Vorschlag A
Analyse eines Sachtextes mit weiterführendem Schreibauftrag
Thema: „Daß du nur nichts vergißt ...“ Peter Kurzeck (* 1943 – † 2013): Kein Frühling (1987) Ralph Schock im Gespräch mit Peter Kurzeck: Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren (2011) Aufgabenstellung:
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Fasse den Inhalt des Auszugs aus dem Roman Kein Frühling von Peter Kurzeck zusammen. (Material 1)
(25 BE)
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Analysiere den Text (Material 1) hinsichtlich der sprachlich-formalen Gestaltung und der inhaltlichen Aspekte. Arbeite dabei heraus, inwieweit im Textauszug romantische Motive gespiegelt werden.
(45 BE)
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„Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegszeit“. (Material 2)
Beurteile anhand der beiden vorliegenden Materialien, inwieweit der Autor Kurzeck die Situation und das Selbstverständnis der Schriftsteller kurz nach dem Zweiten Weltkrieg literarisch verarbeitet.
Material 1
Kein Frühling (1987)
Peter Kurzeck
(30 BE)
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Wie denn die Seelen zählen? Gekommen amtlich im Jahr des Herrn, im Hungerjahr 1946. Im Juli, mit
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einem Flüchtlingstransport, da war ich drei Jahre alt. Die vorangegangenen vierhundert Tage und
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Nächte unterwegs in Güterzügen ohne Bestimmung, mit Viehwaggons, auf enteigneten Lastwagen,
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Soldatenautos, Planwagen, Pferdewagen die dir mit jedem Tag, wenn er geht, immer wieder davonfah-
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ren. Der Himmel drüberhin ist ins Fließen geraten, kommt dir entgegen; jeder Schlaf träumt dich heim.
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Immer bleibst du zurück, fährst dir hundertmal selbst davon und kannst dich nicht aufgeben. Mit
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Handkarren, zu Fuß, zu Fuß und in Lagern: Schub-, Auffang-, Durchgangs-, Sammel- und Notaufnah-
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melager durch die wir, die durch uns hindurch sind. Ferne Küsten am Himmel, ganze Kontinente im
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Aufbruch begriffen. Seit wir uns erinnern, ziehen die Wolken nach Osten. Daß du keine Einzelheit je
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vergessen dürftest, dein Bündel, dein Eigentum, das schleppst du von nun an mit.
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Zuletzt in Gießen/Lahn: aufgefangen, gesammelt, zur Not, in der Not aufgenommen; weiter wohin?
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Um Zeit, um Brot und um Suppe anstehn, eine Decke um Gottes Willen, so hat jeder Tag sein Gerüst
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und dient uns zum Überleben. Und ein Jeder, so heißt es, soll nun bald eingetragen werden mit altem
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Namen und neuer Nummer in eine gültige Liste: das ist er dann fortan selbst. Wenn du die Augen zu-
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machst, gleich fangen die Baracken wie Käfer zu kriechen an, du bist ihre schwankende Last. Die Not
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gelernt, erst hungern dann sprechen gelernt; jeder Schlaf träumt dich heim. Immer noch hinter dir
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selbst her, wie denn ankommen? Du hast die Welt nicht verstanden und sie dir jeden Tag mit aller
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Kraft neu erklären müssen. Damit sie dich nicht verläßt. Und immer wieder zum Anfang zurück. Daß
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du nur nichts vergißt, es wäre verloren für immer! Allerorten der Flieder, der in diesem Jahr nicht auf-
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hören will zu blühen, während in den Baracken die Menschen wie Fliegen verrecken, eine Redensart,
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Eintagsfliegen in den Abendstunden, die fast ohne Übergang von matten Morgendämmerungen abge-
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löst werden, so kurz sind jetzt hier die Nächte. Noch im Schlaf unterwegs, ein allgegenwärtiges dich-
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tes Gemurmel das uns begleitet. So weit sich geschleppt bis zum Tod, Kreidekreuze. Aus jedem Lager
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wird ein Spital, wird ein Fiebertraum. Rund und rot ging schon wieder die Sonne auf. Wie ein Vorzei-
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chen, eine andere Sonne. Mit all den eigenen fremden Stimmen im Kopf: jeder hat sich insgeheim un-
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umgänglich ein langes ernstes Gespräch mit Gott vorgenommen. Demnächst, unbedingt, jeder hat sei-
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nen. Auf allen Wegen, auf Schritt und Tritt, hier bist du jetzt daheim, hier bist du registriert. Bloß ster-
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ben woanders, nicht in der Finsternis, nicht im Gedränge, nicht in diesem Geruch! Die Leichen mit
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Kalk bestreut, in eine Liste eingetragen, numeriert, durchgestrichen und verbrannt.
