Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LK
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen

Vorschlag C

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema: Machtausübung durch Sprache
Angela Lehner: Vater unser (2019)
Georg Büchner (* 1813 - † 1837): Woyzeck (1836/37)
Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Faust I (1826)
Aufgabenstellung:
1
Fasse den vorliegenden Auszug aus Angela Lehners Roman Vater unser zusammen und analysiere das Gesprächsverhalten der beiden Figuren. (Material)
(40 BE)
2
Erläutere – auch unter Rückbezug auf den vorliegenden Textauszug aus Lehners Vater unser (Material) – das jeweilige Arzt-Patienten-Verhältnis in Büchners Drama Woyzeck (Szene „Beim Doktor“) und Goethes Drama Faust I (Szenen „Vor dem Tor“ V. 981 – 1055 und „Studierzimmer II“ V. 2001 – 2036).
(35 BE)
3
In Goethes Spruchsammlung Maximen und Reflexionen, die nach seinem Tode 1833 erschien, bemerkt Goethe:
„Wer klare Begriffe hat, kann befehlen.“
Diskutiere – ausgehend von diesem Zitat und auch unter Berücksichtigung deiner Ergebnisse aus Aufgabe 1 und 2 – das Verhältnis von Sprache und Macht.
(25 BE)
Material
Vater unser (2019)
Angela Lehner
Die Protagonistin des Romans, Eva Gruber, ist zwangsweise, aber ohne Angabe von Gründen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Am vierten Tag hat sie das erste Gespräch mit ihrem Psychiater.
1
Wer nicht mehr neu ist, braucht auch nicht mehr in den grünen Papierhandtuchanzügen
2
herumzulaufen. Stattdessen habe ich ein ansehnliches Repertoire an Jogginganzügen
3
zur Verfügung gestellt bekommen. Ich muss sagen, das ist gar nicht so schlecht: Den
4
ganzen Tag in Gummizug-Hosen flanieren und zu den Fütterungszeiten im Aufent-
5
haltsraum abhängen. Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders.
6
Meine Schritte hallen durch den Gang. Und es hilft nichts, man muss es sagen: Der
7
Gang ist schon schön. Da herrscht noch der Glanz anderer Zeiten. In den Patientenpa-
8
villons hört das ja gleich auf mit dem Schein, sobald man das Stiegenhaus verlässt und
9
durch die Stationstür geht. Da beginnt der Plastikboden, und womit könnte man besser
10
ausdrücken, dass man am Boden der Tatsachen angekommen ist, als mit Plastikboden;
11
ja, Plastikboden ist eigentlich tatsächlich der Boden der Tatsachen. Aber hier auf den
12
Gängen im ambulanten Therapiegebäude gibt es kein Plastik. Die blauen Ornamente
13
begleiten einen vom Erdgeschoss über vier Stockwerke hinweg. Bis ins Dachgeschoss,
14
wo Doktor Korb sein Büro hat. Bevor ich eintrete, bleibe ich stehen und luge² in das
15
Zimmer. Doktor Korb nickt mir, eine Hand an der Türklinke, zu.
16
Ich trete über die Schwelle, mache ein paar Schritte, bleibe mitten im Raum stehen und
17
warte. Er schließt die Tür, geht an mir vorbei zu den Sitzmöbeln, bedeutet mir dann
18
wieder mit einem Nicken, dass ich weitergehen soll. Als führte er mich an einer un-
19
sichtbaren Leine. Und genau wie ein braves Hündchen trotte ich seiner Halbglatze hin-
20
terher und mache Platz. Auf einem Diwan³, der mit speckigem Leder bezogen ist. Die
21
eine Seite flach, auf der anderen bäumt sich in elegantem Bogen eine Lehne auf. Als
22
hätte sich ein Ohrensessel mit einem Bett gepaart. Ich rücke ein Stück nach rechts, und
23
einer der Knöpfe, die sich in gleichmäßigen Abständen auf dem Speckbezug verteilen
24
wie Fettaugen auf einer Wurstscheibe, gibt ein Geräusch von sich. Ich rücke noch ein
25
Stück weiter, um Missverständnisse zu vermeiden. Doktor Korb setzt sich mir gegen-
26
über in einen Ohrensessel, der im gleichen Stil gehalten ist wie der Diwan.
