Vorschlag B
Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Vergleich
Thema: Formen der Verführung Wolfgang Koeppen (* 1906 - † 1996): Tauben im Gras (1951) Thomas Mann (* 1788 - † 1857): Mario und der Zauberer (1930) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Auszug aus Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras. (Material)
- Setze den vorliegenden Textauszug aus Koeppens Roman (Material) in Beziehung zu Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer hinsichtlich des jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Klimas.
(60 BE)
(40 BE)
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Das Fräulein verkaufte im Warenhaus am Bahnhof Socken. Das Warenhaus verdiente an den Socken.
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Das Fräulein verdiente wenig. Es gab das Wenige zu Hause ab. Es hatte aber keine Lust, am Abend zu
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Hause zu sitzen und die Radiomusik zu hören, die der Vater bestimmte: Glühwürmchenflimmere, das
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ewige tödlich langweilige Wunschkonzert, das zäheste Erbe des Großdeutschen Reiches. Der Vater
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las, während das Glühwürmchen flimmerte, die Zeitung. Er sagte: „Bei Hitler war’s anders! Da war
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Zug drin.“ Die Mutter nickte. Sie dachte an die alte ausgebrannte Wohnung; da war Zug drin gewesen;
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es war Zug in den Flammen gewesen. Sie dachte an die immer gehütete und dann verbrannte Aus-
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steuer. Sie konnte den Linnenschrank der Aussteuer nicht vergessen, aber sie wagte dem Vater nicht
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zu widersprechen: der Vater war Portier in der Vereinsbank, ein angesehener Mann. Das Fräulein
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suchte nach den Socken und nach der Glühwürmchen-Musik etwas Heiterkeit. Das Fräulein wollte le-
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ben. Es wollte sein eigenes Leben. Es wollte nicht der Eltern Leben wiederholen. Das Leben der El-
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tern war nicht nachahmenswert. Die Eltern waren gescheitert. Sie waren arm. Sie waren unheiter, un-
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glücklich, vergrämt. Sie saßen vergrämt in einer grämlichen Stube bei grämlich munterer Musik. Das
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Fräulein wollte ein anderes Leben, eine andere Freude, wenn es sein sollte, einen anderen Schmerz.
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Die amerikanischen Jungen waren dem Fräulein lieber als die deutschen Jungen. Die amerikanischen
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Jungen erinnerten das Fräulein nicht an das grämliche Zuhause. Sie erinnerten das Fräulein nicht an
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alles, was es bis zum Überdruß kannte: die ewige Einschränkung, das ewige Nach-der-Decke-Stre-
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cken, die Wohnungsenge, die völkischen Ressentiments, das nationale Unbehagen, das moralische
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Mißvergnügen. Um die amerikanischen Jungen war Luft, die Luft der weiten Welt; der Zauber der
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Ferne, aus der sie kamen, verschönte sie. Die amerikanischen Jungen waren freundlich, kindlich und
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unbeschwert. Sie waren nicht so mit Schicksal, Angst, Zweifel, Vergangenheit und Aussichtslosigkeit
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belastet wie die deutschen Jungen. Auch wußte das Fräulein, was ein Kommis im Warenhaus ver-
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dient; es kannte die Entbehrungen, die er litt, um sich einen Anzug kaufen zu können, einen Anzug im
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schlechten Geschmack der Konfektion, in dem er unglücklich aussah. Das Fräulein würde einmal ei-
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nen überarbeiteten, enttäuschten, schlechtangezogenen Mann heiraten. Das Fräulein wollte das heute
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vergessen. Es wäre gern tanzen gegangen. Aber Richard wollte ins Bräuhaus gehen. Auch das
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Bräuhaus war lustig. Ging man also ins Bräuhaus. Aber man spielte auch im Bräuhaus die Glühwürm-
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chen-Musik.
