht Teil einer Mei-
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nungsmannschaft sein. Normalerweise ist ihr Sträuben kein Sich-Wehren. Man sieht es nicht. Sie lebt
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angepasst. Das Sträuben erzeugt eher eine Art Trotz, ein inneres Ankämpfen gegen die Verhältnisse.
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Deshalb musste sie Robert irgendwann sagen, dass er aufpassen solle, ab wann es bei seinen Statisti-
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ken nicht mehr um ernsthafte Anliegen, sondern ums Rechthaben gehe. Er schaute sie erschrocken an
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und fragte, ob sie die alternativen Fakten eines Donald Trump bevorzuge.
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Da zeigte sich zum ersten Mal das Problem mit Doras Gedanken: Sie waren jetzt unverständlich, viel-
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leicht sogar verwerflich. Man konnte nicht darüber sprechen. Jedenfalls nicht mit Robert. Nicht mehr.
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Er saß vor ihr wie eine Instanz, strahlend und selbstsicher. Über jeden Irrtum, jeden Zweifel erhaben.
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Angehöriger einer Gruppe, die das Mängelwesen Mensch transzendiert hat. Da kam Dora nicht mit.
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Gleichzeitig schämte sie sich für ihr Sträuben und den Trotz. Im Grunde war es doch gleichgültig, ob
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es Robert ums Rechthaben ging, solange er wirklich recht hatte. Klimapolitik war und ist eine wich-
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tige Sache. Außerdem wirkte Robert zufrieden, während Dora häufig an Selbstzweifeln litt. Es musste
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sich gut anfühlen, für eine wichtige Sache zu kämpfen. Robert brauchte sich die Sinnfrage nicht mehr
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zu stellen. Er hatte sogar den Projekte-Kreislauf überwunden, indem er viele kleine zu erreichende
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Ziele gegen ein vermutlich unerreichbares Großziel eintauschte. Ein genialer Schachzug, eine ge-
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schickte Rochade.
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Dora beschloss, sich Mühe zu geben. Sie verzichtete auf Fleisch. Sie kaufte im Bioladen ein. Robert
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zuliebe wechselte sie sogar die Agentur. Sus-Y ist mittelgroß, auf nachhaltige Produkte sowie Non-
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Profit-Organisationen spezialisiert und hat sich vorgenommen, verantwortungsvolle Unternehmen bei
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der Umsetzung ihrer sozialökologischen Ideen zu unterstützen. Statt Dosensuppen, Luxus-Kreuzfahr-
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ten oder Direktversicherungen zu bewerben, entwickelt Dora bei Sus-Y Ideen für vegane Schuhe, den
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plastiktütenfreien Tag oder fair gehandelte Schokolade. Dass auf ihrer Visitenkarte statt „Senior-Co
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pywriter“ nur noch das einsame Wörtchen „Text“ steht, hat sie nie gestört. Auch nicht, dass sie etwas
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weniger verdient als zuvor. Aber aus Roberts Sicht genügte das alles nicht. Noch lange nicht. Schließ-
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lich begriff Dora, was er wollte, und das konnte sie ihm nicht geben. Er wollte Gefolgschaft. Er wollte
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ihr Sträuben bezwingen. Er wollte, dass sie einen Treueschwur auf die Apokalypse leistete, und wurde
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immer wütender auf ihren heimlichen Trotz. Auf ihre Unfähigkeit, mit ihm gemeinsam in erster Reihe
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zu marschieren. Er war unzufrieden mit ihr, und sie lachten weniger miteinander als früher.
Aus: Juli Zeh: Über Menschen, München 2. Aufl. 2021, S. 20 – 23 (die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage).
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Einleitung
- Der vorliegende Textausschnitt stammt aus dem gleichnamigen Werk Juli Zehs, welches die Autorin im Jahr 2021 veröffenlicht.
- Es handelt sich bei dem Werk um einen Roman, der in München in der 2. Auflage erscheint. Das Buch lässt sich der Epoche der Gegenwart und somit zeitgenössischer Literatur zuordnen.
- Die Einteilung des Textausschnitts erfolgt in fünf unterschiedlich lange Paragraphen, wobei der erste, vierte und sechste Absatz im Vergleich zu den übrigen, dazwischenliegenden Paragraphen mit 19, 10 und 11 Zeilen länger sind als der zweite und dritte Absatz.