27
Hinter ihm steht ein großer Schreibtisch, Mahagoni, denke ich. Nicht, dass ich wüsste,
28
wie Mahagonimöbel aussehen, aber wenn sie tatsächlich existieren, dann wohl in die-
29
sem Büro. Regale aus demselben Holz, Bücher, Zertifikate. An der gegenüberliegen-
30
den Wand eine Vitrine. Flaschen voller bernsteinfarbenem Alkohol. Ich schnaufe und
31
merke, wie Doktor Korb mich beobachtet. Da entdecke ich auf dem niedrigen Tisch
32
zwischen ihm und mir ein Schälchen mit bunten Holzfrüchten. Ungläubig nehme ich
33
einen rot bemalten Holzapfel und rieche daran. Badezimmer, denke ich und freue
34
mich. Ich schaue zu Doktor Korb hinüber und halte den Apfel in die Höhe.
35
Er verzieht keine Miene. Er scheint den Apfel nicht lustig zu finden und auch nicht die
36
kleine Holzbanane oder die blaue Himbeere, die genauso groß wie die Banane ist. Die
37
Holzfrüchte, den bernsteinfarbenen Alkohol, sein ganzes klischeedurchtränktes Büro:
38
nichts davon findet dieser Korb lustig. Kurz frage ich mich, ob ich ihm eine Freude
39
machen und mich über den Diwan werfen sollte, wie eine Diva im Schwarz-Weiß-
40
Film. Ein Handgelenk an der Stirn, das andere am Bauch, seufzen. Nur um das Bild
41
eines Psychiater-Büros für ihn zu komplettieren. Vollendung, denke ich mir, ist immer
42
ausreizbar.
43
Korb bleibt stumm, und ich höre eine Uhr ticken, nach der ich mich nicht mehr umzu-
44
drehen brauche. Die Lücken im Kopf haben sich geschlossen, spätestens seit den Holz-
45
früchten weiß ich alles über diesen Raum.
46
Nach einer weiteren Minute sagt Korb: „Guten Tag.“
47
Ich wundere mich.
48
„Guten Tag“, sag ich.
49
Dann nickt Korb und sagt wieder: „Guten Tag.“
50
Ich lächle, vielleicht steckt doch Humor in diesem Menschen. Ich hebe die Hände ne-
51
ben die Ohren und beginne, mit ihnen zu wackeln, während ich auf dem Diwan von
52
links nach rechts schaukle: „Gutentag, Gutentag, ich will mein Leben zurück“⁴, sag
53
ich.
54
Stille. Dann notiert Doktor Korb sich etwas auf dem Klemmbrett.
55
„Wissen Sie“, sag ich, „die richtige Lampe fehlt noch.“
56
„Wie bitte?“, Korb hebt den Kopf.
57
„Na ja, im Zimmer hier: eine Lampe.“
58
„Soll ich das Licht einschalten?“, fragt er.
59
„Nein“, sag ich und komme nicht umhin, die Augen zu verdrehen. Schließlich ist es
60
helllichter Tag. Die Sonne knallt durch die Fenster herein, und auch Doktor Korb
61
schwitzt unter seinem weißen Arztkostüm wie die Neueinlieferungen in ihren Papier-
62
handtuchanzügen.
63
„Für den Schreibtisch“, sag ich und deute überflüssigerweise mit dem Kinn zum Tisch,
64
als wüsste er nicht selbst, wo er steht.
65
„So eine kleine grüne“, sag ich und beuge mich nach vorne. Ich lege die Hände auf
66
den Couchtisch und fahre dann in der Luft die Form der Lampe nach. Auch imaginäre
67
Lampen müssen auf echten Tischen stehen.
68
„So“, sag ich, „hier golden und da oben grün.“ Ich ziehe die Hände auseinander: „Grü-
69
nes Glas.“ Ich richte mich wieder auf und rutsche auf dem Diwan nach hinten: „Wie
70
in den Bibliotheken“, sag ich, „in den alten. Am Heldenplatz⁵ zum Beispiel.“
71
Korb schaut zur Seite, nickt. Einen Moment lang befürchte ich, er könnte gleich wieder
72
„Guten Tag“ sagen. Deswegen beschließe ich, die Situation selbst zu retten. Ich starte
73
die Therapie einfach mal alleine, der Arzt kann ja später einsteigen.
74
„Ich bin Eva Gruber“, sag ich. „Mit meiner Familie ist es schwierig.“
75
Doktor Korb nickt. Das ist zumindest ein Anfang.
76
„Mein Vater“, sag ich, „hat sich umgebracht.“
77
Er nickt wieder.
78
„Und meine Mutter ist ja auch tot.“
79
Der Arzt zieht die Augenbrauen zusammen.