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Die Säle waren überfüllt. Die Volks- und Völkergemeinschaft, die viel gerühmte, die oft besungene
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Gemütlichkeit des Bräuhauses tobte. Aus großen Fässern strömte und schäumte das Bier; es strömte
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und schäumte in ununterbrochenem Fluß; die Zapfer drehten die Spünde nicht ab; sie hielten die
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Maßkrüge unter den Strom, rissen sie vom Bier zurück, schnitten sie ab vom Naß und hielten schon
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den nächsten Krug unter den Fluß. Kein Tropfen ging verloren. Die Kellnerinnen schleppten acht,
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zehn, ein Dutzend Krüge zu den Tischen. Das Fest des Gottes Gambrinus wurde gefeiert. Man stieß
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an, man trank aus, man legte den Krug auf den Tisch, man wartete auf die zweite Füllung. Die Ober-
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länder-Kapelle spielte. Es waren alte Herren in kurzen Lederhosen, die haarige gerötete Knie zeigten.
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Die Kapelle spielte das Glühwürmchen, sie spielte Sah-ein-Knab’-ein-Röslein-stehn, und alle im
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Saal sangen das Lied mit, sie faßten sich unter, sie standen auf, sie stellten sich auf die Bierbänke, sie
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hoben die Krüge und brüllten langgezogen gefühlsbetont Röslein-auf-der-Hei-hei-den. Man setzte sich
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wieder. Man trank wieder. Väter tranken, Mütter tranken, kleine Kinder tranken; Greise umstanden
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den Waschbottich und suchten nach Bierneigen in den abgestellten Krügen, die sie durstig gierig hin-
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unterspülten. Man sprach von der Ermordung des Taxifahrers. Ein schwarzer Soldat hatte einen Taxi-
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fahrer ermordet. Es war Josefs Tod, von dem gesprochen wurde; aber die Fama hatte aus dem
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Dienstmann einen Taxifahrer gemacht. Ein Dienstmann schien der Fama ein zu armes Opfer für einen
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Mord zu sein. Die Stimmung war den Amerikanern nicht günstig. Man schimpfte, man raunzte; man
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hatte zu klagen. Bier hebt in Deutschland das nationale Bewußtsein. In andern Ländern regt Wein, in
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manchen vielleicht Whisky den Nationalstolz an. In Deutschland ist das Bier der die Vaterlandsliebe
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belebende Stoff: ein dumpfer, ein nicht erhellender Rausch. Den einzelnen Angehörigen der Besat-
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zung, die sich in den Hexenkessel des Bräuhauses verirrt hatten, begegnete man nachbarlich freund-
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lich. Viele Amerikaner liebten das Bräuhaus. Sie fanden es großartig und gemütlich. Sie fanden es
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noch großartiger und noch gemütlicher als alles, was sie darüber gelesen oder gehört hatten. Die Ober-
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länder-Kapelle spielte den Badenweiler Marsch, den Lieblingsmarsch des toten Führers. Man brauchte
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der Kapelle nur eine Lage zu spendieren, und sie spielte den Marsch, der den Einzug Hitlers in die
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Versammlungssäle der Nationalsozialisten begleitet hatte. Der Marsch war die Musik der jungen und
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verhängnisvollen Geschichte. Der Saal hob sich wie eine einzige geschwellte Brust der Begeisterung
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von den Plätzen. Es waren nicht Nazis, die sich da erhoben. Es waren Biertrinker. Die Stimmung al-
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lein machte es, daß alle sich erhoben. Es war nur eine Gaudi! Warum so ernst sein? warum an Vergan-
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genes, Begrabenes, Vergessenes denken? Auch die Amerikaner wurden von der Stimmung mitgeris-
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sen. Auch die Amerikaner erhoben sich. Auch die Amerikaner summten den Marsch des Führers,
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schlugen mit Füßen und Fäusten den Takt. Amerikanische Soldaten und davongekommene deutsche
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Soldaten umarmten sich. Es war eine warme rein menschliche Verbrüderung ohne politische Absicht
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und diplomatischen Handel.
Anmerkungen zum Autor:
Wolfgang Koeppen (1906–1996): deutscher Schriftsteller, der sich in seinen Werken insbesondere mit den Verhältnissen in der Nachkriegszeit auseinandergesetzt hat Aus: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, Frankfurt am Main 1980, S. 182–185. Die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage.
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Teilaufgabe 1
Einleitung
- Der Roman Tauben im Gras stammt von dem Autor Wolfgang Koeppen und wurde 1951 veröffentlicht. Die Geschichte spielt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1948 in der von den Alliierten besetzten bayerischen Großstadt München. Der Schauplatz München ist deshalb von Bedeutung, weil dort Hitlers politischer Werdegang begann.