Hauptteil
Inhalt & sprachlich-formale Analyse- Erster Paragraph (Z. 1-19): Anfangs erfährt man als Leser*in, dass sich Dora und ihr Freund Robert im Zuge der Isolation aufgrund der Corona-Pandemie zunehmend emotional voneinander entfernt haben. Robert engagiert sich verstärkt in Sachen Klimaschutz, bezieht Dora jedoch nicht mit ein, sondern stellt sie als Sündenbock für alle existenten Probleme an. Dora wiederum, die aus dem Homeoffice heraus in der Werbebranche tätig ist, kapselt sich Stück für Stück immer weiter von ihrem Freund ab, da sie merkt, dass er Wesensveränderungen aufzeigt, die ihr und ihrer Beziehung schaden und die „weh tun“ (vgl. Z. 19).
- Zweiter Paragraph (Z. 20-25): Die Protagonistin stört sich an der Herangehensweise und dem Umgang mit dem Thema Klimaschutz, nicht an der der Tatsache, dass letzterer eine Daseinsberechtigung besitzt. So ist es eher in ihrem Sinne, konkrete Änderungen und Optimierungen wie etwa „einen Umbau von Infrastruktur, Mobilität und Industrie“ (Z. 24) zu erzielen, anstatt sich permament nur über den miserablen Ist-Zustand zu beschweren und die damit verbundenen Anklagen und Vorwürfe auf sich einprasseln zu lassen.
- Dritter Paragraph (Z. 26-32): Innerlich wehrt sich alles in Dora gegen den dogmatischen Ansatz, die Klimakrise stoppen zu wollen ihres Freundes Robert. Sie spricht es auch offen ihm gegenüber an und stößt dabei bei ihm auf Unverständnis. Anstatt den Befürchtungen seiner Partnerin Gehör zu schenken, stellt er ihr die Frage, „ob sie die alternativen Fakten eines Donald Trump bevorzuge“ (Z. 32).
- Vierter Paragraph (Z. 33-43): Nun verhärten sich die Fronten zwischen dem Paar, da Robert aufgrund Doras Unverständnis über seinen Wahn nicht länger eine adäquate Gesprächspartnerin auf Augenhöhe in Dora sieht. Dora hingegen wird einerseits von Schamgefühl, dass sie sich selbst in die Anti-Haltung verrennen könnte und zum anderen, da sie innerlich sehr wohl den Sinn dahinter sieht, für das Klima zu kämpfen. Das Gleichgewicht zwischen den beiden gerät ins Wanken.
- Fünfter Paragraph (Z. 44-55): Da sich Dora in die Enge gedrängt fühlt, beschließt sie, sich den Vorstellungen und Erwartungen ihres Freundes zu beugen und wird bspw. Veganerin. Allerdings ändern ihre Bemühungen nichts am Gefälle, was zwischen ihr und Robert entstanden ist. So beschwert er sich nach wie vor, erwartet, dass sie immer drastischere Schritte in Richtung Commitment geht (zum Beispiel „einen Treueschwur auf die Apokalypse [leisten]“, Z. 53) und sie kann seinen Anforderungen nicht gerecht werden. Diese Spannungen ziehen die Leichtigkeit der Partnerschaft stark in Mitleidenschaft.
- In beiden Beziehungen herrscht eine gewisse Unstimmigkeit und Spannung zwischen den Partnern. In Der Sandmann fühlt sich Clara von Nathanaels Besessenheit und Ängsten bedrängt, während Dora in der gegebenen Materialprobe gelegentlich das Gefühl hat, dass Robert übertreibt und zu unversöhnlich ist.
- Beide Frauenfiguren empfinden eine gewisse Bewunderung für ihre Partner, aber auch ein schlechtes Gewissen oder Verwirrung angesichts ihrer Verhaltensweisen.
- Ein weiterer gemeinsamer Aspekt ist das politische Engagement der männlichen Partner. Nathanael in Der Sandmann wird von seinen Ängsten und Obsessionen angetrieben, während Robert sich in der gegebenen Materialprobe für den Klimaschutz engagiert. Beide Männer nehmen ihre Sache ernst und versuchen, ihre Partnerinnen von ihrer Sichtweise zu überzeugen. Dies führt zu Konflikten und Vorwürfen in der Beziehung.