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Am Morgen des dritten Tages als Lebende auf fröhlich lärmende Lastwagen verladen, zwölf Kilome-
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ter Fahrt. In aller Frühe schon haben die Vögel dich geweckt. Du hast noch heute die Pracht der über-
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mäßig blühenden Wegraine im Gedächtnis, die vergängliche Ewigkeit des zugehörigen Sommerhim-
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mels und wie wir mit plötzlich gebremstem Schwung (gleich umso drängender klopft dein Herz) berg-
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auf in den Burghof einfuhren. Hier sollt ihr der Reihe nach aussteigen, jeder mit seinem Bündel. Da
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war es immer noch früher Morgen, hellblau die Luft, kühl und leicht. Kommt dir vor, daß mit dem
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Ausladen, Absteigen und Verlesen der Listen der ganze unermeßliche Tag ist vertrödelt worden. Hat
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jeder sich deutlich neben seinem Namen aufzustellen. Wie es sich trifft: die Einen bleiben gleich hier
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auf der Burg, Notquartier, Sperrholzverschläge, die Anderen kriegen amtliche Zettel für ein Zimmer
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im Dorf; man weiß nicht, wer besser (schlimmer) dran ist. Auf jedem Zettel ein runder Stempel; ein
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Zettel ist noch kein Zimmer. Derweil ist der Tag vergangen, wie ging das denn zu? Vor einer Weile im
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wäßrig zerfließenden Licht sind schwarzgefleckte Kühe am Burgtor vorbeigeführt worden. In weiter
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Ferne, gerade das weißt du noch. Vorher hast du nur weiße und braune Kühe gekannt und jetzt ist der
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Tag vergangen.
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Die Burg eine verzweigte Abendruine, ein düsteres Felsgebirge und fängt an zu husten. Die Häuser
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tun fremd und gaffen mit leeren Fenstern. Schwer lastet bis heute der amtlich vergeudete Tag auf dir.
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Jetzt kannst du mit deiner einzigen großen Schwester da bei eurem wie erschlagenen Bündel sitzen,
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die Lippen wie zu für immer. Unter diesem abendhellen Schweigehimmel voll Schwalben im Flug.
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Wir sind Menschen. Die Mutter hat euch ein Lächeln dagelassen und ist mit dem amtlichen Zettel und
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mit ihrer eigenen Müdigkeit hinunter ins fremde Dorf, um nach dem zugewiesenen Zimmer zu suchen.
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Wie in einem Märchen, das Haus hat gewartet, sie wird an die Tür klopfen. Sie bringt es dann mit oder
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holt euch gleich ab, auch wenn sie nie lernen wird, den hiesigen Dialekt zu verstehen. Bis sie starb
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nicht ein einziges Wort. Jetzt kannst du dir in seiner unerläßlichen Dauer geduldig jeden einzelnen
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Schritt von ihr vorstellen, jetzt am Abend liegt der Erdboden so still unter deinen Füßen. Die Schatten
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die auf euch zu wachsen. Du wirst dich nicht rühren, bis sie zurück ist und du hast in ihrem Gesicht
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gelesen.
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Und daß du schon damals, schon bei der Ankunft dich hoffnungslos fremd gefühlt hättest, in der Ver-
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bannung. Und die Gesichter der Häuser, den lieblosen Dialekt, das Fehlen des Lichts, die falschen Far-
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ben als Kränkung empfunden; das bleibt. Jetzt liegt das Dorf unerreichbar im Jahr 1947. Staufenberg
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im Kreis Gießen.
