Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LK
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen

Vorschlag C

Analyse eines pragmatischen Textes

Thema:
Gustav Seibt: Sire, geben Sie Begriffsfreiheit! (2019)
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Text von Gustav Seibt. Berücksichtige dabei den Gedankengang, die sprachlich-stilistische Gestaltung sowie die Intention des Textes.
  • (70 BE)
  • Nimm begründet Stellung zu Seibts Position zum Framing als Element öffentlicher Meinungsbildung in den Medien.
  • (30 BE)
Material
Sire, geben Sie Begriffsfreiheit! (2019)
Gustav Seibt
1
Man kann den Mond am Nachthimmel mit einer halbierten Aspirintablette vergleichen oder mit einer
2
silbernen Rasierschale, die halb im schwarzen Wasser steckt. Man kann von Bäumen sagen, dass sie
3
vom Wind geschüttelt werden oder dass sie sich langsam wiegen wie gesittete Tänzer auf einer vollen
4
Tanzfläche. Man kann von einem Himbeermund sprechen oder erklären, der Mund gleiche dem dun-
5
kelroten Siegel auf einem Brief, in dem nichts steht.
6
Metaphern!
7
Die drei auffälligsten der genannten stammen von Arno Schmidt (Aspirintablette), Hilary Mantel
8
(Tanzfläche) und Vladimir Nabokov (Siegellack). Metaphern beschreiben die Welt immer wieder
9
neu, je überraschender, desto lustbringender. Der Aha-Effekt entsteht durchs Wiedererkennen, durch
10
den plötzlichen Funkenflug zwischen sehr entfernten Gegenständen, etwa einem Gesicht und einem
11
Brief, in dem nichts steht.
12
Warum beschäftigen wir uns mit Dichtung und Literatur? Unter anderem, um Abstand und Freiheit
13
von der Sprache zu gewinnen, um durch ungewöhnliche Formulierungen zu erfahren, dass jede Rede
14
die Welt von einer anderen Seite zeigt, ja sie immer wieder neu schaffen kann, fast, als sähen wir sie
15
zum ersten Mal.
16
Gerade wird viel über „Framing“ gesprochen, weil die ARD vor zwei Jahren ein Diskussionspapier
17
erstellen ließ, in dem erklärt wird, wie sie sich der Öffentlichkeit, also den Gebührenzahlern, durch
18
Sprachregelungen angenehm machen kann. „Frames“, „Rahmen“, sollen sprachliche, vor allem meta-
19
phorische Vorgaben und Zusammenhänge sein, die die Wahrnehmungen und Weltauffassungen der
20
Menschen steuern. Praktisch wird zum Beispiel empfohlen, das Wort „Zwangsgebühr“ wegen seiner
21
negativen Assoziationen unbedingt zu meiden, sondern stattdessen von „unserer finanziellen Beteili-
22
gung“ zu sprechen.
23
Damit soll suggeriert werden, wir Gebührenzahler hätten Anteile an den öffentlich-rechtlichen Rund-
24
funkanstalten erworben, denn „die ARD ist von uns, mit uns und für uns geschaffen“, und das unter-
25
scheide sie von „medienkapitalistischen Heuschrecken“. „Heuschrecken“, das ist fast schon ein poeti-
26
sches Bild, wenn auch ein abgegriffenes, es assoziiert ursprünglich Kahlfraß, im kapitalismuskriti-
27
schen Rahmen aber feindliche Übernahmen durch börsennotierte Unternehmen.
28
Die Theorie des Framings glaubt nun, solche Sprachmanöver hätten eine unfehlbare, zwangsläufige
29
Wirkung, jedenfalls wenn man sie lange und konsequent genug betreibe. Sprache wirkt, heißt das, und
30
zwar vorrational, unbewusst, direkt über das Gehirn und seine Neuronen. Der Mensch habe nämlich
31
einen kognitiven Apparat (auch so eine Metapher), der es ihm erlaube, die Welt nur innerhalb solcher
32
Rahmungen aufzufassen. Einmal ist der Rundfunk eine Art genossenschaftliches Unternehmen mit uns
33
