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Basiswissen

Vorschlag B

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Vergleich

Thema:
Formen der Verführung
Wolfgang Koeppen (* 1906 - † 1996): Tauben im Gras (1951)
Thomas Mann (* 1788 - † 1857): Mario und der Zauberer (1930)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Auszug aus Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras. (Material)
  • (60 BE)
  • Setze den vorliegenden Textauszug aus Koeppens Roman (Material) in Beziehung zu Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer hinsichtlich des jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Klimas.
  • (40 BE)
Material
Tauben im Gras
Wolfgang Koeppen
Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ spiegelt die Verhältnisse in Deutschland um 1948 wider. Ort des Geschehens ist das amerikanisch besetzte München. Der vorliegende Auszug ist im letzten Drittel des Romans angesiedelt.
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Das Fräulein verkaufte im Warenhaus am Bahnhof Socken. Das Warenhaus verdiente an den Socken.
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Das Fräulein verdiente wenig. Es gab das Wenige zu Hause ab. Es hatte aber keine Lust, am Abend zu
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Hause zu sitzen und die Radiomusik zu hören, die der Vater bestimmte: Glühwürmchenflimmere, das
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ewige tödlich langweilige Wunschkonzert, das zäheste Erbe des Großdeutschen Reiches. Der Vater
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las, während das Glühwürmchen flimmerte, die Zeitung. Er sagte: „Bei Hitler war’s anders! Da war
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Zug drin.“ Die Mutter nickte. Sie dachte an die alte ausgebrannte Wohnung; da war Zug drin gewesen;
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es war Zug in den Flammen gewesen. Sie dachte an die immer gehütete und dann verbrannte Aus-
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steuer. Sie konnte den Linnenschrank der Aussteuer nicht vergessen, aber sie wagte dem Vater nicht
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zu widersprechen: der Vater war Portier in der Vereinsbank, ein angesehener Mann. Das Fräulein
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suchte nach den Socken und nach der Glühwürmchen-Musik etwas Heiterkeit. Das Fräulein wollte le-
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ben. Es wollte sein eigenes Leben. Es wollte nicht der Eltern Leben wiederholen. Das Leben der El-
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tern war nicht nachahmenswert. Die Eltern waren gescheitert. Sie waren arm. Sie waren unheiter, un-
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glücklich, vergrämt. Sie saßen vergrämt in einer grämlichen Stube bei grämlich munterer Musik. Das
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Fräulein wollte ein anderes Leben, eine andere Freude, wenn es sein sollte, einen anderen Schmerz.
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Die amerikanischen Jungen waren dem Fräulein lieber als die deutschen Jungen. Die amerikanischen
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Jungen erinnerten das Fräulein nicht an das grämliche Zuhause. Sie erinnerten das Fräulein nicht an
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alles, was es bis zum Überdruß kannte: die ewige Einschränkung, das ewige Nach-der-Decke-Stre-
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cken, die Wohnungsenge, die völkischen Ressentiments, das nationale Unbehagen, das moralische
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Mißvergnügen. Um die amerikanischen Jungen war Luft, die Luft der weiten Welt; der Zauber der
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Ferne, aus der sie kamen, verschönte sie. Die amerikanischen Jungen waren freundlich, kindlich und
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unbeschwert. Sie waren nicht so mit Schicksal, Angst, Zweifel, Vergangenheit und Aussichtslosigkeit
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belastet wie die deutschen Jungen. Auch wußte das Fräulein, was ein Kommis im Warenhaus ver-
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dient; es kannte die Entbehrungen, die er litt, um sich einen Anzug kaufen zu können, einen Anzug im
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schlechten Geschmack der Konfektion, in dem er unglücklich aussah. Das Fräulein würde einmal ei-
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nen überarbeiteten, enttäuschten, schlechtangezogenen Mann heiraten. Das Fräulein wollte das heute
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vergessen. Es wäre gern tanzen gegangen. Aber Richard wollte ins Bräuhaus gehen. Auch das
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Bräuhaus war lustig. Ging man also ins Bräuhaus. Aber man spielte auch im Bräuhaus die Glühwürm-
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chen-Musik.
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Die Säle waren überfüllt. Die Volks- und Völkergemeinschaft, die viel gerühmte, die oft besungene
