Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LK
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen

Vorschlag B

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema: Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung
Rainald Goetz (* 1954): Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft (2012)
Aufgabenstellung:
1
Fasse den Textauszug aus Rainald Goetz' Roman Johann Holtrop zusammen. (Material)
(20 BE)
2
Analysiere die inhaltliche und sprachlich-formale Gestaltung des Textes. Berücksichtige dabei auch die persuasiv-manipulativen Mittel, die bei der öffentlichen Wahrnehmung und Inszenierung Holtrops eine Rolle spielen. (Material)
(45 BE)
3
Überprüfe die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Michael Kohlhaas und Kleists gleichnamiger Novelle und Holtrop (Material). Berücksichtige dabei die Selbstdarstellung und die Außenwahrnehmung durch den Erzähler uund durch andere Figuren.
(35 BE)
Material
Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft (2012)
Rainald Goetz
Die zentrale Figur in Rainald Goetz' Roman ist der 48-jährige Vorstandsvorsitzende Dr. Johann Holtrop, seit einigen Jahren Firmenchef der Firma Assperg mit 80000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von fast 20 Milliarden.
1
Holtrop saß in einem Besprechungszimmer des Grand Hyatt Honkong, als er auf seinem Blackberry
2
den Anfang des Porträts zu lesen bekam, das heute in Deutschland in der Wochenzeitung Die Woche
3
über ihn erschienen war. Unter der Überschrift DER ZUKUNFTSFREAK hieß es da: „Die Hälfte sei-
4
ner Arbeitszeit verbringt der rastlose Firmenchef in den USA.“ Die andere Hälfte, hätte es heißen
5
müssen, in Fernost, dort war Holtrop inzwischen sogar noch öfter als in New York. Hier hatte man
6
schon den ganzen Tag gearbeitet, wenn in Deutschland die Leute gerade erst ihre Computer anmach-
7
ten, das war ein täglicher Vorsprung, näher an der Zukunft ging hier die Sonne abends unter, hinter
8
den neuesten Hochhäusern auf der anderen Seite des Hafens im Dunst. Vor dem Fenster standen zwei
9
von Holtrops Gesprächspartnern, die eine Verhandlungspause erbeten hatten, und beredeten sich halb-
10
laut auf Chinesisch. [...]
11
Holtrop überflog den Text des Porträts. Die Tendenz war positiv, das war sofort zu sehen, das war das
12
einzige, was ihn interessierte. Die Journalistin berichtete von der Autofahrt nach Berlin, dann vom
13
Ende des Abends mit Leffers in der Paris Bar. Wie immer wunderte sich Holtrop, wie gut das klang,
14
was er in Interviews und Porträts schriftlich zu sagen bekam, was er angeblich gesagt hatte. Der Text
15
seiner Rede klang fertiger und besser, als das Gesagte sich beim Reden für ihn selbst angefühlt hatte.
16
Dieser Verwandlungseffekt gefiel Holtrop. „Was ist, ist, das langweilt mich!“, stand da, das hörte sich
17
gut an in Holtrops Ohren, das schaute gut aus, besser als der Gedanke, von dem er gar nicht mehr
18
wusste, dass er ihn so klar ausgesprochen hatte, sich in seinem Kopf dargestellt hatte, härter, zuge-
19
spitzter und radikaler, so wie die ganze Passage mit der Vision einer zukünftigen Wirtschaft, den
20
Weltentwürfen, dem von Holtrop gegen die Fachidioten in den Finanzabteilungen favorisierten visio-
21
nären Kapitalismus usw, Holtrop bekam beim Lesen Lust, ein ganzes Buch in dieser Art zu machen,
22
und sein Blick ging von dem kleinen textgefüllten Bildschirm seines Mobile hoch und durch das Fens-
23
ter des Hotelzimmers nach draußen, wo er dieses Buch in der Ferne schon vor sich sah, sein Leben,
24