- Das Werk lässt sich der Nachkriegsliteratur zuordnen und beschäftigt sich dementsprechend mit den politischen und sozialen Veränderungen, Herausforderungen und Spannungen nach dem Krieg in Deutschland. Es zeichnet sich durch seine komplexe Handlung und vielschichtige Charaktere aus.
- Der vorliegende Romanauszug stammt aus dem letzten Drittel des Werks und zeigt verschiedene Aspekte der deutschen Gesellschaft zu dieser Zeit.
Hauptteil
Formale Analyse- Der Text wird aus der Sicht eines personalen Erzählers in der dritten Person und in der Zeitform Präteritum erzählt. Zeitweise hat der personale Erzähler auch auktoriale Erzählzüge. Der Autor konstatiert die Gedanken eines Fräuleins in einem subjektiv-deskriptiven Stil und bildhafter Sprache. Es handelt sich um eine Reflexion der Empfindungen und Emotionen des Fräuleins.
- Ellipsen (z. B. „Es gab das Wenige zu Hause ab. Es hatte aber keine Lust, am Abend zu Hause zu sitzen und die Radiomusik zu hören, die der Vater bestimmte: Glühwürmchenflimmere, das ewige tödlich langweilige Wunschkonzert (...)“, Z. 2 ff.) unterstreichen den diskontinuierlichen Stil des Textes und weisen auf die zögerlichen Gedanken des Fräuleins hin.
- Auch wenn direkte Dialoge fehlen, ist eine dialogartige Struktur im Text zu erkennen, weil die inneren Gedanken des Fräuleins in Verbindung zu den Gedanken oder Ideen anderer Personen stehen. Diese erzählerische Strategie sorgt für Lebendigkeit und Authentizität.
- Der „Badenweiler Marsch, de[r] Lieblingsmarsch des toten Führers“ (Z. 52), fungiert als Symbol für die Dunkelheit und Bedrohung der nationalsozialistischen Vergangenheit und korrespondiert mit der Macht Adolf Hitlers.
- Die Wiederholungen (z. B. „Socken“, Z. 1; „verdiente“, Z. 1, 2; „zu Hause“, Z. 2, 3) verbinden die ersten drei Zeilen miteinander und weisen auf die bescheidenen Lebensverhältnisse des Fräuleins sowie die Monotonie und Einfachheit ihres Alltags hin.
- Die Metapher „Zug“ (Z. 6) in der Äußerung des Vaters „bei Hitler war's anders, da war Zug drin“ (Z. 5-6) steht laut ihm für die Dynamik und den Schwung der Vergangenheit, in der das nationalsozialistische Regime noch die Macht hatte. Dies kontrastiert mit der Tristesse der Nachkriegszeit. Auch das „Glühwürmchenflimmere“ (Z. 3) steht metaphorisch für die langweilige und eintönige Radiomusik, die der Vater hört und die das Fräulein nicht leiden kann.
- Die Klimax in Z. 9-11 verdeutlicht, dass die junge Generation mit dem kritischen Erbe der Eltern nichts zu tun haben will und den Krieg so schnell wie möglich vergessen möchte.
- Anaphern (z. B. „Man stieß an, man trank aus, man legte den Krug auf den Tisch, man wartete auf die zweite Füllung“., Z. 34 f.; „Auch die Amerikaner wurden von der Stimmung mitgerissen. Auch die Amerikaner erhoben sich. Auch die Amerikaner summten den Marsch des Führers, schlugen mit Füßen und Fäusten den Takt.“, Z. 58-60) betonen die gesellige, ausgelassene und lebendige Stimmung der Menschen im Bräuhaus.
- Der Autor verwendet die Hyperbel „in ununterbrochenem Fluß“ (Z. 31), um die Intensität der Szene im Bräuhaus zu verstärken und den Kontrast zwischen dem Wunsch nach Freiheit und Normalität und politischer Realität darzustellen.
- Ebenfalls wird mit Antithesen gearbeitet (z. B. „Die amerikanischen Jungen waren dem Fräulein lieber als die deutschen Jungen. Die amerikanischen Jungen erinnerten das Fräulein nicht an das grämliche Zuhause. [...] Um die amerikanischen Jungen war Luft, die Luft der weiten Welt; der Zauber der Ferne, aus der sie kamen, verschönte sie “, Z. 15-20), um die gesellschaftlichen Widersprüche zu verdeutlichen.
