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Basiswissen

Vorschlag D

Materialgestütztes Schreiben eines argumentierenden Textes (Kommentar)

Thema:
Macht der Sprache
Aufgabenstellung:
  • Im Rahmen eines Projektes beschäftigt sich dein Deutsch-Kurs mit dem Thema „Macht durch Sprache“. Die Ergebnisse sollen in einem Themenheft dargestellt und der Schülerschaft der Oberstufe zugänglich gemacht werden.
  • Verfasse für dieses Themenheft einen Kommentar, in dem du dich mit der Frage auseinandersetzt: „Politische Rhetorik – nur Mittel zur Manipulation?“
  • Nutze dazu die folgenden Materialien (M 1-M 5) und beziehe unterrichtliches Wissen und eigene Erfahrungen ein.
  • Formuliere eine geeignete Überschrift.
  • Verweise auf die Materialien erfolgen unter Angabe des Namens der Autorin bzw. des Autors und ggf. des Titels.
  • Dein Kommentar sollte etwa 1000 Wörter umfassen.
  • (100 BE)
Material 1
Dreieck der Rhetorik (2013)
Deutschabi BaWü 2023 Dreieck der Rhetorik
Aus: Politik & Unterricht 1/2013, S. 11. Politik und Unterricht; letzter Zugriff am 13.02.2021.
Material 2
Rhetorik: Die unsichtbare Unterkonstruktion jedes Textes
1
Die Rhetorik ist in der Antike entstanden. Damals tüftelte man erstmals an einem Instrumentarium für
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das Erstellen und Ausführen erfolgreicher Reden. Das Modell war das Gericht. Wie begründet man
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eine Anklage? Und wie eine Verteidigung? Es fiel auf, wie wichtig der Umgang mit Argumenten war:
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sowohl im Sinne ihrer Erfindung und Anordnung als auch in der sprachlichen Ausgestaltung mit ge-
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wissen Glanzpunkten, zum Beispiel mit kühnen Metaphern. Dies wurde rasch auf die Politik übertra-
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gen. Man wusste: Wie vor Gericht setzt sich die Wahrheit oder das Richtige nicht von selbst durch.
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Die Probleme sind oft zu verwickelt, die Zuhörer leicht ablenkbar oder haben vorgefasste Meinungen.
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Da gilt es, Aufmerksamkeit für das Thema zu erzielen, Emotionen zu wecken, die die eigene These
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annehmbar machen. Die Griechen und nach ihnen die Römer haben dafür einen entsprechenden Unter
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richt organisiert und das Wichtigste in Lehrbüchern (Rhetoriken) zusammengetragen.
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Seit der Antike ist das Interesse an Rhetorik und rhetorischer Rede in Europa nie mehr erlahmt, auch
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wenn sich die Umstände änderten. [...]
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Die Erben der rhetorisch geprägten Schriftkultur sind die Kommentatoren und Essayisten in den Me-
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dien. Man lernt hier immer noch, wie man Argumente sachlich und sprachlich am besten vertritt, um
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Aufmerksamkeit und Zustimmung zu erzielen. Viel ist dabei von den alten „Tricks“ vorhanden, die in
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den Rhetoriken seit der Antike vermittelt worden sind. Eines sollte man bei alldem jedoch im Auge
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behalten: Ein rhetorisch guter Text muss noch lange kein „richtiger“ Text sein. Die argumentative und
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stilistische Kunstfertigkeit ist sozusagen wahrheitsneutral. Man kann durchaus Rhetoriker für ihr rhe-
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torisches Talent bewundern, auch wenn sie das Gegenteil der eigenen Meinung vertreten. Es gibt sogar
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gute Rhetorik in Verbindung mit Verbrechen – wie bei den Nationalsozialisten. [...]

Aus: ZEIT für die Schule: Die Rhetorik und die Medien (o. J.); letzter Zugriff am 14.10.2022.
