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Vorschlag A

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Georg Büchner (* 1813 - † 1837): Woyzeck (1836/37)
Gerhart Hauptmann (* 1862 - † 1964): Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama (1889)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Auszug aus dem naturalistischen Drama Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann auch unter Berücksichtigung des Epochenumbruchs um 1900. (Material)
  • (65 BE)
  • Setze den vorliegenden Auszug (Material) in Beziehung zu Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck.
  • (35 BE)
Material
Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama (1889)
Gerhart Hauptmann
Helene ist die jüngere Tochter des Bauern Krause, welcher durch Landverkauf reich geworden ist. Sie wächst in einem Mädcheninternat auf, da ihre Mutter dies auf dem Sterbebett bestimmt hat. Die Handlung des Dramas setzt ein, nachdem sie als junge Erwachsene zu ihrer Familie zurückgekehrt ist und festgestellt hat, dass diese moralisch verwahrlost ist (u. a. Alkoholabhängigkeit und Übergriffigkeit des Vaters und der Stiefmutter). Darunter leidet sie sehr. Kurz vor der folgenden Szene musste sich Helene frühmorgens um ihren betrunkenen Vater kümmern, was ihr sehr unangenehm ist und sie aufwühlt. Alfred Loth, ein Jugendfreund von Helenes Schwager, kommt zu Besuch, um soziologische Studien durchzuführen. Helene und Loth haben sich am Vortag kennengelernt, in dieser Szene treffen sie zum zweiten Mal aufeinander.
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Zweiter Akt
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Helene, aus der Haustür tretend, helles Sommerkleid, großer Gartenhut. Sie blickt sich rings um, tut
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dann einige Schritte auf den Torweg zu, steht still und späht hinaus. Hierauf schlendert sie rechts
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durch den Hof und biegt in den Weg ein, welcher nach dem Wirtshaus führt. Große Pakete von aller-
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hand Tee hängen zum Trocknen über dem Zaune: daran riecht sie im Vorübergehen. Sie biegt auch
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Zweige von den Obstbäumen und betrachtet die sehr niedrig hängenden rotwangigen Äpfel. Als sie
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bemerkt, daß Loth vom Wirtshaus her ihr entgegenkommt, bemächtigt sich ihrer eine noch stärkere
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Unruhe, so daß sie sich schließlich umwendet und vor Loth her in den Hof zurückgeht. Hier bemerkt
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sie, daß der Taubenschlag noch geschlossen ist, und begibt sich dorthin durch das kleine Zaunpfört-
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chen des Obstgartens. Noch damit beschäftigt, die Leine, welche, vom Winde getrieben, irgendwo fest-
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gehakt ist, herunterzuziehen, wird sie von Loth, der inzwischen herangekommen ist, angeredet.
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Loth. Guten Morgen, Fräulein!
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Helene. Guten Morgen! – Der Wind hat die Schnur hinaufgejagt.
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Loth. Erlauben Sie! Geht ebenfalls durch das Pförtchen, bringt die Schnur herunter und zieht den
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Schlag auf. Die Tauben fliegen aus.
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Helene. Ich danke sehr.
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Loth ist durch das Pförtchen wieder herausgetreten, bleibt aber außerhalb des Zaunes und an diesen
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gelehnt stehen. Helene innerhalb desselben. Nach einer kleinen Pause. Pflegen Sie immer so früh auf-
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zusein, Fräulein?
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Helene. Das eben – wollte ich Sie auch fragen.
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Loth. Ich –? nein! Die erste Nacht in einem fremden Hause passiert es mir jedoch gewöhnlich.
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Helene. Wie ... kommt das?
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Loth. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, es hat keinen Zweck.
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Helene. Ach, wieso denn nicht?
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Loth. Wenigstens keinen ersichtlichen, praktischen Zweck.
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Helene. Also wenn Sie irgend etwas tun oder denken, muß es einem praktischen Zweck dienen?
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Loth. Ganz recht! Übrigens ...
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Helene. Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht.
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Loth. Was, Fräulein?
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Helene. Genau das meinte die Stiefmutter, als sie mir vorgestern den „Werther“ aus der Hand riß.
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Loth. Das ist ein dummes Buch.