- Die rhetorischen Fragen („Warum so ernst sein? warum an Vergangenes, Begrabenes, Vergessenes denken?“, Z. 57 f.) erzeugen eine nachdenkliche, reflektierte Stimmung und haben zugleich ironischen und kritischen Charakter, weil der Autor durch dieses Stilmittel indirekt Zweifel und Kritik an der politischen Entwicklung und Nationalstolz-Darstellung in der Nachkriegszeit anbringt.
- Der Text beginnt mit der Beschreibung eines namenlosen Fräuleins, das in einem einfachen Warenhaus am Bahnhof Socken verkauft und dabei nur wenig Geld verdient. Das meiste von dem, was sie bei ihrer Arbeit verdient, gibt sie zu Hause ab (Vgl. Z. 2). Nach dem Krieg waren es vor allem die Frauen, die arbeiten gehen mussten, um die Wirtschaft wieder aufzubauen, weil viele Männer an der Front ums Leben kamen. Die Menschen litten in der Nachkriegszeit stark unter der wirtschaftlichen Not. Das Fräulein sehnt sich nach einem besseren, fröhlichen und unabhängigen Leben (Vgl. Z. 10 ff.). Es versucht vor der Realität zu fliehen und ist ungern zu Hause (Vgl. Z. 2 ff.) bei ihren „unglücklich[en]“ (Z. 12 f.) Eltern, die in Einsamkeit und Isolation leben. Sie empfindet die monotone und langweilige Atmosphäre zu Hause als fremd (Vgl. Z. 2 f.) und sehnt sich nach einem Neuanfang. Das Fräulein repräsentiert die junge Generation, die versucht, mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen und sich in der neuen Welt zurechtzufinden, dabei jedoch ständig auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist. Die Eltern des Fräuleins hingegen können die Vergangenheit nicht so einfach hinter sich lassen. Der Vater hört Radiomusik, die an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern soll (Vgl. Z. 3 f.). Diese kulturelle Tradition und die damit verbundene Vergangenheit lehnt das Fräulein jedoch ab. Es beschreibt die Musik als „das zäheste Erbe des Großdeutschen Reiches“ (Z. 4).
- Der Textabschnitt bildet die Nachkriegsrealität detailgetreu ab. Kriegserfahrungen, Verlust und Zerstörung durch den Krieg wie z. B. die „alte ausgebrannte Wohnung“ (Z. 6) der Familie und die „verbrannte Aussteuer“ (Z. 7 f.), die für das verloren gegangene Eigentum steht, werden thematisiert. Wie stark die Eltern noch von der Hitler-Ära gezeichnet sind, wird neben den Gedanken der Mutter auch an dem Kommentar des Vaters „Bei Hitler war’s anders!“ (Z. 5) beim Lesen der aktuellen Zeitung deutlich. Man könnte meinen, der Vater sehnt sich nach der Vergangenheit, die von deutlich mehr Begeisterung und Schwung lebte.
- Die amerikanische Präsenz im Land und ihr enormer Einfluss auf die deutsche Gesellschaft, insbesondere die hoffnungsvolle jüngere Generation, zeigt sich u. a. daran, dass das Fräulein eine Vorliebe und Faszination für amerikanische Jungen hat (Vgl. Z. 15 ff.). Die Jungen stehen für Unbeschwertheit, Freiheit und Abenteuer. Nach diesem Gefühl sehnt sich das Fräulein sehr. Es möchte die Zweifel und Ängste aus der Vergangenheit, „die ewige Einschränkung, das ewige Nach-der-Decke-Strecken, die Wohnungsenge, die völkischen Ressentiments, das nationale Unbehagen, das moralische Mißvergnügen“ (Z. 17-19) endlich ablegen. Es bestehen Kontraste zwischen diesen beiden Welten. Durch die Jungen hat das Fräulein die Möglichkeit, die „Luft der weiten Welt“ (Z. 19) zu schnuppern und neue Hoffnung zu schöpfen.
