Vorschlag B
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Georg Büchner (* 1813 - † 1837): Woyzeck (1836/37) Hans Magnus Enzensberger (* 1929 - † 2022): verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1957) Aufgabenstellung:- Interpretiere Hans Magnus Enzensbergers Gedicht verteidigung der wölfe gegen die lämmer. (Material)
- Setze Hans Magnus Enzensbergers Gedicht (Material) in Beziehung zu Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer im Hinblick auf die Aspekte Unterwerfung und Verantwortung.
(60 BE)
(40 BE)
1
soll der geier vergißmeinnicht fressen?
2
was verlangt ihr vom schakal,
3
daß er sich häute, vom wolf? soll
4
er sich selber ziehen die zähne?
5
was gefällt euch nicht
6
an politruks und an päpsten,
7
was guckt ihr blöd aus der wäsche
8
auf den verlogenen bildschirm?
9
wer näht denn dem general
10
den blutstreif an die hose?
11
wer zerlegt vor dem wucherer den kapaun?
12
wer hängt sich stolz das blechkreuz
13
vor den knurrenden nabel? wer
14
nimmt das trinkgeld, den silberling,
15
den schweigepfennig? es gibt
16
viel bestohlene, wenig diebe; wer
17
applaudiert ihnen denn, wer
18
steckt die abzeichen an, wer
19
lechzt nach der lüge?
20
seht in den spiegel: feig,
21
scheuend die mühsal der wahrheit,
22
dem lernen abgeneigt, das denken
23
überantwortend den wölfen,
24
der nasenring euer teuerster schmuck,
25
keine täuschung zu dumm, kein trost
26
zu billig, jede erpressung
27
ist für euch noch zu milde.
28
ihr lämmer, schwestern sind,
29
mit euch verglichen, die krähen:
30
ihr blendet einer den andern.
31
brüderlichkeit herrscht
32
unter den wölfen:
33
sie gehen in rudeln.
34
gelobt sein die räuber: ihr,
35
einladend zur vergewaltigung,
36
werft euch aufs faule bett
37
des gehorsams. winselnd noch
38
lügt ihr. zerrissen
39
wollt ihr werden. ihr
40
ändert die welt nicht.
Anmerkungen zum Autor:
Hans Magnus Enzensberger (* 1929 - † 2022) war ein deutscher Schriftsteller und Verlagsredakteur. Aus: Enzensberger, Hans Magnus: Gedichte 2. Auflage. Frankfurt am Main 1963, S. 44 f.
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Teilaufgabe 1
Einleitung
- Das Gedicht verteidigung der wölfe gegen die lämmer von Hans Magnus Enzensberger, veröffentlicht 1957, ist eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Zuständen in der Nachkriegszeit.
- Enzensberger, ein bedeutender deutscher Lyriker und Essayist, nutzt die Metaphern von „Wölfen“ und „Lämmern“, um die Rollen von Machthabern und ihren Anhängern zu beleuchten.
- Mit scharfer Ironie und Provokation hinterfragt der Autor im Gedicht die Verantwortung der Menschen, die sich passiv dem Machtmissbrauch unterwerfen und klagt eine Gesellschaft an, die ihre eigenen Unterdrücker unterstützt und moralische Werte verkennt.
Hauptteil
Formale Analyse- Hans Magnus Enzensbergers Gedicht besteht aus 40 Versen, die ohne einheitliches Reimschema oder feste Strophenform verfasst sind.
- Die freie Form des Gedichts unterstreicht die chaotische, anarchische Natur der angesprochenen Themen. Das Gedicht ist geprägt durch eine Reihe rhetorischer Fragen und provokativer Aussagen, die seiner Leserschaft eine klare, kritische Position aufzwingen.
- Auffällig ist, dass im gesamten Gedicht konsequent kleingeschrieben wird. Dies ist ein typisches Merkmal avantgardistischer Dichtung, das bewusst die Normen und Regeln der traditionellen Sprache hinterfragt und bricht.
- Bereits im ersten Vers „soll der geier vergißmeinnicht fressen?“ (V. 1) findet man eine rhetorische Frage mit einem ironischen Ton. Diese Frage ist nicht als echte Überlegung gedacht, sondern spiegelt die Absurdität der Erwartung wider, dass Raubtiere wie Geier oder Schakale sich anders verhalten könnten als ihrer Natur entsprechend. Die rhetorischen Fragen in den ersten vier Versen verdeutlichen die Sinnlosigkeit und Naivität der Erwartungshaltung der „Lämmer“ gegenüber den „Wölfen“ (Vgl. V. 1-4). Die Fragen „was verlangt ihr vom schakal“ (V. 2) oder „soll / er sich selber ziehen die zähne?“ (V. 3 f.) unterstreichen, dass es unsinnig ist, von den Mächtigen (den „Wölfen“) eine moralische Veränderung zu erwarten.