Aus: Peter Kurzeck: Kein Frühling. Roman, Frankfurt am Main 3. Aufl. 2014, S. 39 ff. Material 2 „Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren“ (2011) Ralph Schock im Gespräch mit Peter Kurzeck
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PETER KURZECK: [...] Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch
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wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle. Da und dort sind schon ein paar Flecken zu er-
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kennen, aber es ist mühsam, sich vorzustellen, was aus dem Ganzen einmal wird. [...] Ich habe die
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nächsten zwei oder drei Bücher schon angefangen, für jedes Hunderte von Manuskriptseiten geschrie-
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ben und Hunderte von Seiten mit Notizen vorbereitet. Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegs-
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zeit, mit acht, als wir kein Geld und keine richtige Wohnung hatten, nur ein Flüchtlingszimmer, einen
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Gemeinschaftsdachboden und eine Gemeinschaftswaschküche, und aus den Lagern gerade erst heraus
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und nach Hessen gekommen waren. Wir hatten nur einen geliehenen Küchentisch und eine Küchen-
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lampe mit einer 15-Watt-Birne. Natürlich mußte gespart werden, die wurde nur angemacht, wenn es
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ganz dunkel war – in der Dämmerung noch lange nicht. Wenn sie aber dann angemacht wurde, gab sie
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ein schönes trübgoldenes Licht und machte aus dem Raum eine Art Höhle, weil sie die Ecken nicht
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ausleuchtete. Es war ein Licht wie auf einem Rembrandt. Und ich sehe mich als Acht- oder Zehnjähri-
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gen abends am Küchentisch sitzen, unter der geliehenen Lampe am geliehenen Küchentisch, auch die
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Stühle waren nicht unsere eigenen, und ich habe ein Stück Papier vor mir. Papier war damals etwas
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Kostbares. Auch heute werde ich beim Schreiben nie den Gedanken los, daß es etwas Kostbares ist
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und daß man es bevorraten muß, damit man immer welches hat. Und ich sehe mich an diesem Tisch
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sitzen und mich erst mit Bleistift und dann mit Buntstiften ein Königreich malen, weil wir so arm wa-
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ren ... Ich bin natürlich ein König, sonst wäre die Armut ja nicht auszuhalten gewesen. Und das ist,
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glaube ich, so etwas wie die Vorwegnahme dessen, was ich jetzt tue, nämlich Bücher zu schreiben, die
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mein Zeitalter festhalten sollen.
Anmerkungen zum Autor:
Peter Kurzeck (* 1943 in Tachau, heute Tschechische Republik; † 2013 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Schriftsteller.
Seine Familie wurde 1946 aus dem Sudetenland vertrieben. Er zog mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Staufenberg
bei Gießen, wo er auch seine Jugend verbrachte. Nach dem Tod seiner Mutter 1971 lebte er noch bis 1977 in der
ehemaligen Flüchtlingswohnung in Staufenberg. Er begann Anfang der neunziger Jahre seine autobiografische Romanfolge
„Das alte Jahrhun- dert“ zu verfassen. Er war Träger verschiedener Literaturpreise. Aus: Peter Kurzeck: „Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren“. Gespräch mit Ralph Schock, SINN UND FORM 5/2011,
S. 624 – 633.
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Vorarbeit
- Lies dir den Text zunächst aufmerksam durch und markiere Satzteile oder Wörter, die dir auffallen. Auch hilft es, wenn du dir stichwortartig Notizen zum Thema des Textes machst.
Überleitung
- Vorliegender erster Textauszug stammt aus dem Roman Kein Frühling von Peter Kurzeck und wurde 1987 vom Autor veröffentlicht.
- Bei der zweiten Materialquelle handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Beitrag Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren, in welchem Ralph Schock im Gespräch mit Peter Kurzeck ist. Der Beitrag stammt aus dem Jahr 2011 und lässt sich in SINN UND FORM in der Ausgabe 5/2011 finden.
- Der Textausschnitt aus Kein Frühling thematisiert die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den persönlichen Erinnerungen des Protagonisten. Der Roman selbst handelt von einem Mann, der sich in einer schwierigen Lebensphase befindet und sich mit seiner eigenen Geschichte, seinen Beziehungen und seinem Selbstbild auseinandersetzt.
- Der Text beschreibt die Ankunft einer Familie im Jahr 1946 während des Hungerjahres in Deutschland.
- Sie sind auf der Flucht und haben eine lange, entbehrungsreiche Reise hinter sich, bevor sie in einem Lager in Gießen ankommen.
- Dort werden sie registriert und auf verschiedene Unterkünfte verteilt.
- Die Mutter macht sich auf die Suche nach ihrem zugewiesenen Zimmer, während die Kinder mit ihrem Bündel zurückbleiben.
- Die Familie fühlt sich fremd und verloren in der neuen Umgebung, geprägt von Entbehrungen und Traumata aus der Vergangenheit.
- Die Beschreibung der Ankunft und des ersten Tages im Lager vermittelt eine Atmosphäre von Unsicherheit, Verlorenheit und Hoffnung auf ein neues Leben.
Teilaufgabe 2
Analyse- Das Werk lässt sich in fünf Paragraphen aufteilen, die sich in ihrer Länge unterscheiden und insgesamt 59 Zeilen aufweisen.