- Auch die Freude, Euphorie und Entspannung in Bräuhäusern, nach denen sich die Menschen nach dem Krieg gesehnt haben, ist typisch für die Nachkriegszeit. Das Bier hat sich in Deutschland als nationales Symbol der „Vaterlandsliebe“ (Z. 47) etabliert und steht für Tradition (Vgl. Z. 46). Außerdem sorgt es für ein Gefühl der Gemeinschaft und des Verbundenseins (Vgl. Z. 40-42), auch zwischen den Deutschen und US-Amerikanern (Vgl. Z. Vgl. Z. 50 f.; Z. 58-61). Die Menschen betrinken sich oder gehen Tanzen, um die Traurigkeit ihres Alltags zu überwinden und sich abzulenken (Vgl. Z. 25 ff.). Auch das Fräulein möchte der Vergangenheit dadurch entfliehen (Vgl. Z. 25 f.). Doch auch in den Bräuhäusern spielt man zu dieser Zeit „die Glühwürmchen-Musik“ (Z. 17), die das Fräulein als Bezeichnung für Musik aus der nationalsozialistischen Vergangenheit verwendet. Die gesamte Szenerie spiegelt ebenfalls die Unsicherheit, Verwirrung und Orientierungslosigkeit der Menschen in der Nachkriegszeit und die Kontraste zu dieser Zeit wider.
- Der Romanauszug stellt traditionelle und moderne Elemente in einen Gegensatz zueinander. Die Menschen leben unter amerikanischer Besetzung (Vgl. Z. 45 ff.) und trotzdem gibt es noch bestimmte Einflüsse der vorherigen Weltordnung aus dem Dritten Reich. Die nationalsozialistische Kultur und ihre Symbole haben weiterhin Auswirkungen auf das Denken und Leben der Menschen, wie bspw. an der Vorliebe für Bier und dem Spielen von Musik, die aus der nationalsozialistischen Vergangenheit stammt, erkennbar ist. Auch der „Badenweiler Marsch“ (Z. 52), der als Lieblingsmarsch Hitlers galt, ist als Symbol aus dem Dritten Reich weiterhin präsent. Der letzte Satz des Textauszugs „Es war eine warme rein menschliche Verbrüderung ohne politische Absicht und diplomatischen Handel.“ (Z. 61 f.) soll deutlich machen, dass die Begegnung in den Brauhäusern frei von politischen oder diplomatischen Angelegenheiten ist und stattdessen die Geselligkeit, Freude und politische Unschuld im Vordergrund stehen soll.
- Neben der Ausgelassenheit und Freude der Menschen bleiben die Menschen in der Verunsicherung und Konformität aus dem Dritten Reich verharren. Die Ambivalenz der Gesellschaft gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus wird ebenfalls deutlich. Die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands ist ein wichtiger Aspekt der Nachkriegszeit. Auch die Figuren im vorliegenden Textabschnitt (das Fräulein und ihre Eltern) gehen jeweils unterschiedlich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit um.
- Es besteht ein gesellschaftliches Chaos zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der politische, gesellschaftliche und soziale Wandel sorgt für ein Gefühl des Verlorenseins in den Menschen. Dieses Gefühl versuchen sie durch Ablenkung zu verdrängen. Dadurch wird auch die politische Realität tabuisiert. Trotz der Ausgelassenheit herrschen eine gewisse negative, unbehagliche Grundstimmung und politische Spannungen („Die Stimmung war den Amerikanern nicht günstig“, V. 45). Auch Vorurteile, die rassistische Tendenzen aus der nationalsozialistischen Vergangenheit aufweisen, kommen zum Ausdruck. So wird im Bräuhaus darüber geredet, dass ein Schwarzer einen Einheimischen getötet hat (Vgl. Z. 42-45), was wiederum Spannungen und Vorurteile in der Gesellschaft verstärkt.
Fazit
- Der Textauszug verdeutlicht, wie vielschichtig und ambivalent die Konfrontation mit der Vergangenheit in der Nachkriegszeit abläuft und wie stark die Gesellschaft von der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt ist. Die Komplexität dieser Zeit des gesellschaftlichen Wandels zeigt sich an den unterschiedlichen Spannungen, die von politischer, wirtschaftlicher und familiärer Art sind.
