Vorschlag A
Einen Essay verfassen
Thema: Literatur und Politik Aufgabestellung:- An deiner Schule finden für die Oberstufe Projekttage zum Thema „Engagement hat viele Gesichter“ statt. Du widmest dich mit deinerm Deutschkurs dabei der Frage, ob Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihren literarischen Texten politisches Engagement zeigen sollten.
- Verfasse für das Begleitheft der Projekttage einen Essay, in dem du zu der strittigen Frage Stellung nimmst. Nutze für deine Argumentation die vorliegenden Materialien 1 bis 5 sowie deine Kenntnisse und Lektüreerfahrungen, gegebenenfalls auch zu Autorinnen und Autoren vergangener Epochen. Formuliere eine geeignete Überschrift.
(100 BE)
Material 1
Engagement oder Autonomie – Begriffsbestimmungen (2009)
Sophia Bender, Karin Spies, Linda Vogt
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Engagement oder Autonomie – diese Abgrenzung findet sich häufig, wenn der Rahmen von Literatur
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und ihre Aufgaben abgesteckt werden sollen. Im literarischen Diskurs bietet diese Kategorisierung im-
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mer wieder Zündstoff für angeregte Debatten. Antagonistisch stehen sich die Begriffe gegenüber, und
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damit die gegensätzlichen Meinungen über Kunst: Engagierte oder autonome Literatur, Tendenzdichtung
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oder l’art pour l’art, entweder Parteilichkeit oder reine Kunst. Wo hat sich der Künstler nieder-
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zulassen: in der Tagespolitik, im Elfenbeinturm? [...]
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Autonomie meint im Bereich der Kunst grundlegend die Unabhängigkeit und Freiheit von außerkünst-
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lerischen Zweckbestimmungen, sowohl in ihrer Produktion als auch im daraus entstehenden Werk.
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Grundlage für diese Kunstauffassung war eine Veränderung des Blickwinkels auf Literatur Mitte des
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18. Jahrhunderts, durch die Prinzipien wie Originalität und Genie als bestimmende Kategorien in den
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literarischen Diskurs Eingang fanden und zum ausschlaggebenden Faktor in deren Produktion avan-
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cierten. Die Forderung, Kunst vom reinen Nützlichkeitsdenken des Bürgertums frei zu machen [...],
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orientiert sich an Kants Begriffsbestimmung des Schönen als interessenlosen Wohlgefallen. [...] Im
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Rekurs auf Kant vereinnahmte Schiller das Konzept für sein Programm zur ästhetischen Erziehung, in
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der sich am Werk die große Idee zur Selbstbestimmung für den Rezipienten offenbaren sollte.
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Den Gegenbegriff der engagierten Literatur prägte Sartre. Allgemein bezieht sich der Begriff auf lite-
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rarische Texte von politischem oder sozialem Gehalt, die explizit gesellschaftliche Veränderungen als
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Ziel und Wirkung anvisieren, und meint also eine Literatur, die in erster Linie für politische Verände-
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rung eintritt. [...]
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Für die engagierte Literatur ist es aber essentiell, dass sie die außerliterarischen Themen im Gegensatz
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zur bloßen Tendenzdichtung mit den Mitteln der Literatur vorträgt und verficht. Das ästhetische Mo-
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ment und die künstlerische Gestaltung sind also nicht vollständig ausgeklammert, sondern spielen eine
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entscheidende Rolle. [...]
Aus: Sophia Bender, Karin Spies u. a. (2009): Engagement oder Autonomie – Begriffsbestimmungen, letzter Zugriff am 11.03.2021. Material 2 Interview mit Jonas Lüscher: Schriftsteller a. D. (2018) von Stephan Bader Seine Bücher gelten als „politisch“ – jetzt ist Jonas Lüscher einen Schritt weitergegangen: er ruft
zu einer europaweiten Demonstration gegen Nationalismus und Populismus auf. [...]
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Ihre Werke gelten ohnehin als „politisch“. Warum haben Sie für Ihren Protest nicht die Literatur
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gewählt? Kann Literatur doch zu wenig bewirken, oder sogar: nichts?