- 1.: Das dreijährige lyrische Ich sieht zusammen mit seiner Familie einer Deportion ins Angesicht. Monatelang sind sie unterwegs in „Flüchtlingstransport[en]“ (Z. 2) und Kurzeck beschreibt, wie das lyrische Ich auf der Reise ins Ungewisse jegliches Zeitempfinden verliert, wobei es nichts an Hab und Gut bei sich hat außer die Kleider am eigenen Leib.
- 2.: In Gießen im Kreis Lahn wird ein Zwischenstopp eingelegt. Das lyrische Ich beschreibt: „Jeder Tag [besitzt] sein Gerüst und dient uns zum Überleben“ (Z. 12 f.). Als Gefangene sollen sie sich registrieren und „eintragen [...] in eine gültige Liste“ (Z. 13 f.). In „Baracken“ (Z. 15) untergebracht sind Kranheit und Tod allgegenwärtig. Inzwischen betet jeder zu Gott, da das Ende nahezu spürbar und vorhersehbar ist.
- 3.: Am „Morgen des dritten Tages“ (Z. 30) werden sie in den „Burghof“ (Z. 34) eines Dorfes gefahren. Gefangene werden aufgeteilt und einige in die Burg, wiederum andere ins Dorf geschickt.
- 4.: Die Burg wird als „verzweigte Ruine“ (Z. 44) beschrieben, in welcher das lyrische Ich alleine mit der Schwester zurückbleibt, während sich die Mutter ins Dorf begibt, „um nach dem zugewiesenen Zimmer zu suchen“ (Z. 49). Die Mutter kehrt nie wieder zurück und später erfahren sie von ihrem Tod.
- 5.: Das lyrische Ich schildert, dass das Sich-fremd-Fühlen ein Leben lang geblieben ist, nie habe es sich willkommen geheißen gefühlt in dem kleinen Dorf namens „Staufenberg im Kreis Gießen“ (Z. 58).
- Akkumulation: „mit Viehwaggons, auf enteigneten Lastwagen, Soldatenautos, Planwagen, Pferdewagen“ (Z. 3 f.), „Mit Handkarren, zu Fuß, zu Fuß und in Lagern“ (Z. 6 ff.)
- Asyndeton: „Schub-, Auffang-, Durchgangs-, Sammel- und Notaufnahmelager“ (Z. 7 f.)
- Metapher: der „Himmel [war] ins Fließen geraten“ (Z. 5), „jeder Schlaf träumt dich heim“ (Z. 5)
- Figura etymologica: „durch die wir, die durch uns hindurch sind“ (Z. 8)
Teilaufgabe 3
Kurzeck über die Situation und das Selbstverständnis der Schriftsteller in der Nachkriegszeit- In Kein Frühling von Peter Kurzeck und dem Gespräch mit Ralph Schock wird deutlich, wie Kurzeck die Situation und das Selbstverständnis der Schriftsteller kurz nach dem Zweiten Weltkrieg literarisch verarbeitet.
- In Kein Frühling reflektiert der Protagonist über seine eigene Vergangenheit und die damit verbundenen Erinnerungen an die Nachkriegszeit. Er setzt sich mit seinen persönlichen Erfahrungen, Beziehungen und Entscheidungen auseinander, um sein eigenes Leben zu verstehen und einen Weg in die Zukunft zu finden.
- Dabei thematisiert er Fragen nach Identität, Erinnerung und persönlicher Entwicklung, was typische Themen sind, die auch viele Schriftsteller der Nachkriegszeit beschäftigten.
- Im Gespräch mit Ralph Schock spricht Kurzeck über seine Absicht, sein Zeitalter literarisch festzuhalten und Bücher zu schreiben, die sein Zeitalter dokumentieren sollen.
- Er reflektiert über seine Kindheit in der Nachkriegszeit und die Armut, in der er aufgewachsen ist. Diese persönlichen Erfahrungen dienen als Grundlage für sein Schaffen als Schriftsteller und ermöglichen es ihm, eine authentische Darstellung dieser Zeit zu schaffen.
- Durch die Verbindung von persönlichen Erfahrungen, literarischer Reflexion und dem Wunsch, das eigene Zeitalter festzuhalten, gelingt es Kurzeck, die Situation und das Selbstverständnis der Schriftsteller kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf eindrückliche Weise literarisch zu verarbeiten.
- Seine Werke bieten somit einen wichtigen Einblick in die Gedankenwelt und Lebensumstände der Menschen dieser Zeit und tragen zur Aufarbeitung dieser Epoche bei.