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Vorschlag C

Analyse eines Sachtextes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema: Optimierung durch Technisierung?
Alexander Wendt: Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts (2018)
Aufgabenstellung:
1
Fasse den vorliegenden Textauszug zusammen und arbeite das im Text deutlich werdende Menschenbild heraus. (Material)
(30 BE)
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Setze die im vorliegenden Textauszug von Alexander Wendt geschilderten Optimierungsversuche am Menschen in Beziehung zu Juli Zehs Roman Corpus Delicti und zu Goethes Drama Faust I.
(40 BE)
3
Der deutsch-amerikanische Autor Tim Leberecht schreibt in der Süddeutschen Zeitung am 14. September 2015:
„Die total technisierte Gesellschaft braucht Romantik. Mit Algorithmen und Apps wollen wir unser Leben verbessern. Doch dieser Optimierungswahn entzaubert unsere Welt“.
Diskutiere, auch unter Bezugnahme auf den vorliegenden Text von Alexander Wendt, ob Themen und Motive der Epoche der Romantik einen gelungenen Gegenentwurf zur Technisierung der Gegenwart darstellen.
(30 BE)
Material
Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts (2018)
Alexander Wendt
1
Am 24. August 1998 um vier Uhr nachmittags unterzog sich der britische Kybernetikprofessor Kevin
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Warwick, damals 44 Jahre alt, einer Operation. Der Chirurg Georg Boulous betäubte in der Tilehurst
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Surgery Klinik von Reading den Unterarm seines Patienten lokal und plazierte einen Siliziumchip un-
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ter seiner Haut. Mit dem elektronischen Teil in seinem Körper konnte Warwick von diesem Tag an in
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seinem Haus Türen öffnen, Licht ein- und ausschalten und die Heizung regulieren, ohne einen
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Türknopf oder einen Schalter zu berühren. Sein Körper hatte sich eine neue Fähigkeit im Wortsinn
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einverleibt. Viele, die davon hörten, hielten das Experiment des Wissenschaftlers der Universität Rea-
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ding für eine Spielerei. Für die Anhänger der transhumanen Bewegung setzte Kevin Warwick damals
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zum großen Sprung an. Er verwandelte sich an einem Nachmittag zum weltweit ersten Cyborg – zu
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einer Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Der Maschinenanteil nahm nur einen winzigen
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Platz in seinem Körper ein, und er erlaubte ihm auch nichts, was nicht jeder Mensch auch mit seinem
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Finger am Lichtschalter hätte erledigen können. Aber darum ging es ihm nicht. Er wollte die biologi-
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sche Grenze seines Körpers übertreten. Das versuchen Menschen seit vielen Jahrhunderten, vor allem
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benutzen sie dabei natürliche und später synthetische Substanzen. Warwicks Pioniertat bestand darin,
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einen neuen Weg zu diesem alten Ziel zu nehmen. [...]
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Seit Generationen versuchen Menschen auf ziemlich unvollkommene Weise, ihre natürlichen Grenzen
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mit Drogen zu überqueren. Mit einem zusätzlichen Element, nämlich der Technik, könnte es ihnen ge-
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lingen, jetzt zum ersten Mal dauerhaft in eine transhumane Welt zu wechseln.
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Unter Biohacking verstehen verschiedene Mitglieder der Szene unterschiedliche Dinge. Klassiker wie
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Kevin Warwick ausschließlich eine Verbesserung durch Kombination von Biologie und Technik. An-
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dere wie der russisch-amerikanische Unternehmer Serge Faguet optimieren sich durch Substanzen, die
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sie sich [...] zu einer fein orchestrierten chemischen Mischung zusammenstellen. Faguet, in Russland
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geboren und erfolgreicher IT-Unternehmer nach seinem Studienabbruch in Stanford, entschied sich,
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seine höchstpersönliche Mischung ins Netz zu stellen. Seiner Rezeptsammlung gab er dort die Über-
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schrift: „Ich bin 32 und habe 200 000 Dollar für Biohacking ausgegeben. Bin ruhiger, dünner, extro-
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vertierter, gesünder, glücklicher geworden.“ Seit dem Beginn seiner Selbstbehandlung, schreibt er,
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habe er 26 Prozent Körperfett verloren, seinen Testosteronspiegel gesteigert, er schlafe besser, sei aus-
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geglichen und habe großartigen Sex. Neben Kraftsport, dem Schlucken von Hormonpräparaten und
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einem fett- und kohlenhydratarmen und entzündungshemmenden Speiseplan (Fisch, Avocados, grüner
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Tee) gehört zu seinem Programm die Einnahme des Wachhalters Modafinil, des Stimmungsstabilisie-
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rers Lithium und des Zufriedenmachers MDMA. Eine dritte Gruppe in der mittlerweile großen Bewe-
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gung der Menschenoptimierer nutzt beide Möglichkeiten. Bei ihnen vereinen sich die beiden Kristalle,
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die chemischen und die aus Silizium.
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Es sind mehrere Dinge, die im Transhumanismus zusammenkommen, klassische, auf neue Weise be-
