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Vorschlag D

Materialgestütztes Schreiben eines argumentierenden Textes (Kommentar)

Thema:
Journalismus und Unvoreingenommenheit
Aufgabenstellung:
  • An deiner Schule findet eine Projektwoche zum Thema „Medien im Wandel“ statt.
  • Im Rahmen der Projektwoche setzt du dich in deinem Deutsch-Kurs mit dem Selbstverständnis von Journalistinnen und Journalisten auseinander.
  • Verfasse für das Begleitheft der Projekttage einen Kommentar, in dem du zu der Frage Stellung nimmst, inwiefern Journalistinnen und Journalisten in ihrer Arbeit unvoreingenommen sein sollten.
  • Nutze dazu die folgenden Materialien 1 bis 8 und beziehe unterrichtliches Wissen und eigene Erfahrungen ein. Formuliere eine geeignete Überschrift.
  • Verweise auf die Materialien erfolgen unter Angabe des Namens der Autorin bzw. des Autors und ggf. des Titels.
  • Dein Kommentar sollte etwa 1200 Wörter umfassen.
(100 BE)
Material 1
Journalistik (2013)
Klaus Meier
1
[...] Zu den Kernaufgaben des Journalismus gehört die Information. Der Journalismus soll so voll-
2
ständig und sachlich wie möglich informieren, damit wir uns über das politische und wirtschaftliche
3
Geschehen ein sinnvolles Bild machen können. Journalismus sollte ein „Frühwarmsystem“ der Gesell-
4
schaft sein und die Aufmerksamkeit auf zentrale Themen und Ereignisse lenken, damit gemeinsame
5
Diskussionen über gesellschaftliche Probleme geführt werden können. Gleichzeitig sollte eine mög-
6
lichst große Themen- und Meinungsvielfalt geboten werden.
7
Weitere Aufgaben sind Kritik und Kontrolle. Die moderne Demokratie ist gekennzeichnet durch ein
8
System der „checks and balances“ („Kontrolle und Gegengewichte“). Man spricht von „Gewaltentei-
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lung“ - sinnvoller ist aber der Begriff „Macht“, weil in der Demokratie ja in den wenigsten Fällen
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physische Gewalt ausgeübt wird. Die staatliche Macht ist auf mehrere Schultern verteilt; die Mächte
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kontrollieren sich gegenseitig. Die drei staatlichen Mächte Exekutive, Legislative und Judikative wer-
12
den durch die „vierte Macht“ Journalismus kritisiert und kontrolliert. Missstände, Fehlentscheidungen,
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Korruption oder bürokratische Willkür sollen aufgedeckt werden.
14
Durch Information, Kritik und Kontrolle wirkt der Journalismus an der Meinungsbildung mit.
15
Die redaktionelle Unabhängigkeit gilt als wesentliches Merkmal journalistischer Professionalität.
16
Journalisten können ihre öffentliche Aufgabe nur erfüllen, wenn sie unabhängig von privaten oder ge-
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schäftlichen Interessen Dritter und von persönlichen wirtschaftlichen Interessen arbeiten. [...]

Anmerkungen zum Autor:
Klaus Meier (* 1968) ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler. Er bekleidet eine Professur für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Aus: Meier, Klaus: Journalistik. Konstanz und München: 3. Aufl. 2013, S. 16.
Material 2
Das magische Vieleck der journalistischen Qualität (2011)
Stephan Ruß-Mohl
deutsch sachsen lk 2024 material 2