als Teilhabern, das andere Mal ein „profitwirtschaftlicher Sender“.
34
Nun könnte man sagen, dergleichen müsste sich überprüfen lassen, man könnte ja Finanzierungsquel-
35
len und Geschäftsmodelle vergleichen. Doch so denkt die Framingtheorie nicht. An der vielleicht
36
schrillsten Stelle des ARD-„Manuals“ schreibt die Verfasserin Elisabeth Wehling: „Entgegen dem
37
gängigen Mythos entscheidet der Mensch sich nicht ‚rein rational‘ und aufgrund einer ‚objektiven‘
38
Abwägung von Fakten für oder gegen Dinge, denn objektives, faktenbegründetes und rationales Den-
39
ken gibt es nicht, zumindest nicht in der Form, in der es der Aufklärungsgedanke suggeriert. Jedes
40
Verarbeiten von Fakten findet innerhalb von Frames statt.“ Und dann kommt das berühmte Beispiel
41
vom Glas Wasser, das entweder halb voll oder halb leer sei: „Eine Frage des Framings.“
42
„Rationales Denken gibt es nicht.“ Die Framing-Forschung zeige nämlich „eindeutig, dass Menschen
43
sich in ihren Entscheidungen von Frames anleiten lassen – ohne dies zu merken. Eine Margarine mit
44
‚nur 3 Prozent Fett‘ etwa regt weniger zum Kauf an als eine, die ‚97 Prozent fettfrei‘ ist.“ Ohne dies
45
zu merken: Da liegt der Clou, der heiße Kern dieses Denkens. Der Mensch der Framing-Forschung ist
46
eine bewusstlose Beute solcher Rahmungen oder Stimmungsmarker, er ist abhängig von Sprachbil-
47
dern, er wägt nicht ab, sondern er reagiert, er antwortet auf Reize, nicht auf Fakten und Argumente.
48
Dahinter stecken krude kognitionswissenschaftliche und linguistische Modelle, die allesamt auf eine
49
Naturalisierung des menschlichen Geistes hinauslaufen, als sei dieser in physiologischen Reaktions-
50
mustern gefangen. Da wird Gehirnforschung bemüht, da werden statistische Erhebungen und Befra-
51
gungen durchgeführt, die immer das beweisen, was schon vorausgesetzt war. Wenn es um das Denken
52
geht, ist vorzugsweise die Rede von „Gehirn“.
53
Das zweite Argument lautet, dass es gar nicht möglich sei, nicht zu framen. Es wird auch von Vertei-
54
digern des ARD-Papiers wie Stefan Niggemeier vorgebracht, die sich womöglich Wehlings kogniti-
55
onspsychologische Voraussetzungen sonst gar nicht zu eigen machen. Jede Weltwahrnehmung, jedes
56
Sprechen könne immer nur einen bestimmten Aspekt der Welt aufgreifen, isolierte Fakten gebe es oh-
57
nehin nicht, alles sei von Voraussetzungen abhängig und nur in Kontexten verständlich.
58
Dies ist nun einerseits unbestreitbar. Doch schon die Feststellung, dass es unmöglich sei, nicht zu fra-
59
men, tritt einen Schritt zurück und beschreibt den Mechanismus von außen, übrigens selbst auf meta-
60
phorische Weise. Warum sollte es unmöglich sein, die Beeinflussbarkeit eigener Wahrnehmungen und
61
Entscheidungen von Frames zu reflektieren? Die Framing-Forscherin, die das behauptet und mit Be-
62
fragungen untermauert, muss solche Abhängigkeit ja wohl bemerkt haben. Wenn angeblich „jedes“
63
Verarbeiten von Fakten in Frames stattfindet, dann lässt sich doch immerhin feststellen, dass diese im
64
Plural stehen, sich also wechseln lassen. Sonst wäre ein Framing-Manual ja auch überflüssig. [...]
65
Nun belehrt schon die Alltagsbeobachtung im politischen Streit gerade dieser Jahre, dass Framing kein
66
Schicksal ist. Die Leute wussten ja, was sie sagten, als sie sich über eine „Zwangsgebühr“ aufregten
67
und den vorübergehend ins Spiel gebrachten Ausdruck „Demokratie-Abgabe“ verhöhnten. Aktuelles
68