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[...] [P]olitische Romane zu schreiben, ist auch eine Art des Handelns. Aber natürlich viel weniger
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konkret als der gute alte Aktivismus, gemeinsam auf die Strasse zu gehen, der eben auch manchmal
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notwendig ist. Beides schliesst sich ja auch keineswegs aus – ich glaube absolut daran, dass man als
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Schriftsteller mit dem Schreiben etwas beiträgt.
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Vor allem Ihr Erstling „Frühling der Barbaren“ wird oft an Schulen besprochen, junge Menschen
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lesen ihn in einem prägenden Alter, er wird offenbar für geeignet gehalten, Schülern die richtigen
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Fragen zu einem komplexen gesellschaftlichen Phänomen an die Hand zu geben. Ist es das, was
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Sie mit „etwas beitragen“ meinen?
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Zum Beispiel. Ich bin auch häufig zu Lesungen an Schulen, und die Begegnungen dort zeigen mir,
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dass man mit Literatur durchaus etwas erreichen, bewirken kann. Man muss das aber auch relativieren.
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Wenn man in Deutschland 40 000 Exemplare eines Romans verkauft, gehört man schon zu den sehr
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Glücklichen. Ein „Tatort“ erreicht 10 Millionen Leute.
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[...] Worin liegt denn die Stärke von Geschichten, wenn es darum geht, ein kritisches Weltverständ-
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nis zu vermitteln und „etwas zu bewegen“? Was kann Literatur, das wissenschaftliche Texte, Akti-
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vistenaufrufe, Parteienslogans oder „Arena“-Debatten nicht können?
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Da gibt es diverse Stärken, angefangen bei der altbekannten „Education sentimentale“, dass man also
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den Kreis der Solidarität vergrössern kann. Wenn wir ein Buch, sagen wir, über Schwule lesen, wird
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uns im besten Fall klar, dass der, den wir vorher als einen der anderen gesehen haben, eigentlich einer
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von uns ist, weil er auf dieselbe Art und Weise Demütigung erfährt, leidet oder liebt. Dass einem also
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das Fremde näherrückt. Ein berühmtes Beispiel ist „Onkel Toms Hütte“, das zur Abschaffung der
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Sklaverei Wesentliches beigetragen hat. Oder „Germinal“ von Emile Zola, das für die Arbeiterbewe-
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gung eminent wichtig war, weil das Leiden der Arbeiter plötzlich im Bürgertum ankam, verstanden
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wurde. Gerade wissenschaftliche oder philosophische Texte funktionieren anders, sie laufen auf Ein-
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deutigkeit hinaus: Man will ein möglichst scharfes Argument haben oder eine Theorie, unter deren
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Dach möglichst viele Einzelfälle passen. Die Ambivalenz muss da eher ausgeblendet werden. In der
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Literatur kann man genau damit operieren: Ich brauche nie Eindeutigkeit, ich brauche nie Präzision –
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ich kann eben das Ambivalente, das Uneindeutige in vollem Umfang zulassen. So kommt auch der
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Einzelfall zu seinem Recht. [...]
Hinweis:
Jonas Lüscher (*1976) ist Schriftsteller. Aus: Stephan Bader: Schriftsteller a. D. Interview von Stephan Bader mit Jonas Lüscher, in: Literarischer Monat. Das Schweizer Literaturmagazin 34 (2018), letzter Zugriff am 11.03.2021. Material 3 Politische Literatur. Gegen die herrschende Klasse (2015) Interview: Ijoma Mangold Die Literatur mischt sich ein, wird wieder politisch und wehrt sich gegen die kleinen Lösungen
des Pragmatismus. Ein Gespräch mit Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow.
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DIE ZEIT: Die Literaturkritik verlangt ja gern, dass die Literatur politischer wird ...
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Ilija Trojanow: ... bis jemand einen politischen Roman schreibt, und dann heißt es sofort: Ah, dogma-
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tisch, überladen, Thesenroman und so weiter!
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Ulrich Peltzer: Es gibt das Bedürfnis der Literaturkritik und der Öffentlichkeit nach Welterklärung
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beziehungsweise nach Auffächerung von Erfahrungen, die man sonst nur aus den Medien kennt. An
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die Literatur wird eine Aufgabe delegiert, die möglicherweise nicht unbedingt eine genuin literarische
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Funktion ist.
