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Basiswissen

Teil C

Analyse eines Sachtextes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema: Macht uns Bildung zu besseren Menschen?
Jan Roß (* 1965): Macht mich Bildung zum besseren Menschen? (2020)
Aufgabenstellung:
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Gib Jan Roß’ Auffassung von Bildung im vorliegenden Essay wieder und analysiere die sprachlich-formale Gestaltung des Textes. (Material)
(30 BE)
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Erläutere, ausgehend von Roß’ Text, welche Rolle Bildung für die Figuren Wagner, Faust und Margarete aus Goethes Drama „Faust I“ spielt.
(45 BE)
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„Bei der Frage, welche Medien bildungstauglich sind, soll man nicht kleinlich sein.“ (Material)
Diskutiere, inwiefern Literatur und andere Medien heute noch eine bildende Funktion im Sinne von Roß haben können.
(25 BE)
Material
Macht mich Bildung zum besseren Menschen? (2020)
Jan Roß
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Während meiner Zeit als Korrespondent in Indien bin ich zahllosen Bettlern begegnet. Manchmal habe
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ich ihnen ein bisschen Geld gegeben, manchmal ärgerte ich mich über sie, weil ich sie zudringlich
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fand. Aber an den allermeisten bin ich vorbeigegangen. Das passiert natürlich auch in Deutschland, in
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jeder großstädtischen Fußgängerzone. Doch in einem Land wie Indien, wo die Armut trotz aller wirt-
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schaftlichen Entwicklung immer noch allgegenwärtig ist, fällt einem die eigene Fähigkeit zur Achtlo-
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sigkeit, zur Wahrnehmungsverweigerung besonders drastisch auf. Man blickt von den Armen nicht
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einmal mehr weg, man sieht einfach durch sie hindurch.
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Zufälligerweise las ich zur selben Zeit, in der ich mich in Indien einlebte, ein dickes, altes europäi-
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sches Buch, einen Klassiker: den Roman Bleakhaus des englischen Erzählers Charles Dickens aus
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dem Jahr 1853. Eine spannende Geschichte aus dem nebelverhangenen viktorianischen London. Halb
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Krimi, halb Sozialkritik, voller unvergesslicher Charaktere.
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Eine der Romanfiguren ist der Straßenkehrer Jo, noch ein halbes Kind, so schmächtig, verschüchtert
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und elend, dass er nicht einmal einen Nachnamen angeben kann, wenn er gefragt wird, und gewisser-
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maßen nur aus zwei Buchstaben besteht. Das Verrückte ist nun: An diesem literarischen Betteljungen
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konnte ich, im Unterschied zu den lebenden Bettlern draußen in der Stadt, nicht vorbeisehen. Er ist aus
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der Geschichte nicht wegzudenken, Dickens hat ihn mit dutzenderlei Fäden in die Handlung hineinge-
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näht. Wer Bleakhaus liest, muss sich auch mit Jo befassen. Ich konnte den Band natürlich zuschlagen
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und weglegen, aber solange ich meinen Kopf in das Buch steckte, war Jo da. Ich musste seinen ge-
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stammelten, sprachlich unkorrekten Sätzen mit Geduld zuhören. Ich musste mitansehen, wie er von
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der Polizei als unerwünschter Obdachloser von Ort zu Ort gescheucht wird, wie er vor Gericht nicht
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als Zeuge erscheinen darf, wie er schließlich an den Pocken stirbt, die in den Londoner Slums ausge-
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brütet werden. Ich konnte das alles nicht ausblenden: Augen, die zum Lesen geöffnet sind, lassen sich
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für die Vorstellungskraft nicht schließen. Mein Lektüreerlebnis war gespenstisch, aber auch ein Wun-
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der: Ein fiktiver Charakter aus einem mehr als 150 Jahre alten Buch war für mich wirklicher als die
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tatsächlichen Leute vor meiner Haustür. Oder, anders und optimistischer gesagt: Ein Kunstwerk, ein
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klassischer Roman – ein Bildungsgut –, zwang mich unerbittlicher, die Realität der Armut zur Kennt-
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nis zu nehmen, als die Realität selbst es vermochte.
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Macht uns Bildung zu besseren Menschen? Was für eine ungewohnte Frage das ist – altmodisch, idea-
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listisch, naiv, beinahe peinlich. Das ist nicht die Art, wie wir normalerweise über dieses Thema reden.
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Bildung steht offiziell hoch im Kurs, als Fundament der modernen Wissensgesellschaft; die Diskus-
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sion geht dann gleich in die Details: acht oder neun Jahre Gymnasium, mehr Digitalisierung oder mehr
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Latein. Aber ist das alles? An Bildung richten sich Erwartungen, Sehnsüchte, die durch keine Kultus-
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bürokratie und kein Reformexpertentum zu befriedigen sind. Wenn sie mehr sein soll als Information
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oder Training, mehr als bloß Karrierevehikel oder Statusmerkmal, sondern eine Lebensbegleiterin,