Material 3
Rhetorik. Einfach Überzeugen (2016)
Andreas Sentker
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[...] Hier kommt alles zusammen, was eine historische Rede ausmacht: die Glaubwürdigkeit des
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Redners, die Tragkraft seiner Argumente und die Gefühle, die er beim Publikum hervorzurufen ver-
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mag. Die drei Säulen der Rhetorik – Ethos, Logos und Pathos – beschreibt schon der griechische Phi-
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losoph Aristoteles im allerersten Lehrbuch der Rhetorik. Für ihn ist die Rhetorik die Kunst der Überzeu-
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gung, nicht der Überredung. Und daher ist das Argument das entscheidende rhetorische Mittel.
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Aber Aristoteles weiß auch um die Macht der Gefühle und rät dem Redner, „nicht nur darauf zu sehen,
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dass die Rede beweisend und überzeugend sei“, sondern auch dafür zu sorgen, „sich selbst und den
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Beurteiler in eine bestimmte Verfassung zu versetzen.“ Dreihundert Jahre später im politischen
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Machtzentrum Roms setzt der erfahrene Politiker und Rhetoriker Marcus Tullius Cicero deutlich un-
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verblümter auf das Pathos: „Nichts ist in der Beredsamkeit wichtiger, als dass der Zuhörer dem Redner
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geneigt sei und selbst so erschüttert werde, dass er sich mehr durch einen Drang des Gemütes und
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durch Leidenschaft als durch Urteil und Überlegung leiten lasse.“
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Die antike Rhetoriklehre, sie wirkt bis heute fort: Ihre Regeln sind aktuell, ihre Rezepte nach wie vor
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alltagstauglich. Die Natur des Menschen hat sich in den Jahrtausenden offenbar nicht geändert. Dass
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sich gerade die politische Redekultur der Vereinigten Staaten so offensichtlich aus dem Fundus der
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antiken Lehrmeister bedient, hat historische Gründe. Die Rhetorik wurzelt in der Demokratie. Nur ein
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mündiges Publikum kann und muss vom Redner überzeugt werden. Und die Amerikaner haben eine
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deutlich längere demokratische Tradition als etwa die Deutschen. Schon vor 200 Jahren durfte dort der
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freie Bürger das Wort ergreifen, während der deutsche Untertan schwieg und gehorchte. [...]
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In Europa hingegen war das Ansehen der Rhetorik durch die NS-Zeit endgültig beschädigt, nachdem
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sie schon im 18. Jahrhundert an Bedeutung verloren hatte. Die Nazis hatten sie zur Propaganda miss-
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braucht, mit den Mitteln der Rede war nicht das Gute, sondern das Böse durchgesetzt worden. Das er-
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schütterte das Ansehen des Faches im Fundament. Schon im alten Griechenland hatte die Rhetorik ih-
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rer Ambiva lenz halber prominente Gegner gehabt. So kritisierte der Philosoph Platon die machtbe-
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wusste Rhetorik als Schmeichelei und warnte vor der Gefahr durch Demagogie. Sein rhetorischer Ge-
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genentwurf setzt auf die Erkenntnis der Wahrheit, seine Kritik ist vor allem eine an der unzureichen-
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den Moral manchen Redners.
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Zur Rhetorik gehört von Beginn an die Angst vor ihrer Janusköpfigkeit. Der erfahrene und selbstbe-
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wusste Redner Otto von Bismarck weist jede Nähe zur Rhetorik von sich: „Ich bin Minister, Diplo-
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mat und Staatsmann und würde mich für gekränkt halten, wenn man mich einen Redner nennte.“ Ab-
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lehnung der Rhetorik auch beim Philosophen Immanuel Kant: Er hält sie für eine „hinterlistige
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Kunst“. Johann Wolfgang von Goethe schimpft über „verdammte Rednerkünste, die alles bemänteln,
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über alles hinweg gleiten wollen, ohne das Rechte und Wahre auszusprechen“. Seinen Faust lässt er
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ausrufen: „Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.“ Dabei erzieht die Rhe-
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torik bis weit ins 18. Jahrhundert die europäischen Eliten zum guten Reden – und gehört bei der Grün-
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dung erster Universitäten zum Kerngeschäft der Akademiker [...]