Anmerkung zum Autor:
Stephan Ruß-Mohl (* 1950) ist Medienwissenschaftler.
Aus: Ruß-Mohl, Stephan: Von der Qualitätssicherung zur Qualitätskultur (11.01.2011) (Zugriff: 24.02.2023)
Material 3
Tom Buhrow und Joachim Knuth zur Frage, warum Hanns Joachim Friedrichs zum Namensgeber des gleichnamigen Preises wurde
Tom Buhrow und Joachim Knuth
1
Es gibt einen berühmten Satz von Hanns Joachim Friedrichs, der zu seinem Vermächtnis geworden
2
ist: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache,
3
auch nicht mit einer guten Sache“. Dieser Satz wird an Universitäten, Journalistenschulen und im Vo-
4
lontariat gelehrt, er ist für viele Journalistinnen und Journalisten zum Leitbild geworden. Hanns
5
Joachim Friedrichs hat ihn in seinen Anfangsjahren als Journalist bei der BBC gelernt. Und noch einen
6
zweiten Satz hat er bei der BBC verinnerlicht, wie er in seinem letzten großen SPIEGEL-Interview
7
offenbarte: „to inform and to enlighten“, zu informieren und aufzuklären. Dieses Verständnis, so
8
Friedrichs, habe ihn vor allerlei Dummheiten geschützt.
9
Aus beiden Sätzen sprechen Friedrichs’ Haltung und Anspruch: Die Haltung, sich auf die Kernaufga-
10
ben des Journalismus zu besinnen, auf Information, Kritik und Kontrolle. Und der Anspruch, unabhän-
11
gig und unvoreingenommen über die Dinge zu berichten, den Zuschauerinnen und Zuschauern das
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vollständige Bild zu zeigen und ihnen so die Chance zu bieten, sich ihr eigenes Urteil zu bilden. [...]

Anmerkungen zu den Autoren:
Thomas „Tom“ Buhrow (* 1958) ist Journalist. Er ist seit 2013 Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR), Joachim Knuth (* 1959) ist ebenfalls Journalist und seit 2020 Intendant des Norddeutschen Rundfunks (NDR).
Aus: Buhrow, Tom; Knuth, Joachim: Tom Buhrow und Joachim Knuth über den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis (o. J.) (Zugriff: 06.02.2022)
Material 4
Im Bann der Algorithmen. Öffentlich-rechtlicher Journalismus in sozialen Netzwerken (2022)
Henning Eichler
1
[...] Die Beitragszahlenden haben ein Recht auf Versorgung mit journalistischen Qualitätsinhalten,
2
und wer relevant sein will, braucht Reichweite. Der frühere Intendant von Radio Bremen Jan Metzger
3
forderte 2017 in einem Positionspapier: „If you can’t beat them, join them.“ Tanja Hüther, Leiterin
4
des ARD-Distributionsboards, sagte kürzlich dem „Tagesspiegel“, sie halte die plattformgerechte Ver-
5
breitung von Inhalten über soziale Netzwerke für „alternativlos“.
6
So hat sich ein innovatives Feld der journalistischen Produktion und Distribution etabliert, das schnell
7
wächst. Allen voran das junge Content-Netzwerk Funk von ARD und ZDF mit seiner strategischen
8
Ausrichtung auf die sozialen Netzwerke. Einige dieser Angebote erzielen beachtliche Reichweiten in
9
den erwünschten Zielgruppen. Das Reportage-Format „Y-Kollektiv“ beispielsweise hatte Anfang des
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Jahres mehr als eine Million Abonnenten in seinem Youtube-Kanal, ähnlich viele Follower hat nach
11
Angaben der ARD der Tiktok-Kanal der „Tagesschau“. Auch abseits von Funk steigen die Zahlen: Im
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Jahr 2021 wurden Social-Media-Videos der ARD nach Angaben des Senderverbunds auf Facebook
13
und Youtube rund 8,3 Milliarden mal gestreamt.
14
Mit der Strategie, Journalismus für soziale Netzwerke zu produzieren, handeln sich öffentlich-rechtli-
15
che Anbieter jedoch einen Konflikt ein: Der Anspruch, journalistische Qualität, die den Kriterien von
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Public Value entspricht, in sozialen Netzwerken umzusetzen und auch in der Verbreitung zu gewähr-
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leisten, trifft auf Algorithmen, die emotionale, polarisierende, kurze Inhalte bevorzugen. Komplexe,
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tiefgründige oder ausgewogene Inhalte geraten so ins Hintertreffen. Dass die Empfehlungssysteme so
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funktionieren, zeigen übereinstimmende Studien zu den Plattformen. Journalistische Werteorientie-
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rung prallt also auf die Gesetze der Plattformökonomie, die zum Ziel hat, Daten einzusammeln, zu
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verwerten und personalisierte Werbung zu verkaufen. [...]
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Mögliche Folge: Wenn bestimmte Themen auf einer Plattform nicht „funktionieren“, also die quantita-
23
tiven Ziele nicht erreichen, werden sie dort nicht mehr angeboten. So berichtet eine Redaktion, dass
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sie komplexere Themen wie den Wirecard-Skandal nicht mehr für Facebook aufbereitet, eine andere
25
Redaktion musste feststellen, dass Tiktok-Nutzer:innen mit Umweltthemen kaum zu erreichen sind.
26
„Wenn wir trotz einer Regelmäßigkeit sehen, dass das Interesse nicht da ist, wissen wir, dass es nicht
27
funktioniert, und dann machen wir es nicht mehr“, berichtet ein Befragter in meiner Studie. Konse-
28
quenterweise stecken die befragten Redaktionen mehr Ressourcen in Themen, die hohe Reichweiten
29
versprechen. Unklar bleibt, wie belastbar, vollständig und zuverlässig die Daten der Plattformen als
30
Grundlage für solche Entscheidungen überhaupt sind. [...]
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Auch durch das automatisierte Löschen von Inhalten, die sogenannte Content-Moderation, sind Medi-
32
enanbieter in der Distribution von den Entscheidungen der Plattformen abhängig. Wenn zum Beispiel
33
Instagram journalistische Kriegsberichterstattung löscht, weil darin Gewalt dargestellt wird, dann ist
34
das eine Entscheidung der künstlichen Intelligenz, die als Fehler bezeichnet werden kann, weil sie
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nicht im Sinne der Meinungsvielfalt ist. [...]
36
Im erwähnten Interview mit dem „Tagesspiegel“ räumte beispielsweise Tanja Hüther ein: „Worauf wir
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allerdings keinen Einfluss haben, sind die Empfehlungslogiken der Algorithmen. Welcher Inhalt wann
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an welche Nutzer:in ausgespielt wird und in welchen Kontext einzelne Beiträge eingebettet werden,
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liegt in der Kontrolle der Plattform. Das ist die größere Bedrohung für ausgewogene Meinungsbildung
40
und Berichterstattung.“ [...]