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ZEIT: Hat die Literatur eine besondere Welterklärungskompetenz?
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Jenny Erpenbeck: Ich würde sagen: Weltanschauungskompetenz. Und zwar Weltanschauung im
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buchstäblichen Sinn des Anschauens der Welt. Wenn man schreibt, schaut man lange auf die Dinge,
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länger als andere Leute sich die Zeit nehmen können.
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ZEIT: Der Prototyp des politischen Schriftstellers war Émile Zola, der sich direkt in die
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Dreyfus-Affäre einmischte mit den berühmten Worten: „Ich klage an!“ Zola war interventionistisch.
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Peltzer: Das wäre die nächste Frage: Hat die Literatur eine interventionistische Aufgabe?
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Trojanow: Im Diskurs werden diese zwei Aspekte oft vermischt: Der Schriftsteller als gehörter Bür-
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ger mit gewichtiger Stimme und als Künstler.
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ZEIT: Und ich würde sagen: Es gab 1990 eine Zäsur. Bis dahin gehörte es zum Berufsbild des
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Schriftstellers, interventionistisch zu sein, Manifeste zu unterschreiben, im Wahlkampf mitzumischen.
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Und daran entstand dann ein Überdruss, an dem, was man seinerzeit „Gesinnungsästhetik“ genannt
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hat, und die Schriftsteller haben daraus die Konsequenz gezogen, auf dieser Bühne nicht mehr aufzu-
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treten.
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Erpenbeck: Für mich ist es nicht so, dass ich sage: „Ich möchte ein politisches Buch schreiben“ oder
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„Ich möchte ein historisches Buch schreiben“. Ich habe eigentlich immer beim Mikrokosmos angefan-
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gen und bin beim Makrokosmos angekommen, ohne dass ich mich dafür entschieden hätte. Ich finde,
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es ist vollkommen müßig, was von außen von Schriftstellern „verlangt“ wird! Das ist eine Sekundär-
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diskussion. Man schreibt über die Dinge, die einen beschäftigen, die einem widerfahren. Manche Au-
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toren neigen mehr dazu, im Privaten das Politische zu sehen, andere sind politischen Bewegungen
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mehr ausgesetzt, wieder andere ziehen sich ganz ins Private zurück. [...]
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ZEIT: Ihr neuer Roman, Frau Erpenbeck, könnte kaum näher dran sein an der aktuellen politischen
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Lage. Die Flüchtlingsfrage, von der Ihr Roman handelt, ist das zentrale politische Thema dieser Tage.
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Was bedeutet das für Ihr Schreiben?
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Erpenbeck: Das bedeutet für das Schreiben, dass man für die Recherche mit Menschen sprechen kann
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und nicht Autobiografien lesen muss, dass man viel weniger in Archiven sitzt, sondern sich mehr
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draußen auf der Straße bewegt – aber in 50 Jahren ist unsere Gegenwart auch Vergangenheit. In mei-
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ner Familiengeschichte ist das Thema Flucht immer präsent gewesen, und ich kann mich deshalb viel-
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leicht zu gut in die Lage von Menschen versetzen, die einen radikalen Schnitt in ihrem Leben erfahren.
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Ich wollte wissen, was das für Menschen waren, bevor sie Flüchtlinge geworden sind, denn „Flücht-
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ling“ ist kein Beruf. Mich haben der Alltag und die Normalität, die es vor der Flucht gab, interessiert.
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Und was heißt es, wenn nach der Flucht dann nichts anderes an die Stelle dessen tritt, was verloren ge-
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gangen ist. So viele Menschen sterben bei den Überfahrten auf der Flucht. Und die, die hier ankom-
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men, sind oft nur zufällig die, die überlebt haben, sind genau solche Menschen wie die, deren Tod wir
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in den Nachrichten täglich zur Kenntnis nehmen. Sind Menschen, die aus ganz verschiedenen Grün-
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den fliehen mussten und aus ganz verschiedenen Ländern kommen. Sobald man mit Einzelnen spricht,
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versteht man: Das Politische spiegelt sich in einem ganz konkreten Leben wider.
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ZEIT: Wenn man Ihren Roman liest, wird man stark in die Identifikation mit den Figuren gezogen.