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Helene. Sagen Sie das nicht!
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Loth. Das sage ich noch mal, Fräulein. Es ist ein Buch für Schwächlinge.
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Helene. Das – kann wohl möglich sein.
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Loth. Wie kommen Sie gerade auf dieses Buch? Ist es Ihnen denn verständlich?
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Helene. Ich hoffe, ich ... zum Teil ganz gewiß. Es beruhigt so, darin zu lesen. Nach einer Pause.
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Wenn’s ein dummes Buch ist, wie Sie sagen, könnten Sie mir etwas Besseres empfehlen?
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Loth. Le... lesen Sie ... na! ... kennen Sie den „Kampf um Rom“ von Dahn?
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Helene. Nein! Das Buch werde ich mir aber nun kaufen. Dient es einem praktischen Zweck?
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Loth. Einem vernünftigen Zweck überhaupt. Es malt die Menschen nicht, wie sie sind, sondern wie
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sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich.
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Helene, mit Überzeugung. Das ist schön. Kleine Pause, dann. Vielleicht geben Sie mir Auskunft; man
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redet so viel von Zola und Ibsen in den Zeitungen: sind das große Dichter?
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Loth. Es sind gar keine Dichter, sondern notwendige Übel, Fräulein. Ich bin ehrlich durstig und ver-
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lange von der Dichtkunst einen klaren, erfrischenden Trunk. – Ich bin nicht krank. Was Zola und Ib-
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sen bieten, ist Medizin.
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Helene, gleichsam unwillkürlich. Ach, dann wäre es doch vielleicht für mich etwas.
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Loth, bisher teilweise, jetzt ausschließlich in den Anblick des tauigen Obstgartens vertieft. Es ist
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prächtig hier. Sehen Sie, wie die Sonne über der Bergkuppe herauskommt. – Viel Äpfel gibt es in Ih-
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rem Garten: eine schöne Ernte.
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Helene. Dreiviertel davon wird auch dies Jahr wieder gestohlen werden. Die Armut hierherum ist zu
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groß.
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Loth. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich das Land liebe! Leider wächst mein Weizen zum größten
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Teile in der Stadt. Aber nun will ich’s mal durchgenießen, das Landleben. Unsereiner hat so’n biß-
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chen Sonne und Frische mehr nötig als sonst jemand.
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Helene, seufzend. Mehr nötig als ... inwiefern?
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Loth. Weil man in einem harten Kampfe steht, dessen Ende man nicht erleben kann.
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Helene. Stehen wir anderen nicht in einem solchen Kampfe?
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Loth. Nein.
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Helene. Aber – in einem Kampfe – stehen wir doch auch?!
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Loth. Natürlicherweise! Aber der kann enden.
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Helene. Kann – da haben Sie recht! – und wieso kann der nicht endigen – der, den Sie kämpfen, Herr
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Loth?
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Loth. Ihr Kampf, das kann nur ein Kampf sein um persönliches Wohlergehen. Der einzelne kann dies,
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soweit menschenmöglich, erreichen. Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich glück-
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lich sein, so müßten es erst alle anderen Menschen um mich herum sein; ich müßte um mich herum
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weder Krankheit noch Armut, weder Knechtschaft noch Gemeinheit sehen. Ich könnte mich sozusa-
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gen nur als letzter an die Tafel setzen.
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Helene, mit Überzeugung. Dann sind Sie ja ein sehr, sehr guter Mensch!
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Loth, ein wenig betreten. Verdienst ist weiter nicht dabei, Fräulein, ich bin so veranlagt. Ich muß übri-
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gens sagen, daß mir der Kampf im Interesse des Fortschritts doch große Befriedigung gewährt. Eine
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Art Glück, die ich weit höher anschlage als die, mit der sich der gemeine Egoist zufriedengibt.
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Helene. Es gibt wohl nur sehr wenige Menschen, die so veranlagt sind. – Es muß ein Glück sein, mit
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solcher Veranlagung geboren zu sein.
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Loth. Geboren wird man wohl auch nicht damit. Man kommt dazu durch die Verkehrtheit unserer
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Verhältnisse, scheint mir; – nur muß man für das Verkehrte einen Sinn haben: das ist es! Hat man den
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und leidet man so bewußt unter den verkehrten Verhältnissen, dann wird man mit Notwendigkeit zu
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dem, was ich bin.