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Gemütlichkeit des Bräuhauses tobte. Aus großen Fässern strömte und schäumte das Bier; es strömte
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und schäumte in ununterbrochenem Fluß; die Zapfer drehten die Spünde nicht ab; sie hielten die
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Maßkrüge unter den Strom, rissen sie vom Bier zurück, schnitten sie ab vom Naß und hielten schon
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den nächsten Krug unter den Fluß. Kein Tropfen ging verloren. Die Kellnerinnen schleppten acht,
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zehn, ein Dutzend Krüge zu den Tischen. Das Fest des Gottes Gambrinus wurde gefeiert. Man stieß
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an, man trank aus, man legte den Krug auf den Tisch, man wartete auf die zweite Füllung. Die Ober-
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länder-Kapelle spielte. Es waren alte Herren in kurzen Lederhosen, die haarige gerötete Knie zeigten.
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Die Kapelle spielte das Glühwürmchen, sie spielte Sah-ein-Knab’-ein-Röslein-stehn, und alle im
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Saal sangen das Lied mit, sie faßten sich unter, sie standen auf, sie stellten sich auf die Bierbänke, sie
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hoben die Krüge und brüllten langgezogen gefühlsbetont Röslein-auf-der-Hei-hei-den. Man setzte sich
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wieder. Man trank wieder. Väter tranken, Mütter tranken, kleine Kinder tranken; Greise umstanden
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den Waschbottich und suchten nach Bierneigen in den abgestellten Krügen, die sie durstig gierig hin-
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unterspülten. Man sprach von der Ermordung des Taxifahrers. Ein schwarzer Soldat hatte einen Taxi-
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fahrer ermordet. Es war Josefs Tod, von dem gesprochen wurde; aber die Fama hatte aus dem
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Dienstmann einen Taxifahrer gemacht. Ein Dienstmann schien der Fama ein zu armes Opfer für einen
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Mord zu sein. Die Stimmung war den Amerikanern nicht günstig. Man schimpfte, man raunzte; man
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hatte zu klagen. Bier hebt in Deutschland das nationale Bewußtsein. In andern Ländern regt Wein, in
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manchen vielleicht Whisky den Nationalstolz an. In Deutschland ist das Bier der die Vaterlandsliebe
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belebende Stoff: ein dumpfer, ein nicht erhellender Rausch. Den einzelnen Angehörigen der Besat-
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zung, die sich in den Hexenkessel des Bräuhauses verirrt hatten, begegnete man nachbarlich freund-
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lich. Viele Amerikaner liebten das Bräuhaus. Sie fanden es großartig und gemütlich. Sie fanden es
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noch großartiger und noch gemütlicher als alles, was sie darüber gelesen oder gehört hatten. Die Ober-
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länder-Kapelle spielte den Badenweiler Marsch, den Lieblingsmarsch des toten Führers. Man brauchte
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der Kapelle nur eine Lage zu spendieren, und sie spielte den Marsch, der den Einzug Hitlers in die
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Versammlungssäle der Nationalsozialisten begleitet hatte. Der Marsch war die Musik der jungen und
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verhängnisvollen Geschichte. Der Saal hob sich wie eine einzige geschwellte Brust der Begeisterung
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von den Plätzen. Es waren nicht Nazis, die sich da erhoben. Es waren Biertrinker. Die Stimmung al-
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lein machte es, daß alle sich erhoben. Es war nur eine Gaudi! Warum so ernst sein? warum an Vergan-
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genes, Begrabenes, Vergessenes denken? Auch die Amerikaner wurden von der Stimmung mitgeris-
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sen. Auch die Amerikaner erhoben sich. Auch die Amerikaner summten den Marsch des Führers,
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schlugen mit Füßen und Fäusten den Takt. Amerikanische Soldaten und davongekommene deutsche
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Soldaten umarmten sich. Es war eine warme rein menschliche Verbrüderung ohne politische Absicht
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und diplomatischen Handel.

Anmerkungen zum Autor:
Wolfgang Koeppen (1906–1996): deutscher Schriftsteller, der sich in seinen Werken insbesondere mit den Verhältnissen in der Nachkriegszeit auseinandergesetzt hat
Aus: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, Frankfurt am Main 1980, S. 182–185.
Die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage.

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