Anmerkungen zum Autor:
Henning Eichler ist Hörfunkjournalist, Redakteur und Autor beim Hessischen Rundfunk.
Aus: Eichler, Henning: Journalismus in sozialen Netzwerken. Im Bann der Algorithmen. (Zugriff: 11.07.2024)
Material 5
Ja, Journalismus sollte immer neutral sein (2020)
Thore Barfuss
1
Absolute Neutralität gibt es nicht. Viel zu lange haben Medien und Journalisten den falschen Eindruck
2
erweckt, sie würden nur „sagen, was ist“. Damit haben sie ihren Teil zum sinkenden Vertrauen in die
3
Presse beigetragen. Denn zur Wahrheit (noch so ein schwieriger Begriff) gehört, dass der Streit um Er-
4
kenntnis so komplex ist wie die Welt selbst.
5
Medien sollten versuchen, neutral zu berichten – und sie sollten transparent machen, wenn ihnen das
6
nicht gelungen ist. Denn anders als früher versenden sich Fehler nicht mehr oder werden mit der Zei-
7
tung von gestern weggeworfen. „Der Leser hat kein Archiv“, war ein beliebter Spruch unter Printjour-
8
nalisten. Das stimmte lange. Aber das Internet hat eines.
9
Auf den daraus resultierenden Vertrauensverlust reagieren immer mehr Journalisten, indem sie be-
10
wusst Haltung zeigen. Frei nach dem Motto: Wenn meinen Berichten eh keiner mehr Glauben schenkt,
11
kann ich auch gleich meine Meinung sagen. Gerade nach der Ermordung des Afroamerikaners George
12
Floyd kam auch in Deutschland die Forderung auf, das Neutralitätsgebot der Medien aufzuheben und
13
sich der vermeintlich guten Sache zu verschreiben. Neutralität könne es gerade in diesem Fall nicht
14
geben.
15
Wie falsch diese Forderung ist, zeigt eine aktuelle Studie des Reuters Institute: 80 Prozent der Deut-
16
schen wünschen sich „neutrale“ Nachrichten, gerade einmal 15 Prozent wollen Medien, die Berichte
17
nach ihrer Meinung verfassen. Das Ideal, sich seine Meinung selbst zu bilden, ist in Deutschland mehr
18
verbreitet als in allen anderen neun untersuchten Ländern. Das sollten Journalisten hierzulande mit
19
Freude zur Kenntnis nehmen.
20
Denn in den USA wünschen sich bereits 30 Prozent Nachrichten, die der eigenen Meinung entspre-
21
chen. Wie fatal das ist, zeigt ein Blick auf die dortige Medienlandschaft. Sie ist – auch wegen des dua-
22
len Parteiensystems – so stark polarisiert, dass zwei Lager in scheinbar unterschiedlichen Realitäten
23
agieren. Was auf Fox News als Wahrheit berichtet wird, sieht auf CNN ganz anders aus. Wenn aber
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jeder seine eigene „Wahrheit“ hat, dann verschwindet das Ringen um Fakten.
25
Obwohl es keine absolute Neutralität geben kann, existiert eine intersubjektive Objektivität, eine ge-
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meinsame Wissensgrundlage. Die Erde dreht sich um die Sonne. Der deutsche Nationalsozialismus hat
27
Millionen von Juden ermordet. Der aktuelle Präsident der USA heißt Donald Trump. Und im besten
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Fall: Journalismus sollte immer neutral sein.