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In Deutschland hatte die nationalsozialistische Propaganda alle Rhetorik diskreditiert. Hitler und Goe-
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bbels haben mit ihren sprachlich primitiven, aber bis ins Detail inszenierten Brüllreden jeden Einsatz
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rhetorischer Mittel für die Zukunft unmöglich gemacht. Als Schulstoff bleiben allenfalls die rhetori-
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schen Figuren übrig [...]. Im Übrigen ist die Rhetorik in Deutschland ein Synonym für Manipulation,
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Überredung, Entfesselung und Verführung der Massen.
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Walter Jens tritt 1967 in Tübingen an, die Rhetorik vom Fluch zu befreien. Ihm und seinen Nachfol-
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gern gelingt es nach und nach tatsächlich, das Instrumentarium der Rhetorik zu reinigen und zu schär-
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fen. „Seelenführung im Horizonte der Vernunft“ nennt Jens seine rhetorische Praxis. Und der heutige
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Lehrstuhlinhaber Dietmar Till weiß, warum die antiken Rhetoriklehren bis heute nichts von ihrem
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Reiz eingebüßt haben: „Nie zuvor und vermutlich später nie wieder hat man so intensiv über die Kunst
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der Rede nachgedacht wie damals.“
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Dem Propagandaverdacht begegnet Till offen. Mit seinen Studenten erarbeitet er in der Vorlesung re-
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gelmäßig eine Tabelle: Was will Propaganda? Was die Rhetorik? Schnell füllen sich die Spalten: Pro-
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paganda strebt nach Totalität, möchte Meinung dominieren. Sie stellt Mediensysteme in ihren Dienst.
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Sie geht emotional vor. Die Rhetorik hingegen stellt das Argument in den Mittelpunkt. Aber die Stu-
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denten sehen auch: Zwischen den Tabellen liegt ein Graubereich. „Hier spielt sich der größte Teil un-
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serer alltäglichen Kommunikation ab“, sagt Till, „irgendwo zwischen Überredung und Überzeugung.“
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[...]

Anmerkungen zum Autor:
Andreas Sentker (* 1964) ist Wissenschaftsjournalist, seit 1995 bei der Wochenzeitung DIE ZEIT. Dort leitet er seit 1998 das Ressort Wissen.
Aus: Sentker, Andreas: ZEIT ONLINE, Rhetorik. Einfach überzeugen. In: Die Zeit Nr. 20/2016 (04. 05. 2016); letzter Zugriff am 07.09.2020.
Material 4
Ars est artem celare - Die Lüge als rhetorische Kunst betrachten (2014)
Gert Ueding
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[...] die Rhetorik hat es mit Meinungen zu tun, nicht mit Wissen, das ist schon in der Definition ent-
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halten, [...] in der Aristoteles hervorhob, dass nämlich von rhetorischem Belang „nur solche Dinge
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[sind], welche sich allem Anschein nach auf zweierlei Weise verhalten können“. Ohne dass er es nach
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Philosophenweise ausdrücklich hervorhebt, vernehmen wir im Hintergrund Protagoras, der das nicht
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anders gesehen und kaum anders formuliert hatte, dass sich nämlich die Rhetorik mit Themen beschäf-
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tige, über die man mit gleichem Rechte nach beiden Seiten (also in einander entgegengesetztem Sinne)
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disputieren könne. [...]
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Dazu ist freilich eine Voraussetzung nötig, über die schon in der Antike viel diskutiert wurde. Mei-
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nung und Gegenmeinung (um den Pluralismus der Meinungen modellhaft zu vereinfachen) müssen
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sich nämlich in einem Verhältnis zueinander befinden, der as Konkurrieren überhaupt fruchtbar
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macht und einen Fortschritt in der Lösung eines, sagen wir juristischen oder politischen Problems
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bringt. Sie müssen sich, um es mit iner uns geläufigen Metapher zu sagen, auf Augenhöhe begegnen,
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und das ist oftmals nicht von vornherein gegeben. So befindet sich nicht nur der Redner im Nachteil,
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der eine sehr viel schwächere Meinung vertritt als sein Gegner, weil er z. B. die herrschende Gesetzes-
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auslegung gegen sich hat oder der im Publikum herrschenden Meinung entgegentreten muss. Auch die
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Problemlösung selber gerät in Gefahr, nicht zum optimalen Ergebnis zu finden. Protagoras, der dar-
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über nachgedacht hatte, verlangte daher vom Redner eine eigene Kunstfertigkeit, nämlich „die schwä-
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chere Sache zur stärkeren“ machen zu können. [...]