seine Ideen, seine Philosophie: Johann Holtrop, Die Freiheit der Wirtschaft, eine Streitschrift, oder so
25
ähnlich. „Auch ein Roman wäre denkbar“, dachte Holtrop, man hatte ihm eine Professur angeboten, in
26
Wiefelspütz oder Wermelskirchen, egal, es gab Möglichkeiten jenseits der Maloche, daran fühlte sich
27
Holtrop durch diese Gedanken beim Blick aus dem Fenster erinnert: Assperg war nicht alles. Asien
28
brachte Holtrop jedesmal auf gute Ideen, das war die Ferne und der Osten vielleicht, die andere Luft
29
hier, die Kälte, die Wärme.
30
„Sagen Sie mal“, sagte Holtrop in Richtung von Magnussen, ,für wann haben Sie denn den Tisch be-
31
stellt?" und wendete sich zugleich, während Magnussen sein eigenes Telefongespräch unterbrach und
32
näher kam, wieder seinem Blackberry zu, um per Mail bei Dirlmeier zehn Exemplare der heutigen
33
Woche zu bestellen. Holtrop hatte natürlich kein Gespür dafür, dass das Porträt, das ihn so übertrieben
34
positiv zeigte, auf andere Leute verlogen, penetrant oder gar richtig abstoßend wirken, ihm dadurch
35
insgesamt sogar schaden könnte. Mitleidig und leicht blasiert schaute Magnussen auf den da sitzenden
36
Holtrop herunter, wie der konzentriert seine Tastatur beim Schreiben der Mail bediente, Magnussen
37
wartete und sagte nichts. Erst als er sich wieder abdrehte, um weiterzutelefonieren, reagierte Holtrop,
38
hob den Kopf und schaute Magnussen ungeduldig an: „Und?“ „Wie besprochen, acht. Wollen Sie ver-
39
schieben?“ „Wieso denn?!“ rief Holtrop mit lauter Stimme, weil die von ihm selbst initiierte Interak-
40
tion mit Magnussen ihn in diesem Moment mehr beanspruchte, als er erwartet hatte und als es ihm an-
41
genehm war. Holtrop startete zwar immer bis zu fünf Aktionen gleichzeitig, das entsprach seinem
42
Selbstbild vom hyperaktiven Mensch und Macher, der immer maximal unter Strom steht und den
43
Reichtum seiner inneren Vieldimensionalität kaum bändigen kann, aber in Wirklichkeit war er gar
44
kein echter Multitasker, im Gegenteil. Holtrop war Hektiker, permanent von der Vielzahl und Gleich-
45
zeitigkeit seiner Aktivitäten überfordert, überlastet, fahrig stolperte er der jeweils neuesten, letztgestar-
46
teten Aktivität, den Blick schon auf die übernächste gerichtet, hinterher, und die meisten angefangenen
47
Dinge blieben einfach nicht zuende gebracht irgendwo um ihn herum liegen. Diese strukturelle
48
Schlampigkeit von Holtrops Arbeitsweise hatte sich mit den Jahren, und speziell mit dem fulminanten
49
Aufstieg die Karriereleiter hoch nach oben, immer mehr verstärkt, verschlechtert und verschlimmert,
50
zuletzt hatte Holtrop als CEO einen Stab von fünfzehn Leuten unter sich, die alle nichts anderes
51
machten, als hinter ihm her aufzuräumen, die von ihm ungehemmt wirr angestoßenen Initiativen zu
52
verfolgen, zu sortieren, abzuschließen oder abzubrechen, und anstatt an sich selbst zu arbeiten und
53
seine Geistesverschlampung zu bekämpfen, hatte Holtrop sich, natürlich wieder auf die selbstverständ-
54
lichste Art, ganz das von seiner Hektik hervorgerufene Außenbild zu eigen gemacht, und so sah er sich
55
selbst als Anreger, Kreativkraftwerk, Genie der unkonventionellen Impulse, nicht als den verkomme-
56
nen Schlamper, der er in Wirklichkeit eben auch war.

Anmerkung zum Autor:
Rainald Goetz (* 1954), ein mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichneter deutscher Schriftsteller.
Aus: Rainald Goetz: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft, Berlin 2012, S. 169 – 172.

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?