Anmerkung zum Autor:
Thore Barfuss (* 1986) arbeitet als Journalist für die Tageszeitung „Die Welt“.
Aus: Barfuss, Thore: Ja, Journalismus sollte immer neutral sein. (16.06.2020) Baden-Baden: Nomos 2021, S. 94 (Zugriff: 06.02.2022)
Material 6
Journalismus. Eine praktische Einführung (2021)
Janis Brinkmann
1
[...] Beispiel: Journalistische Berichterstattungsmuster in der Thematik „Flüchtlinge“
2
Dass sich je nach Berichterstattungsmuster nicht nur die Perspektive auf ein Thema, sondern auch die
3
geeignete Darstellungsform ändern kann, zeigt das folgende Beispiel: Über die damals zunehmende
4
Einwanderung von geflüchteten Menschen nach Deutschland konnten Journalisten aus sehr unter-
5
schiedlichen Rollen berichten: Während sachlich formulierte Nachrichten wie „34 Flüchtlinge verdurs-
6
ten auf dem Weg durch die Sahara“ (Süddeutsche Zeitung) für „objektiven“, neutral vermittelnden
7
Nachrichtenjournalismus standen, bildeten Reportagen wie „Wenn man Flüchtling ist, bleibt das Le-
8
ben stehen“ (Thüringer Allgemeine) die Wirklichkeit syrischer Flüchtlinge in Jordanien emotional ab,
9
sensibilisierten auf diese Weise für die katastrophalen Umstände – und nahmen dadurch die Rolle des
10
Erzählers oder Anwalts ein. Beiträge wie „Wo bringt Bayern die Flüchtlinge unter?“ (Bayerischer
11
Rundfunk) analysierten Datensätze und erklärten dem Publikum mit Grafiken, wie sich die Geflüchte-
12
ten im Freistaat verteilten. Report Mainz berichtete hingegen über den „Rechtsbruch an der EU-Au-
13
ßengrenze“, indem Reporter investigativ recherchierten, um zu belegen, dass Griechenlands Küsten-
14
wache offenbar Flüchtlinge auf Rettungsinseln im Mittelmeer aussetzte – und damit einen massiven
15
Missstand öffentlich machten. Journalisten betätigten sich ebenso als Ratgeber in lebenspraktischen
16
Fragen („Flüchtlinge in Sporthallen: Was passiert, wenn die Schule wieder beginnt“; Stuttgarter Zei-
17
tung) oder ließen wie Focus Online in Umfragen Bürger zu vermeintlichen Problemen zu Wort kom-
18
men („Flüchtlinge zu Hause aufnehmen? Das denken die Deutschen wirklich darüber“).
19
Die verschiedenen journalistischen Genres, Rollenbilder und Intentionen beeinflussen, wie Journalis-
20
ten die Wirklichkeit konstruieren: „Ein Nachrichtenredakteur im Informationsjournalismus verfolgt
21
mit seiner Berichterstattung andere Interessen als ein Boulevardreporter im Populären Journalismus –
22
dementsprechend unterschiedlich fallen ihre Selektionen und Beschreibungen von Ereignissen aus.“
23
Hier wird das „Objektivitätsproblem“ des Journalismus erneut praktisch deutlich: Journalistische Be-
24
richterstattung kann angesichts konkurrierender Perspektiven die Wirklichkeit nicht objektiv zeigen,
25
sondern im besten Fall so beschreiben, dass das Publikum den Konstruktionsprozess nachvollziehen„Ein Nachrichtenredakteur
26
kann. Daher sind journalistische Schemata wie Faktoren zur Nachrichtenauswahl oder Darstellungs-
27
formen zur Bewertung von Journalismus von ebenso zentraler Bedeutung wie Qualitätskriterien für
28
journalistische Arbeit und Beiträge. [...]