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Dass in der Rhetorik-Geschichte bis heute das monologische Verständnis von Rede als Gegenstand
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der Theorie und Unterweisung vorherrschen sollte, hat seine Gründe auch in der politischen Ge-
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schichte Europas. Öffentliche Rede verwirklichte sich in der Predigt, im Herrscherlob oder in der
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Kriegsrede, drei Gattungen, die keinen beratenden, sondern apodiktischen, auch propagandistischen
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Charakter haben: in ihnen konnte jede Lüge unwidersprochen bleiben, sie produzierte nichts als sich
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selber. Das Gespräch blieb dem lehrhaften, akademischen Dialog vorbehalten, der zwar für die Tradie-
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rung des Konzepts und seiner Techniken sorgte, aber praktisch folgenlos bleiben musste.
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Womit ich zum Abschluss noch auf ein historisch besonders radikales Exempel monologischer Rheto-
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rik-Theorie und -Praxis hinweisen möchte [...]. Ich meine die nationalsozialistische Rhetorik, lange
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vorbereitet durch Rhetoriker wie Carl Schmitt, Ewald Geissler oder Maximilian Weller, die die Rhe-
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torik total auf das Orator-Prinzip gründeten. „Das Endziel aber, dem der Redner über alle Wider-
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stände hinweg zudrängt, ist: dass die Hörer so werden, wie er sie haben will. So denken, so fühlen, so
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wollen, so handeln.“ Derart werden „die Hörer der Stoff des Redners“, er selber zum „Kampfredner“.
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Das alles sind Maximen Geisslers. [...] Erfolgreichster Schüler solcher Lehren war Adolf Hitler, in
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Mein Kampf kann man ihre Spuren zum Teil wörtlich nachlesen. Ich zitiere ein Beispiel: „Die Macht
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aber, die die großen historischen Lawinen religiöser und politischer Art ins Rollen brachte, war seit
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urewig nur die Zauberkraft des gesprochenen Worts.“ Vom Eingehen auf den Zuhörer, der Vertraut-
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heit mit ihm, spricht auch Hitler, doch ist kein Dialog damit gemeint. Die andere Meinung kennen be-
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deutet allein, den Schlachtplan eines Gegners kennen, den es zu schlagen gilt, mit Hitlers Worten: „Ich
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habe [...] gelernt, [...] dem Feinde die Waffe seiner Entgegnung gleich selber aus der Hand zu schla-
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en.“ Die wenigen Belege mögen genügen, um die nationalsozialistische Rhetorik als den Exzess ei-
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ner auf dem Orator-Prinzip fußenden Rede-Theorie zu decouvrieren. [...]

Anmerkungen zum Autor:
Gert Ueding (* 1942) ist ein deutscher Germanist und Literaturkritiker. Von 1988 bis zu seiner Pensionierung 2009 war er als Nachfolger von Walter Jens an der Universität Tübingen Inhaber des damals einzigen Lehrstuhls für Rhetorik in Deutschland.
Aus: Ueding, Gert „Ars est artem celare – Die Lüge als rhetorische Kunst betrachtet.“ In: Cahiers d’Études Germaniques [En ligne], 67. (2014); letzter Zugriff am 04.11.2020.