- Ebenfalls wird der Versuch eines normalen sozialen Lebens in der Nachkriegszeit mit seiner Stimmung und Atmosphäre abgebildet. Der Lebensalltag und die Gefühle der Menschen in der Nachkriegszeit werden jedoch hauptsächlich von Unsicherheit, Aussichtslosigkeit und Hoffnungslosigkeit überschattet. Interessant sind jedoch die individuellen Strategien und Maßnahmen, mit denen die Charaktere ihre Vergangenheit bewältigen.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Die Geschichte der Novelle Mario und der Zauberer wurde von Thomas Mann, einem der prominentesten Gegner des Nationalsozialismus verfasst. Sein Werk spielt bereits in den 1920er-Jahren. Zu dieser Zeit stieg der Nationalsozialismus zwar bereits auf, zur absoluten Machtergreifung kam es jedoch erst ab 1933, als Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Das Werk konzentriert sich darauf, wie stark ein autoritäres Regime eine Gesellschaft beeinflussen kann.
- Beide Werke machen deutlich, welchen enormen Einfluss Krieg und Totalitarismus auf das gesellschaftliche Klima haben können. Im Folgenden soll näher analysiert werden, inwiefern sich Unterschiede und Parallelen zwischen dem Roman Tauben im Gras und der Novelle Mario und der Zauberer im Hinblick auf das jeweils vorherrschende gesellschaftliche Klima ergeben.
Hauptteil
- Zeitpunkt und historischer Kontext: Die Themen Zweiter Weltkrieg, Faschismus und Nationalismus spielen in beiden Werken eine wichtige Rolle, nur werden sie jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten betrachtet. Koeppens Werk Tauben im Gras spielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es ist die Phase des Neubeginns und des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Autor stellt das Lebensgefühl und die Herausforderungen der Menschen zu dieser Zeit dar. Im Gegensatz dazu wird in Mario und der Zauberer der Aufstieg des Faschismus in Italien thematisiert. Thomas Mann untersucht die aufkommende Gefahr und die Verbreitung des italienischen Faschismus in den 1920er-Jahren. Die unterschiedlichen Orte des Geschehens (Torre di Venere und München) tragen zu verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Kontexten bei. In Mario und der Zauberer hat der Faschismus noch nicht die Macht ergriffen. Bei Thomas Mann geht es um die Bedrohung individueller Freiheit und die menschliche Manipulation durch Macht sowie um die Frage, wie die Gesellschaft durch das aufkommende faschistische Regime korrumpiert wird. Sein Fokus richtet sich nicht auf das Leben nach dem Krieg. In Mario und der Zauberer erhält der Leser ein Bild des Faschismus und seinen Auswirkungen noch vor der Machtergreifung Hitlers. Die Ideologien des Faschismus in Italien wiesen nationalistische, fremdenfeindliche und rassistische Züge auf. Später kam der Faschismus auch nach Deutschland, in Form des Machtaufstrebens des Nationalsozialismus. Auch das Ziel des Nationalsozialismus war es, eine nationale und einheitliche Volksgemeinschaft zu schaffen. In der Forschung wird die Darstellung des Faschismus und seiner Gefahren in Mario und der Zauberer häufig als Warnung vor der Ausbreitung dieser Strömung verstanden.
- Hoffnung auf bessere Lebensumstände: Der Ursprung der absoluten Unterwerfung der Menschen unter dem Faschismus bzw. Nationalismus liegt in der Unzufriedenheit der Menschen und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Menschen hoffen auf einen Ausweg aus der Armut, Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Not durch ihren politischen Diktator. Die Wünsche, Emotionen und Ängste der Bevölkerung wurden auf politischer Ebene instrumentalisiert.
- Kollektivismus, Massenbildung und Vaterlandsliebe: Das Publikum in Mario und der Zauberer möchte seine Freiheit verteidigen, doch es gelingt ihm, aufgrund der eigentümlichen Faszination am Spektakel auf der Bühne nicht, zu gehen. Das Beeinflussungsgeschehen kann nicht abgebrochen werden und es herrscht eine unbehagliche Stimmung. In Bezug auf die kollektive Massenbildung, die vom Faschismus bzw. Nationalsozialismus ausgeht, kann man an dieser Stelle die Bildung eines Kollektivs und die Wehrlosigkeit der Menschen, die später auch in Deutschland besteht, deutlich erkennen. Trotz der Unsicherheit und Skepsis gehorchten die Menschen ihrem Diktator und unterwarfen sich ihm. Die übertriebene Vaterlandsliebe und die Tatsache, dass der Faschismus auch zum Teil der Erziehung der Kinder wird, kann an den patriotischen Kindern in Mario und der Zauberer deutlich gemacht werden. Die unangenehm aufgeladene Atmosphäre und der extreme Kollektivismus werden auch im Bräuhaus in Tauben im Gras erkennbar.