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Gleichzeitig geht von Ihrem Buch auch ein politisches Statement aus. Simpel gesprochen: Gegen
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Dublin II beziehungsweise Dublin III, gegen ein Grenzregime, das sich vor den Flüchtlingsströmen
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abriegelt. Kann man Sie festnageln auf die Forderung: Macht die Grenzen auf?
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Erpenbeck: Ja, zum Beispiel. Warum nicht? [...]
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Trojanow: Mal angenommen, die Leser gehen aus dem Roman heraus mit der Vorstellung, alle Gren-
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zen zu öffnen, dann ist ja nichts Schlechtes daran. Denn das ist ja eine der Urfunktionen von Literatur,
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Gegenentwürfe zu präsentieren. Eine Realität zu imaginieren, die sich unterscheidet von der vermeint-
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lichen Evidenz der herrschenden Verhältnisse. Die Frage ist nur, ob die Erzähltechniken, die reflexi-
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ven Ebenen und die zwingend erzählten Biografien die Leser überzeugen von diesem Entwurf. [...]
Hinweis:
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist Schriftstellerin. Ulrich Peltzer, geboren 1956 in Krefeld, und Ilija Trojanow,
geboren 1965 in Sofia (Bulgarien), sind Schriftsteller. Aus: Ijoma Mangold: Politische Literatur: Gegen die herrschende Klasse. Interview von Ijoma Mangold mit Jenny
Erpenbeck, Ilija Trojanow und Ulrich Peltzer, in: Die Zeit 41 (2015). Material 4 Über engagierte Literatur (2015) Harald Martenstein
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Sie fragen nach der engagierten Literatur? Ob es die wieder in stärkerem Maße geben sollte? Da frage
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ich zurück: Wozu soll das gut sein? Was soll das bewirken? Vorbilder, nach denen andere Menschen
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sich in größerer Zahl eventuell richten, arbeiten heutzutage fürs Fernsehen, fürs Kino, oder im Musik-
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business. Wer engagierte Literatur schreibt, ist ein eitler Fratz, der sich überschätzt. Der will sich vor
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den Spiegel stellen, sich selbstverliebt übers Haar streichen und sagen: „Schaut her, ein engagierter
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Autor. Je suis Sartre.“ [...]
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Um mich engagieren zu können, müsste ich mir meiner eigenen Meinung sicher sein und Antworten
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besitzen, kurz, ich müsste das Gegenteil eines interessanten Autors sein. Ich schreibe einen Roman,
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wenn ich eine Frage habe, auf die ich keine Antwort weiß. Deshalb erzähle ich eine Geschichte, um
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dabei selbst klüger zu werden, um zu suchen und nicht, um anderen etwas beizubringen. Ich bin nicht
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Jesus, I am only the piano player. Wenn ein Buch uneindeutig ist, wenn es mehrere Sichtweisen zu-
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lässt, wenn es mich an meinen wackligen Ansichten zweifeln lässt, wenn ich über die Guten wütend
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werde und um die Bösen weine, wenn ich mich im Kopf eines Menschen befinde, der ein bisschen an-
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ders tickt als ich, dann ist es für mich ein gutes Buch. [...]
Anmerkungen zum Autor:
Harald Martenstein (*1953) ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist. Aus: Harald Martenstein: Über engagierte Literatur, in: Zeitmagazin 42 (2015). Material 5 Mein Kerngeschäft besteht aus Nichtstun (2015) Peter Stamm
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[...] Pragmatiker mögen sagen, auch ein Buch sei Teil der Welt, unterhalte, beglücke, belehre die
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Menschen. So leicht lassen wir uns nicht täuschen. Der Produktcharakter des Buches ist für den Ver-
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lag, für den Handel, sogar für den Autor als wirtschaftliches Subjekt von Bedeutung, aber kein ernst-
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hafter Autor denkt während des Schreibens daran. So sehr die Leserinnen und Leser unsere Texte lie-
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ben mögen – es bleibt, Literatur hat keinen Zweck, keine Funktion im Räderwerk der Welt. [...] Wie
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aber gehen wir mit dem Wissen um unsere Bedeutungslosigkeit um? Die einen flüchten sich in die
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Selbststilisierung, werden zu Schriftsteller-Darstellern, zu Schwierigen, Unnahbaren, Zerknirschten;
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zu Aussenseitern halt, von denen ohnehin niemand etwas erwartet und deren Leiden ihre Unprodukti-
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vität rechtfertigen soll. Andere schreiben so dicke Bücher, dass man gar nicht anders kann, als ihren
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Fleiss und ihre Ausdauer zu bewundern. [...]. Eine dritte Taktik ist das Auftrumpfen mit ausserliterari-
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schen Leistungen. [...]. Aber Hand aufs Herz: Wann haben Sie zum letzten Mal einen wirklich erhel-
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lenden, politischen Essay von einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerin gelesen? Ich meine ei-
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nen, der uns nicht einfach mit schönen Worten das erzählt, was sowieso alle anständigen Menschen
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denken. [...]