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Helene. Wenn ich Sie nur besser ... welche Verhältnisse nennen Sie zum Beispiel verkehrt?
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Loth. Es ist zum Beispiel verkehrt, wenn der im Schweiße seines Angesichts Arbeitende hungert und
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der Faule im Überflusse leben darf. – Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord
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im Krieg zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten tun,
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mit einem Menschenabschlachtungs-Instrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz
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herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile täte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt
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ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion
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zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden. Dies sind ei-
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nige unter Millionen, müssen Sie bedenken. Es kostet Mühe, sich durch alle diese Verkehrtheiten hin-
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durchzuringen; man muß früh anfangen.
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Helene. Wie sind Sie denn nur so auf alles dies gekommen? Es ist so einfach, und doch kommt man
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nicht darauf.
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Loth. Ich mag wohl durch meinen Entwickelungsgang darauf gekommen sein, durch Gespräche mit
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Freunden, durch Lektüre, durch eigenes Denken. Hinter die erste Verkehrtheit kam ich als kleiner
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Junge. Ich log mal sehr stark und bekam dafür die schrecklichsten Prügel von meinem Vater; kurz da-
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rauf fuhr ich mit ihm auf der Eisenbahn, und da merkte ich, daß mein Vater auch log und es für ganz
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selbstverständlich hielt, zu lügen [...].
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Helene. Unsereins wagt es gar nicht – wagt es gar nicht, so etwas für verkehrt anzusehen, höchstens
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ganz im stillen empfindet man es. Man empfindet es oft sogar, und dann – wird einem ganz verzwei-
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felt zumut.
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Loth. Ich erinnere mich einer Verkehrtheit, die mir ganz besonders klar als solche vor Augen trat. Bis
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dahin glaubte ich: der Mord werde unter allen Umständen als ein Verbrechen bestraft; danach wurde
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mir jedoch klar, daß nur die milderen Formen des Mordes ungesetzlich sind.
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Helene. Wie wäre das wohl ...
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Loth. Mein Vater war Siedemeister, wir wohnten dicht an der Fabrik, unsere Fenster gingen auf den
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Fabrikhof. Da sah ich auch noch manches außerdem: Es war ein Arbeiter, der fünf Jahr in der Fabrik
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gearbeitet hatte. Er fing an, stark zu husten und abzumagern ... ich weiß, wie uns mein Vater bei Tisch
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erzählte: Burmeister – so hieß der Arbeiter – bekommt die Lungenschwindsucht, wenn er noch länger
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bei der Seifenfabrikation bleibt. Der Doktor hat es ihm gesagt. – Der Mann hatte acht Kinder, und aus-
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gemergelt, wie er war, konnte er nirgends mehr Arbeit finden. Er musste also in der Seifenfabrik blei-
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ben, und der Prinzipal tat sich viel darauf zugute, daß er ihn beibehielt. Er kam sich unbedingt äußerst
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human vor. – Eines Nachmittags, im August, es war eine furchtbare Hitze, da quälte er sich mit einer
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Karre Kalk über den Fabrikhof. – Ich sah gerade aus dem Fenster, da merke ich, wie er stillsteht – wie-
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der stillsteht, und schließlich schlägt er lang auf die Steine. – Ich lief hinzu – mein Vater kam, andere
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Arbeiter kamen, aber er röchelte nur noch, und sein ganzer Mund war voll Blut. Ich half ihn ins Haus
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tragen. Ein Haufe kalkiger, nach allerhand Chemikalien stinkender Lumpen war er; bevor wir ihn im
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Hause hatten, war er schon gestorben.
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Helene. Ach, schrecklich ist das!
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Loth. Kaum acht Tage später zogen wir seine Frau aus dem Fluß, in den die verbrauchte Lauge unse-
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rer Fabrik abfloß. [...]

Anmerkungen zum Autor:
Gerhart Hauptmann (* 1862 - † 1946) war ein deutscher Schriftsteller.
Aus: Hauptmann Gerhart: Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama. Berlin 2004, S. 49–56.

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