- Fremdbestimmung und eigener Wille: In Mario und der Zauberer wird davon erzählt, wie das Publikum in einer Zauberschau von dem auf der Bühne auftretenden Zauberer bzw. Hypnotiseur namens Cipolla gedemütigt, verführt und manipuliert wird. Der Zauberkünstler entzieht den Zuschauern im Laufe der Zauberschau ihren Willen. Willensfreiheit existiert laut den Worten des Zauberers nicht (Vgl. S. 67). Die Willensfreiheit wird durch die Hypnose der Menschen unterdrückt. Stattdessen wird ihnen ein fremder Wille aufgedrängt. Die meisten Menschen merken nicht, dass es sich um eine Hypnose handelt, andere hingegen versuchen sich der Fremdbestimmung zu widersetzen. Diese Versuche bleiben jedoch erfolglos. Der Zauberer macht nationalistische und patriotische Bemerkungen. Es sind Parallelen zwischen der Figur Cipolla und dem faschistischen Diktator Italiens, Mussolini und seiner sogenannten „Schreckensherrschaft“ (S. 20), erkennbar. Den Menschen wird irrtümlich suggeriert, dass sie durch die Unterwerfung unter den Willen anderer Freiheit erlangen. Es handelt sich jedoch nur um die Entwürdigung der Menschen, indem sie sich dem fremden Willen unterwerfen. Die Menschen lassen sich durch das rhetorische Geschick des Führers blenden. Die Sprache des Zauberers ist aber eigentlich nur negativ, nationalistisch und menschenverachtend. In Tauben im Gras hat man als Leser*in hingegen das Gefühl, dass bspw. das Fräulein die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands kritisch beäugt und sich mit den patriotischen Bemerkungen und dem traditionellen Lebensstil ihrer Eltern nicht komplett zufriedengibt.
- Fremdenfeindlichkeit: Als eine Folge des Faschismus bzw. Nationalismus galt die kulturelle Diskriminierung von Minderheiten. Sowohl in dem vorliegenden Textauszug des Romans Tauben im Gras als auch im Werk Mario und der Zauberer wird ein kritischer Blick auf die Themen Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass geworfen. Die Existenz von Vorurteilen und Stereotypen gegenüber Fremden führt zu enormen gesellschaftlichen Herausforderungen und beeinträchtigt die Beziehung zwischen Einheimischen und Fremden, wie an dem Gerücht über die Ermordung eines Taxifahrers durch einen schwarzen Soldaten in Tauben im Gras deutlich wird. Doch auch der Erzähler und seine Familie in Mario und der Zauberer werden Opfer von Ausländerfeindlichkeit im Hotel ihres kleinen Urlaubsortes (Vgl. S. 13).
Ende
- Der Textauszug des Romans Tauben im Gras und die Novelle Mario und der Zauberer beinhalten eine jeweilige Darstellung des gesellschaftlichen Klimas. Beide Werke sind politisch geprägt, lassen sich jedoch zeithistorisch unterschiedlich einordnen. Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Fremdbestimmung, Unterwerfung des Volkes und Fremdenfeindlichkeit lassen sich jedoch allemal feststellen. Ebenfalls thematisieren beide Autoren die Gefahr, die vom Faschismus bzw. Nationalsozialismus ausgeht.
- Es wird außerdem deutlich, wie leicht sich Menschen in Zeiten von politischer Umstrukturierung und persönlicher Not beeinflussen lassen und zu manipulieren sind. In Tauben im Gras zeigt sich dies an der Verklärung der Vergangenheit durch die Eltern des Fräuleins und in Mario und der Zauberer wird die Manipulation an der unreflektierten Unterwerfung des Publikums deutlich.