- Darüber hinaus gibt es in beiden Beziehungen eine Diskrepanz in den Überzeugungen und Ansichten der Partner. Clara in Der Sandmann kann Nathanaels Ängste und Besessenheit nicht verstehen, während Dora in der gegebenen Materialprobe zwar den Klimawandel als Problem anerkennt, aber eine andere Herangehensweise bevorzugt.
- Was sowohl Dora als auch Clara gleichermaßen zuwider ist, ist, dass beide sich von den absoluten Wahrheiten und Autoritäten ihrer Partner abgestoßen fühlen und nicht Teil einer bestimmten Meinungsmannschaft sein möchten.
- Schließlich zeigen sowohl Clara als auch Dora eine gewisse innere Rebellion gegen die Verhältnisse. Clara kämpft gegen Nathanaels Einfluss und versucht, ihre eigene Identität zu bewahren, während Dora sich gegen den Kampf ums Rechthaben und die Anpassung an bestimmte Meinungen sträubt. Beide Frauen haben das Bedürfnis, ihre eigene Stimme und Perspektive zu bewahren.
- Die im Zitat beschriebene Haltung – die Ablehnung absoluter Wahrheiten, die Skepsis gegenüber autoritären Systemen und das leise, aber entschiedene Sträuben gegen das Rechthaben – lässt sich damir nicht nur bei Dora feststellen, sondern auch bei Mia Holl aus Juli Zehs Roman Corpus Delicti.
- Auch Mia lebt zunächst angepasst innerhalb des Systems der METHODE und vertraut auf Wissenschaft, Vernunft und Regeln. Doch der Selbstmord ihres Bruders Moritz bringt sie innerlich in Konflikt mit dem System, das sich auf absolute Wahrheiten stützt – in diesem Fall die objektive Gesundheit.
- Wie Dora wehrt sich Mia zunächst nicht offen, sondern durch ein inneres Sträuben, das sich später in vorsichtiger Opposition äußert. Sie hinterfragt die Autoritäten, aber sie wird nicht zur klassischen Widerstandskämpferin – ihr Sträuben ist „kein Sich-Wehren“, sondern ein innerer Trotz, eine leise Form des Aufbegehrens.
- Beide Figuren möchten sich nicht in ideologische Lager einordnen lassen – Dora nicht in das moralisch aufgeladene Lager der Klimaretter, Mia nicht in das System der Gesundheitsfanatiker. Beiden ist gemein, dass sie ihre eigene Stimme und Perspektive bewahren wollen, auch wenn das bedeutet, sich gegen dominante Narrative zu stellen.
- Daher kann man sagen: Die Charakterisierung aus dem Material trifft nicht nur auf Dora, sondern auch auf Mia Holl in hohem Maße zu.
Schluss
- Insgesamt lässt sich festhalten, dass sowohl Dora in der gegebenen Materialprobe als auch Mia Holl in Juli Zehs Roman ähnliche Erfahrungen in ihren Beziehungen zu ihren Partnern machen. Sowohl Dora als auch Mia empfinden eine gewisse Unstimmigkeit und Spannung in ihren Beziehungen, wobei sie sich von den Verhaltensweisen und Überzeugungen ihrer Partner bedrängt oder abgestoßen fühlen.
- Ein weiterer gemeinsamer Aspekt ist das politische Engagement der männlichen Partner. Sowohl Robert in der gegebenen Materialprobe als auch Nathanael in Der Sandmann sind von ihren eigenen Ängsten, Obsessionen oder politischen Überzeugungen getrieben. Dies führt zu Konflikten und Vorwürfen in den Beziehungen, da die Frauen versuchen, ihre eigene Identität und Perspektive zu bewahren.
- Darüber hinaus zeigen sowohl Dora als auch Mia eine innere Rebellion gegen die Verhältnisse und den Kampf ums Rechthaben. Sie möchten nicht Teil einer bestimmten Meinungsmannschaft sein und sträuben sich gegen absolute Wahrheiten und Autoritäten. Beide Frauen haben das Bedürfnis, ihre eigene Stimme und Perspektive zu behalten.
- Insgesamt verdeutlicht der Vergleich der Beziehungen von Dora und Mia zu ihren Partnern in Corpus Delicti und Der Sandmann die ähnlichen Herausforderungen und Konflikte, mit denen Frauen in Beziehungen konfrontiert sein können. Es zeigt auch die Bedeutung der individuellen Identität und des eigenen Standpunkts in einer Partnerschaft.