Material 5
Über demokratische Beredsamkeit oder: Politik muß für Wahrheiten Worte finden (1989)
Walter Jens
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Blood, toil, tears and sweat, Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß: mehr habe er der Regierung, dem
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Parlament und dem Volk nicht zu bieten, erklärte Winston Churchill am Pfingstmontag, dem 13. Mai
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1940, unmittelbar nach seiner Ernennung zum Premierminister im Unterhaus und stellte damit, for-
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melprägend, jene beiden Hauptcharakteristika eines demokratischen Politikers unter Beweis, deren
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Namen Wahrheitsliebe und Prägnanz, Ehrlichkeit und sentenziöse Bannkraft sind. Während der Dikta-
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tor in Berlin seinem Volk in hochtrabender, klischeebestimmter Rede ein goldenes Zeitalter versprach
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und noch in den finstersten Stunden die aufgehende Sonne beschwor, sprach Churchill von Elend, Bit-
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ternis und Not ... und dies in einer Sentenz, deren Struktur verrät, wie lange der Redner an ihr gearbei-
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tet hatte: vier einsilbige Wörter, die beiden Binnenbegriffe durch den Stabreim verbunden, toils and
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tears, die Außenglieder in einer scheinbar simplen, in Wahrheit von Raffinement und Kalkül bestimm-
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ten Technik aufeinander bezogen. Blood and sweat, derart zusammengefügt, daß hinter den Nomina
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das Verbum to sweat blood hindurchschien: Blut und Wasser schwitzen, sich abrackern bis zur Er-
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schöpfung. Pathos verbindet sich mit Prägnanz; die Formel bringt die Wahrheit durch das Stakkato
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jener blitzartig erhellenden Zuordnungen auf den Begriff, die Eleganz und Überzeugungskraft klassi-
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scher Parlamentsberedsamkeit definiert.
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Wahrheitsliebe, gepaart mit Spiritualität: So nimmt sich das Ideal jener demokratischen Beredsamkeit
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aus, wie sie, mit der ihm eigenen pathetischen Kargheit, Winston Churchill und, in ganz anderer
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Weise, Franklin Delano Roosevelt praktizierten – Roosevelt, der am Tag der Invasion, statt der Dik-
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tatoren eigenen martialischen Rhetorik, ein Gebet sprach, in dessen Zentrum die Überlegung stand,
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mit welchen Opfern der bevorstehende Kampf gegen das Deutschland Hitlers verknüpft sei. Viele, so
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Roosevelt, würden nicht mehr nach Hause zurückkehren, am Ende des Krieges – Gott möge ihnen
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gnädig sein. Mochte der eine, Churchill, das Parlament zu (übrigens genau und kühl vorausberechne-
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ten) Ovationen hinreißen und der andere, Roosevelt, im You-and-I-Plauderstil der Kaminansprachen
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den Mann auf der Straße zu überzeugen suchen: Beide, so fremd sie einander am Ende gegenüberstan-
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den, hatten eins gemeinsam – die Überzeugung, daß die drei Worte Demokratie, Wahrhaftigkeit und
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Redekunst zusammengehörten.
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Während Diktatoren die Wahrheit schminken und Beredsamkeit durch eine Agitation ersetzen, die,
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statt Argumente vorzutragen, auf die Macht, die Pistole, die Garrotte verweist, zeigt demokratische
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Beredsamkeit die Ambivalenz der Probleme, verdeutlicht das Dunkel, das neben dem Licht ist, und
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verweist auf die Kosten der Siege: Viele werden sterben, und in unzähligen Familien wird geweint
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werden, am Tag, da die Kirchenglocken zum Siegesfest läuten. [...]
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Die Wahrheit also – und zwar ungeschminkt – zu benennen, ist erste Pflicht der parlamentarischen
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Redner. Die zweite Aufgabe aber heißt: Für die Wahrheit Worte zu finden, klare Benennungen, prä-
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zise, aber gleichwohl phantasiebestimmte Formeln, individuelle Antworten, eigenständige Sentenzen,
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witzige Allegorien, geistreiche Aphorismen, Maximen, Lyrismen, Sentenzen ... was immer: wenn nur
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endlich Schluß mit jenem basic German ist, dem lumpigen Verschnitt, der dazu herhalten muß, die
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Provokationen von seiten der Außenwelt zu nivellieren.

Anmerkungen zum Autor:
Walter Jens (1923–2013) war Professor für klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen und dort Inhaber des ersten Lehrstuhls für Rhetorik, der in Deutschland seit 1829 eingerichtet wurde.
Aus: Jens, Walter: Über demokratische Beredsamkeit oder: Politik muß für Wahrheiten Worte finden. In: Die aufgeklärte Republik. Eine kritische Bilanz.
Hg. im Auftrag der Theodor-Heuss-Stiftung von Hildegard Hamm-Brücher und Norbert Schreiber. München: Bertelsmann Verlag 1989, S. 123–127.
Die Rechtschreibung der Materialien entspricht den jeweiligen Textvorlagen.

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