80
„Meinen Bruder“, sag ich, „hab ich alleine großgezogen.“
81
Ich lege den Kopf schief und schwelge in der Erinnerung: „Jaja“, sag ich, „das waren
82
noch Zeiten.“
83
Ich lehne mich vor und schaue dem Psychiater in die Augen: „Wir haben wirklich ein
84
inniges Verhältnis, mein Bruder und ich. Ich habe ihn ja gewissermaßen alleine am
85
Leben erhalten. Wissen Sie, an meinen metaphorischen Zitzen hab ich ihn gesäugt, wie
86
bei diesen Wölfen in Rom.“
87
Mit der Hand mache ich eine kreisende Bewegung vor meiner linken Brust: „Wissen
88
Sie, was ich meine?“
89
Der Arzt hebt den Blick von meiner Brust und schaut mir ins Gesicht: „Was?“
90
„Wölfe in Rom“, sag ich, „sind Sie total ungebildet, oder was? Diese Legende. Die
91
Menschen haben an den Zitzen von dem Wolf getrunken, in Rom; oder die Wölfe an
92
den Zitzen von den Menschen. Umgekehrt würde es aber mehr Sinn machen. So ein
93
Wolf hat ja mehr Zitzen zum Andocken.“
94
Wieder lasse ich meine Hände vor den Brüsten kreisen und denke nach. „In Deutsch-
95
land“, sag ich, „soll es ja auch wieder Wölfe geben.“
96
„Frau Gruber“, unterbricht Doktor Korb mich.
97
„Ja?“, sag ich und lasse die Hände sinken.
98
„Wissen Sie, warum Sie hier sind?“, fragt er.
99
„Ja“, sag ich und stecke die Hände in die Hosentaschen.
100
Es ist beruhigend zu sehen, dass der Arzt jetzt auch an der Therapie teilnimmt.
101
„Können Sie mir dann bitte in eigenen Worten erzählen, warum Sie hier am OWS
102
aufgenommen wurden?“
103
„OWS“ ist Slang für Otto-Wagner-Spital, die Leute hier nutzen es wie Studierende die
104
Wörter „Bib“ oder „Stip“⁶⁷. Das OWS ist die Hood⁸ vom Korb. Darum merkt er nicht,
105
dass er Slang redet. Er schaut mich abwartend an.
106
„Hergekommen bin ich mit der Polizei. Vor drei Tagen.“
107
Ich nicke: „Fast schon vier Tage bin ich da.“
108
Korb stimmt mir zu.
109
„Richtig“, sagt er, „wir sind uns also einig, seit wann Sie da sind und wie Sie herge-
110
kommen sind. Das Warum müssten wir noch klären.“
111
Ich nehme das Gummiband, das ich ums Handgelenk trage, und binde mir die Haare
112
zusammen. „Also, die Polizei hat mich geholt. Ich war da sehr kooperativ, muss ich
113
sagen. Ich bin eingestiegen, und dann hat man mich hergebracht. Gut“, sag ich, weil
114
mir die Therapie jetzt schon auf die Nerven geht. Ich klatsche mir mit den Händen auf
115
die Schenkel: „War auch ein bisschen viel heute. Wir sehen uns ja morgen wieder.“
116
Ich lächle Korb an, stehe auf und gehe zur Tür. Ich drücke die Klinke nach unten, aber
117
die Tür bewegt sich nicht: abgesperrt. „Korb“, sag ich und drehe mich um, „das wäre
118
so ein cooler Abgang gewesen. Sie haben es mir versaut.“
119
„Frau Gruber“, sagt er, „das ist keine Show, das ist Ihre Therapie.“
120
„Ja“, sag ich und gehe zum Diwan zurück, „wenn das meine Show wäre, würde es
121
auch bessere Snacks geben.“ Ich deute auf die Schüssel mit den Duftfrüchten.
122
„Warum sperren Sie überhaupt die Tür ab?“, ich fläze mich wieder auf das Möbel.
123
„Das ist ja schon grenzwertig. Ein grenzwertiger Mensch sind Sie.“
124
„So ist das bei mir“, sagt Korb und lehnt sich jetzt ebenfalls entspannt zurück. Es ist,
125
als hätte sich gerade was aufgelöst zwischen uns. „Sie können auch gern zum Kollegen
126
wechseln. Bei mir bleibt die Tür zu.“
127
„Schon gut“, sag ich und hebe die Hände, „kein Grund, gleich beleidigt zu sein.“
128
Korb hält wieder das Klemmbrett im Anschlag und wartet, dass ich weiterspreche. Na
129
gut, denke ich.

Anmerkungen zur Autorin:
Angela Lehner (* 1987), österreichische Schriftstellerin, erhielt für ihren Debütroman „Vater unser“ mehrere Literaturpreise.
Aus: Angela Lehner: Vater unser, Berlin 2019, S. 25 – 31.

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?