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nutzte Drogen, injizierte Substanzen, von denen möglicherweise neue, auf Gentechnik basierte Varian-
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ten entstehen, ständige Implantate und drittens – diese Möglichkeit bietet wahrscheinlich mehr als alle
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anderen zusammen – der Anschluss an die kommende künstliche Intelligenz. [...]
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Durch das Feilen an den Genen bietet sich zum ersten Mal die Chance auf eine höchstpersönliche
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Droge, entworfen für die Bedürfnisse eines einzelnen von sieben Milliarden Menschen. Verknüpfen
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Avantgardisten der Transhumans-Bewegung außerdem noch eine andere sehr individuelle Struktur –
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nämlich das Gehirn – mit den Fähigkeiten der Informationstechnologie, dann hätte endlich jeder die
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Chance, aus der Spezies Mensch auszutreten, um seine eigene Schöpfung zu werden. Für ein transhu-
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manes Manifest genügt im Prinzip der Satz: „Die Menschen haben nichts zu verlieren als die Ketten
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ihrer ererbten DNA.“ [...]
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Die Französin Emmanuelle Charpentier entwickelte 2012 eine revolutionäre Technik zum Schneiden
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von Gensequenzen. [...] Ihre Genschere hört auf den Namen CRISPR-Cas9 [...].
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Die Genschere macht es also möglich, den Erbinformationsstrang an einer vorbestimmten Stelle zu
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kappen und dort ein neues Stück DNA einzubauen. [...]
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Beim Zertrennen von DNA handelt es sich nur um die Basistechnik. Den Transhumanisten der Gene-
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tikabteilung geht es um die aufregende Möglichkeit, ihr eigenes Erbgut umzubauen, indem sie schnei-
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den und im Copy-and-Paste-Verfahren neue Sequenzen einsetzen. Was nichts anderes bedeutet, als
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Fehler der menschlichen Grundausstattung auszumerzen. Es gibt Menschen, die besonders langlebig
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sind, mit besonders wenig Schlaf auskommen, die über ein ungewöhnlich gutes Immunsystem verfü-
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gen oder sich durch eine überdurchschnittliche Intelligenz auszeichnen. Dafür lassen sich möglicher-
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weise genetische Grundlagen aufspüren. Wenn sie gefunden sind, könnte ein Optimierer sie sich –
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vielleicht – in den eigenen gewundenen Strang weben. [...] Das heißt, nicht alle könnten das tun.
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Sondern nur happy few experts mit passenden Fähigkeiten und hinreichender Risikobereitschaft [...].
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Der Unternehmer und Selbstoptimierer Serge Faguet spricht in seinem Manifest mit einer gewissen
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Brutalität aus, wie Körperveränderungen zu neuen Gesellschaftsverhältnissen führen. „Ich glaube, was
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wir beim Biohacking tun, bedeutet die Spaltung der Menschheit in getrennte Spezies: Die in ihren
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Möglichkeiten verstärkten Posthumans, die all diese Entscheidungen treffen (und die sehr wahrschein-
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lich aus den Tech-Communities des Silicon Valley und aus China kommen werden) – und ‚einfache
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Humane‘, die (vielleicht) gut behandelt werden, aber nicht wirklich bestimmen, was geschieht.“ [...]
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Auf der Webseite des amerikanischen Unternehmens Okion, das Biohackingbedarf vertreibt, heißt es:
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„Du möchtest durch moderne Wissenschaft besser leben, und du weißt, dass es Werkzeuge gibt, um
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dich zu mentalen Spitzenleistungen zu bringen. Du willst deine Arbeitsproduktivität maximieren, mo-
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tiviert sein, um jeder Anstrengung die mentale Konzentration zu geben, die sie verdient, du möchtest
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schneller lesen, bessere Konversationen haben und in einer Weise wirken, wie du es niemals zuvor ge-
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tan hast.“ [...]
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Wie in der früheren Chemie leben auch heute die Schöpfer von Mensch/Maschine-Schnittstellen und
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Genschneider im Zeitalter der Unschuld. In den Foren der Transhumans tauscht man sich über die
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neuesten Errungenschaften aus und kaum über die Frage, wohin sie führen. Das spricht nicht unbe-
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dingt für moralische Stumpfheit [...]. Ein Kevin Warwick weiß, dass er grundsätzlichen Fragen be-
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gegnen wird, oder die Fragen ihm, je nachdem. Sie liegen allerdings noch hinter einer Nebelwand.

Anmerkungen zum Autor:
Alexander Wendt (* 1966), deutscher Journalist und Buchautor.
Aus: Alexander Wendt: Kristall. Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts, Bonn 2019, S. 191 – 207.

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