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Weshalb auch sollten ausgerechnet Schriftsteller, die sich einen guten Teil ihrer Zeit in fiktiven Wel-
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ten bewegen, dazu berufen sein, die Realität zu analysieren? Es gibt eine Wahrheit in der Literatur, die
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tiefer geht als jede Essayistik. Sie entsteht dann, wenn der Text – wie Lichtenberg einmal sinngemäss
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sagte – klüger ist als sein Autor. Schriftsteller sind keine Intellektuellen per se, sie sind Künstler,
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Gaukler, Zauberer, wie Thomas Mann von seinen Kindern genannt wurde. Politisch sind sie – wenn
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sie sich nicht im Mainstream treiben lassen – nur zu oft naiv. Wer will sich noch an die politischen
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Äusserungen von Ezra Pound, Knut Hamsun, dem alten Günter Grass, Gottfried Benn und von vielen
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anderen erinnern? So verdiente Autoren wie Gerhart Hauptmann, Robert Musil, Thomas Mann und
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selbst Stefan Zweig begrüssten freudig den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, auch wenn manche sich
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später nicht mehr daran erinnern mochten. [...] Es darf nicht sein, dass wir versuchen, das Geschrei
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der SVP-Plakate mit noch lauterem Geschrei zu übertönen. Literatur ist das Gegenteil von Polemik.
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Literatur befreit die Sprache, Polemik missbraucht und beschädigt sie. [...]
Anmerkungen zum Autor:
Peter Stamm (*1963) ist Schriftsteller. Aus: Peter Stamm: Mein Kerngeschäft besteht aus Nichtstun. Eröffnungsrede des Bücherfestivals „Zürich liest“,
in: Tages-Anzeiger (22. Oktober 2015), letzter Zugriff am 11.03.2021.
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- Sind ein künstlerischer und sozialpolitischer Ansatz aus Autorensicht miteinander vereinbar?
Einleitung
- Heranführung ans Thema: Diskussion, ob Schriftsteller*innen ihrem politischen Engagement in ihren Texten Ausdruck verleihen sollen/dürfen?
- Differenzierung der Begriffe Engagement und Autonomie (M 1), wobei dem Wort Engagement eine politische Bedeutung und Autonomie wiederum künstlerische Freiheit, „Unabhängigkeit und Freiheit von außerkünstlerischen Zweckbestimmungen“ (Z. 7 f.) zugesprochen werden.
Hauptteil
- Der autonome Kunstbegriff änderte sich um 1800 herum, als Autoren plötzlich dazu angehalten wurden, sich zu emanzipieren von den alten Schriftstelleridealen. Ziel war das „Freimachen vom Nützlichkeitsdenken des Bürgertums“ (Z. 12), was unter anderen auch Kant befürwortete. Auch Schiller, der die ästhetische Erziehung (Z. 14) etablierte sprach sich ebenfalls für ein selbstbestimmtes Autorenbild, welches politisch ungebunden sein sollte, aus (M 1).
- Die „engagierte Literatur“ (Z. 16) wiederum wurde von Sartre geprägt, wobei sich der Charakter engagierter Texte darüber definiert, dass es sich um Geschriebenes mit „politischen oder sozialem Gehalt“ (Z. 17) handelt. Doch auch in der engagierten Literatur findet der ästhetische Ansatz Schillers seine Daseinsberechtigung. Für das Aufarbeiten politischer Themen ziehen engagierte Schriftsteller unbedingt literarische sowie rhetorische Methoden hinzu, um den Standpunkt ihrer Inhalte zu akzentuieren (M 1).