politisch unkorrektes Sprechen lebt sogar besonders stark vom Re- oder Umframen anders gemeinter
69
Sprechweisen. „Fachkräfte“ ist in Teilen eines bösartigen Diskurses längst zum Synonym für nicht
70
ausgebildete „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder gar für „Vergewaltiger“ geworden. Gerade peinlich ver-
71
miedene Ausdrücke lugen unter ihren Ersatzwörtern besonders hartnäckig hervor. Der Ausdruck be-
72
stimmt in solchen Fällen eben nicht das Denken, und das war schon immer so. Sklavensprache ist eine
73
Überanpassung, die das Gegenteil meint, nämlich den Aufstand.
74
Die Freiheit gegenüber der Sprache, die Dichtung und Literatur lehren, das poetische Spiel mit Meta-
75
phern, die sich wechseln und gegeneinander stellen lassen, ist nur die höchstentwickelte Form von
76
Möglichkeiten, die im Sprechen und Verstehen schon immer geläufig waren. Poesie ist, so lautet eine
77
grundlegende Einsicht, Entautomatisierung von Sprache; sie wendet die Aufmerksamkeit auf die In-
78
strumente der Weltwahrnehmung und des sozialen Umgangs, mit dem Ziel, beides zu beleben: den
79
Blick auf die Welt und die Möglichkeiten, sich in ihr zu bewegen. So bedeutet sie einen elementaren
80
Einspruch gegen die Behauptung von der Unausweichlichkeit sprachlicher Vorgaben jeder Art.
81
Doch peinlicher noch als die Selbstwidersprüchlichkeiten des Framing-Denkens ist ein anderer As-
82
pekt. Es teilt die Menschen nämlich in unterschiedliche Klassen ein, in die, die das Framen aktiv und
83
bewusst betreiben, sprachliche Vorgaben untersuchen und setzen, und in die anderen, die sich angeb-
84
lich „ohne dies zu merken“ bei ihren Entscheidungen von vorrationalen Frames leiten lassen. Es soll
85
also Grade des Wissens geben: eine kleine Gruppe von Wissenden, die Sozial- und Gefühlstechnolo-
86
gie betreiben, und eine bestenfalls halbbewusst dämmernde Masse, die davon bestimmt wird. Damit
87
wird Politik zu Propaganda, zur Werbeindustrie oder zum permanenten Wahlkampf, oder sie wird zur
88
Beute der Ängste, der Wut und des Hasses.
89
Dass es dies als Tendenz gibt, dass Spindoktoren und Wahlkampfmanager, Produktdesigner und
90
Kommunikationsberater oft so denken und sich danach ausrichten, ist nicht zu bestreiten. Doch was
91
bedeutet es für eine Demokratie und vor allem für ein Medienunternehmen, sich dies programmatisch
92
zu eigen zu machen, und zwar auf so plumpe und menschenverachtende Weise? Wenn man diese The-
93
orien ernst nimmt und zu Ende denkt, laufen sie auf die Leugnung der staatsbürgerlichen Gleichheit
94
und damit der republikanischen Verfassung hinaus.
95
Es gehört zu den oft erörterten welthistorischen Grundtatsachen, dass bei den Griechen die demokrati-
96
sche Polis gleichzeitig mit dem Theater und der Rhetorik entstand. Das Theater führte den Kampf
97
entgegenstehender Positionen modellhaft vor, die Rhetorik war die Wissenschaft von den Mitteln sol-
98
chen Streits. Beides versorgte das Leben in der Polis mit der Selbstreflexion, ohne die gewaltfreie Po-
99
litik nicht möglich ist. Wenn es einen Auftrag öffentlich-rechtlicher Medien gibt, dann liegt er in der
100
Nachfolge dieser Errungenschaften.

Anmerkungen zum Autor:
Gustav Seibt (* 1959) ist Literaturkritiker, Essayist und Historiker.
Aus: Seibt, Gustav: Sire, geben Sie Begriffsfreiheit! In: Süddeutsche Zeitung (23./24.02.2019), S. 17.
(Sprachliche Fehler in der Textvorlage wurden entsprechend der geltenden Norm korrigiert.)

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?