Anmerkungen zum Autor:
Janis Brinkmann ist Professor für Publizistik in der digitalen Informationswirtschaft und lehrt in der Studienvertiefung „Digital Media and Journalism“ an der Hochschule Mittweida.
Aus: Brinkmann, Janis: Journalismus. Eine praktische Einführung. Baden-Baden: Nomos 2021, S. 94.
Material 7
Journalismus in der Klimakrise – Einmischen, aber richtig (2022)
Christopher Schrader
1
[...] Für viele Journalist:innen [...] gehört es gerade nicht zur Jobbeschreibung, ein Ziel jenseits ihrer
2
Berichterstattung zu haben oder „Teil“ von irgendwas zu sein, nicht einmal von „der Lösung“. Sie
3
wollen nicht in den Verdacht geraten, sich „mit irgendeiner Sache gemein zu machen“ – um ein oft
4
missverstandenes Motto des Grandseigneurs der ARD-Tagesthemen, Hanns Joachim Friedrichs, zu
5
zitieren. Ihr Selbstverständnis verlangt meist „objektive“ Berichterstattung und größtmögliche „Neut-
6
ralität“ (die auch im Publikum viele Menschen erwarten). „Aktivistisch“ zu sein, ist da eine schwer-
7
wiegende Kritik. [...]
8
Fangen wir an mit den Praktiken des real existierenden Journalismus, die wir abstellen sollten, weil sie
9
zu erkennbar unerwünschten Resultaten führen. Das erste Beispiel ist die sogenannte False Balance,
10
die zum Beispiel der Hamburger Kommunikationsforscher Michael Brüggemann erkundet hat. Sie ist
11
oft eine Folge einer Regel, die im Politikjournalismus verbreitet ist: zu jeder Aussage auch eine Ge-
12
genstimme einzuholen. Berichtet man über politische Kontroversen, ist dies sinnvoll und notwendig –
13
aber in der Berichterstattung über den Klimawandel als wissenschaftliches Phänomen wird diese Re-
14
gel nicht nur sinnlos, sondern schädlich: Zu einer wissenschaftlich gesicherten Aussage, etwa über die
15
Ursachen des Klimawandels, gibt es keine ebenso fundierte Gegenmeinung. Anders als in der Politik
16
oder bei weltanschaulichen Fragen gibt es bei wissenschaftlichen Kontroversen sehr oft ein objektives
17
„Richtig“ oder „Falsch“. [...]
18
Dieser Streit über die Ausgestaltung der nötigen Transformation befreit viele Journalist:innen quer
19
durch alle Ressorts aus einer Zwickmühle. Auch sie könnten so in ihrer Arbeit dazu beitragen, dass
20
diese Gesellschaft den Weg aus der Klimakrise findet – und es weiterhin von sich weisen, irgendwie
21
Partei zu ergreifen. Sie müssen dazu wie gehabt die politische und gesellschaftliche Debatte sortieren
22
und die benutzten Argumente einordnen. Dazu sollte eine Orientierung auf die Zukunft sowie stets die
23
Prüfung gehören, ob die jeweils vertretenen Vorschläge wirklich zu dem Niveau an Emissionsminde-
24
rung führen können, das laut Pariser Abkommen und deutscher Klimagesetze und Gerichtsbeschlüsse
25
notwendig ist. Darauf zu achten, bedeutet keine Parteinahme, ist kein Aktivismus, sondern eine rele-
26
vante Information für die Leserschaft, die Zuschauer und Zuhörerinnen.