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dann landet man irgendwann bei dieser Frage: Macht uns Bildung zu besseren Menschen?
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Und die erste schnelle, selbstverständliche, fast aus dem Rückenmark schießende Antwort lautet:
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Nein. Wir alle kennen belesene, kunstsinnige und intellektuell brillante Wichtigtuer, Egoisten oder Zy-
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niker. [...] Wir kennen den „Bildungsdünkel“: ein klassenmäßiges bürgerliches Ausschlusskriterium,
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um „die da unten“ und „die da draußen“ von der besseren Gesellschaft fernzuhalten. Der Anspruch auf
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Bildung ist oft von der Giftwolke der Arroganz umgeben, wenn nicht von angemaßtem Herrenmen-
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schentum. Umgekehrt gibt es eine Menge Leute, die den Namen „Shakespeare“ zwar nicht einmal
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buchstabieren können – denen aber seelisch und charakterlich nicht das Mindeste fehlt. Ein gebildeter
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und ein guter Mensch zu sein, also Geistesbildung und Herzensbildung – die beiden Eigenschaften ha-
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ben offenbar nur sehr bedingt miteinander zu tun. [...]
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Und trotzdem ist das nicht die ganze Wahrheit. Dass Bildung moralische Kraft besitzt, ist keine kom-
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plette Illusion oder ideologische Phrase. [...]
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In der Horizonterweiterung steckt [...] die Ethik der Bildung. Bildung tritt dem Vergessen entgegen
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und hält die Vergangenheit gegenwärtig. Sie konfrontiert uns mit dem Fremden und anderen, mit
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Ideen, auf die wir selbst nicht gekommen wären, und mit Weltbildern, die uns irritieren. Das gilt nicht
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nur für die Literatur – obwohl sie vielleicht eine gewisse Sonderrolle spielt, als kulturelle Erbin des
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Erzählens, jener Urform, in der die Menschheit ihre Neuigkeiten austauscht und weitergibt. [...] Bei
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der Frage, welche Medien bildungstauglich sind, soll man nicht kleinlich sein.
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Entscheidend ist: Geisteswerke schicken uns auf intellektuelle Abenteuer und machen uns mit außer-
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ordentlichen Frauen und Männern bekannt [...]. Sie brechen den Käfig unserer Routine und Be-
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schränktheit auf, sie erweitern unser Einfühlungsvermögen und unsere moralische Fantasie. Bildung
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ist das Gegenprogramm zu einer Mentalität, die satt und träge um sich selbst kreist. Zum geistigen und
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seelischen Daumenlutschertum. Zum Narzissmus.
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In der Welt der Bildung funktioniert dieser bequeme Rückzug auf das, was naheliegt und uns in den
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Kram passt, dagegen nicht. Nicht nur, weil sie uns unbehagliche Situationen zumutet. Das ganze Prin-
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zip und System Bildung beruht, wenn man so will, auf der Relativierung unserer Vorlieben und unse-
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rer Selbstgenügsamkeit, es steht in entschiedenem Gegensatz zu der Vorstellung, dass wir das Maß
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aller Dinge seien. [...] [D]as Grundgesetz des Bildungsuniversums lautet, dass man nie der Erste und
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nie der Einzige ist, dass die Welt nicht bei null und nicht mit mir selbst anfängt, dass man etwas vor-
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findet, an dem man sich abarbeiten muss. Das hilft schon ein bisschen gegen Selbstüberschätzung.
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Diese Konfrontation mit dem Unverlangten, mit dem, was wir uns selbst nicht ausgesucht hätten, ist
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eines der wichtigsten Bildungserlebnisse. Für den Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts sind die Figuren
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der literarischen Klassiker oder vergangener Epochen weit weg. Man könne sich mit ihnen nicht iden-
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tifizieren, heißt es, man finde sich in ihnen nicht wieder. [...]
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Wer [...] von vornherein immer und überall nur sich und seine Welt „wiederfinden“ und sich mit al-
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lem „identifizieren“ will, bleibt nicht bloß intellektuell beschränkt. Der schlimmste Feind – der wahre
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Gegenspieler – des gebildeten Menschen ist nicht der Barbar: Es ist der Spießer, der alles auf sich be-
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zieht, alles schon zu wissen meint und selbstzufrieden in seinem Denken und Dasein ruht.
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„Bildungsrelevant“ ist daher nicht einfach das Interessante und Wichtige – sondern vor allem das, was
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uns infrage stellt. [...] Bildung zieht uns den Schnuller der Egozentrik aus dem Mund.

Anmerkungen zum Autor:
Jan Roß (1965), deutscher Journalist und Autor, seit 1998 Redakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Aus: DIE ZEIT Nr. 4/2020 am 16. Januar 2020, letzter Zugriff am 21.01.2020.

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