- Der Schriftsteller Stefan Bader konstatiert, politischer Aktivismus in der Literaturwelt würde verhältnismäßig geringes Verbreitungspotenzial bergen, wenn man vergleichweise das Fernsehen, Radio etc. ansieht. Dennoch ist es Bader wichtig, etwas „beizutragen“ (Z. 6) (M 2).
- Baders Meinung nach besitzt Literatur die einzigartige Fähigkeit (siehe „Education sentimentale“ (Z. 18)), Empathie und Akzeptanz gegenüber Themen, Menschen und Dingen hervorzurufen, indem Leser*innen ganz in die Welt des Lesens abtauchen. Exemplarisch nennt er in diesem Zuge Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher Stowe, was sensibilisiert, wenn es um das Thema Sklaverei geht (M 2).
- Wiederum im Interview mit der Zeit unterhalten sich Iljoma Mangold, Ulrich Peltzer & Jenny Erpenbeck darüber, dass Literatur gewissermaßen eine „Weltanschauungskompetenz“ (Z. 9) anhaftet. Auch wird die Frage aufgeworfen, ob Literatur eine interventionistische Aufgabe (siehe „Gesinnungsästhetik“ (Z. 19) zufalle (M 2)?
- Erpenbeck argumentiert, man würde sich nicht bewusst vorm Schreibprozess eines Werks dazu entscheiden, einen politischen Ansatz zu wählen, oder nicht. Sie differenziert hier in die beiden unterschiedlichen Ausgangslagen des „Mikro- und Makrokosmos'“ (Z. 23 f.). Erpenbeck selbst besitzt bspw. eine persönliche, familiäre Bindung zum Thema Flucht und setzt sich infolgedessen auf der Mikroebene mit dem Thema auseinander (M 3).
- Den vorangegangen Pro-Positionen zum Thema Vereinbarkeit von Politik und Literatur folgt Harald Martensteins polarisierende Aussage: engangierte Schriftsteller seien nichts als „eitle[...] Fratz[en], die sich [selbst] überschätz[en]“ (Z. 4) (M 4).
- Literarisch engagiert zu sein, bedeutet für Martenstein nichts Geringeres, als „das Gegenteil eines interessanten Autors [zu] sein“ (Z. 8), da es für ihn impliziert, dass solche Autor*innen sich bereits für allwissend halten (vgl. Z. 7) (M 4).
- In seiner Eröffnungsrede beim Bücherfestival Zürich liest 2015 mit dem provokanten Titel Mein Kerngeschäft besteht aus Nichtstun versieht, wirft Peter Stamm in den Raum, „Literatur [besitze] keinen Zweck“ (Z. 5). Er spricht von der „Bedeutungslosigkeit“ (Z. 6) von Schriftstellern, wobei er sich selbst nicht ausschließt (M 5).
- Stamm zweifelt die Authentizität von Literaten an, da sie „politisch zu naiv“ (Z. 19 f.) seien und konstatiert als einzigen Wahrheitsmoment in der Literatur den Augenblick an, „wenn der Text [...] klüger ist als sein Autor“ (Z. 17 f.) (M 5).
- „Literatur ist [für Stamm] das Gegenteil von Polemik“ (Z. 25), sodass polemisch gefärbte engagierte Literatur nicht mit Literatur vereinbar ist. „Literatur befreit Sprache“ (Z. 26), so Stamm, während „Polemik [sie] missbraucht und schädigt“ (Z. 26) (M 5).
Schluss
- Die Diskussion um das politische Engagement von Schriftsteller*innen in ihren Werken verdeutlicht die Spannung zwischen ästhetischer Autonomie und gesellschaftlicher Verantwortung.
- Während Befürworter die einzigartige Fähigkeit der Literatur zur Empathie hervorheben, sehen Kritiker das Engagement als Selbstüberschätzung an und bezweifeln die Authentizität engagierter Schriftsteller.
- Letztendlich bleibt die Frage offen, ob Literatur eine interventionistische Aufgabe hat oder primär der Sprachbefreiung dient.