Anmerkungen zum Autor:
Christopher Schrader (* 1962) ist Wissenschaftsjournalist und Autor.
Aus: Schrader, Christopher: Journalismus in der Klimakrise - Einmischen, aber richtig. (30.06.2022) (Zugriff: 10.10.2022)
Material 8
Warum Journalismus Neutralität braucht – und was sich trotzdem ändern muss (2020)
Tatjana Heid
1
[...] Neutralität im Journalismus gibt es nicht und hat es nie gegeben. Schon allein Auswahl und Auf-
2
bereitung einer Nachricht spiegelt die Meinung des Journalisten oder der Journalistin dahinter wider.
3
Und doch sollte es das oberste Ziel jedes Medienschaffenden sein, so unvoreingenommen wie möglich
4
zu berichten.
5
Das ist gerade heute so wichtig, weil die westlichen Gesellschaften immer mehr zerfallen. Meinungs-
6
blöcke stehen gegen Meinungsblöcke, das Klima ist unversöhnlich. Etablierten Medien wird zum Teil
7
hasserfüllt begegnet, immer begleitet von dem Verdacht, dass sie die Wahrheit verschweigen und mit
8
Politikern unter einer Decke stecken. An diesem Verdacht tragen wir Medien Mitschuld: Durch ein
9
Zuviel an immer gleicher Meinung. Durch unsaubere Trennung von Nachricht und Meinung, die es
10
leicht macht, eine hidden agenda zu vermuten. Do-it-yourself-Medien wie Facebook und Twitter för-
11
dern zusätzlich die Komfortzone der eigenen Meinung.
12
Doch diese Komfortzone müssen wir Journalisten und Journalistinnen aufbrechen, indem wir so neut-
13
ral wie möglich berichten. Es ist unsere Aufgabe, Leserinnen, Zuschauern oder Zuhörerinnen die
14
Möglichkeit zu geben, eine eigene Meinung zu bilden. Ihnen zu zeigen, wofür in den USA ein republi-
15
kanischer Senator steht und in Deutschland die AfD – in Berichten, Einordnungen und Kommentaren.
16
Und dazu gehört eben auch, anderen Meinungen Raum zu geben, so unerfreulich sie für uns auch sein
17
mögen. [...]
18
Nun mag man einwenden: Doch was ist, wenn wir nicht nur unerfreulichen Meinungen Raum geben –
19
sondern schlicht falschen Behauptungen? Die Antwort: Wir sind Lügen gegenüber nicht hilflos. Wir
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haben das Werkzeug, wir müssen es nur sauber und viel härter einsetzen.

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An erster Stelle: Wir müssen recherchieren. Wir müssen Meldungen und Meinungsäußerungen viel
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konsequenter auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und diese Überprüfung transparent machen. Das
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kostet Zeit, Geld und Kraft. Nicht immer ist eine Lüge leicht erkennbar. Doch sie erkennbar zu ma-
24
chen, ist unsere Aufgabe. Dafür sind wir da.
25
Auch eine simple Meldung können wir in den Kontext einbetten. So wie wir beim Wetter etwa mel-
26
den, dass der Monat xy der wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen war, hätte man bei der For-
27
derung eines deutschen Politikers nach einem Einsatz der Bundeswehr gegen Protestierende darauf
28
hinweisen können, dass ein solcher Einsatz hierzulande gegen das Grundgesetz verstößt. [...]
29
Und natürlich haben wir immer die Möglichkeit, Meinungen und offensichtliche Fake News unveröf-
30
fentlicht zu lassen. Meinungsvielfalt zu achten heißt nicht, keine Haltung zu haben. Rassismus, Anti-
31
semitismus und Holocaustleugnung gehören in keinem Medium veröffentlicht.
32
Doch wir Journalisten sind keine Aktivisten. Das können andere weit besser. Wir sind die vierte Ge-
33
walt. Wir melden unvoreingenommen, wir hinterfragen kritisch, wir ordnen ein und ja: wir kommen-
34
tieren. Aber wir zensieren nicht.

Anmerkungen zur Autorin:
Tatjana Heid (* 1983) ist Historikerin, Journalistin sowie Politikwissenschaftlerin und arbeitet als stellvertretende verantwortliche Redakteurin für Nachrichten und Politik Online bei FAZ.NET.
Aus: Heid, Tatjana: Warum Journalismus Neutralität braucht- und was sich trotzdem ändern muss. (12.06.2020) (Zugriff: 29.11.2022)

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