- Auch der Widerspruch (Oxymoron) spielt eine wichtige Rolle. In V. 8 wird der „verlogene bildschirm“ erwähnt, eine Anspielung auf die Medienlandschaft der Zeit. Der Bildschirm als Medium, das zur Information und Aufklärung dienen sollte, wird hier als Werkzeug der Täuschung und Lüge entlarvt. Dies unterstreicht die Manipulation der Bevölkerung durch die Medien und ihre Bereitschaft, diese Lügen zu akzeptieren.
- Enzensberger verwendet darüber hinaus Metaphern und Symbole, um seine Botschaft zu verstärken. Die „Wölfe“ und „Lämmer“ stehen als zentrale Metaphern im Gedicht für zwei gegensätzliche Gruppen: Die „Wölfe“ symbolisieren die Mächtigen und Herrschenden, während die „Lämmer“ die breite Masse der Bevölkerung darstellen, die sich passiv und ohne Widerstand unterwirft. Die „Lämmer“ sind in ihrer Passivität und Unterwürfigkeit nahezu lächerlich dargestellt, sie „blenden einer den andern“ (V. 30), was ihre naive und selbstzerstörerische Haltung verdeutlicht. Dagegen zeigt die Metapher des Wolfsrudels (Vgl. V. 32 f.) ein Bild von Gemeinschaft und Geschlossenheit unter den Mächtigen, die in ihrer Brutalität ehrlich und konsequent agieren.
- Anaphern (z. B. Vgl. V. 11 und 12) schaffen einen rhythmischen, fordernden und anklagenden Ton im Gedicht. Das Wort „wer“ wird in den Versen 9-19 insgesamt mehrfach wiederholt und richtet sich als Fragewort an die „Lämmer“, um sie zu konfrontieren und wachzurütteln. Auch durch die wiederholte Verwendung von „ihr“ (z. B. V. 28. 30, 33) entsteht ein Vorwurf an die „Lämmer“, die blind und unterwürfig sind.
- Das Gedicht thematisiert die Rolle der Gesellschaft in der Erhaltung und Beförderung von Machtstrukturen und Ungerechtigkeit. Enzensberger beschreibt eine Gesellschaft, die sich bereitwillig in die Hände ihrer Unterdrücker begibt, symbolisiert durch die „Lämmer“, die ihre „Wölfe“ nicht nur tolerieren, sondern sogar feiern und unterstützen. Die „Lämmer“ sind die eigentlichen Adressaten der Kritik. Sie sind die Mitläufer, die sich der Bequemlichkeit und Sicherheit der Unterordnung hingeben, anstatt die Wahrheit zu suchen und sich zu emanzipieren.
- Die „Lämmer“ sind nicht nur passiv, sondern auch aktiv in ihrer Selbstunterdrückung. Sie „nähen dem general den blutstreif an die hose“ (V. 9), was darauf hinweist, dass sie die Werkzeuge der Gewalt und des Krieges selbst herstellen und damit die Autorität und Macht ihrer Herren festigen. Dinge wie „trinkgeld, [...] silberling, [...] schweigepfennig“ (V. 14 f.) sind Symbole für die kleinen, schmutzigen Kompromisse, die sie eingehen, um ihre Situation zu ertragen, anstatt sie zu verändern.
- Enzensberger klagt die „Lämmer“ dafür an, dass sie nicht nur Opfer sind, sondern auch Täter ihrer eigenen Unterdrückung. Sie „sehnen sich förmlich nach ihrer eigenen Vernichtung“ (Z. 39) und verhalten sich wie „Krähen“ (V. 29), die sich einander blenden (V. 29 f.). Diese ironische Wendung zeigt die Verachtung des Dichters für die Selbsttäuschung und den fehlenden Mut zur Wahrheit in der Gesellschaft.
- Der Gegensatz zwischen den „Lämmern“ und den „Wölfen“ wird in den Versen 31-33 weiter verschärft: Während die „Lämmer“ ein Bild der Zerstreutheit und Blindheit abgeben, „herrscht Brüderlichkeit unter den Wölfen“ (V. 31 f.). Die „Wölfe“ agieren entschlossen und gemeinschaftlich, was sie in ihrer moralischen Verwerflichkeit fast bewundernswert erscheinen lässt. Der Dichter betont, dass die Wölfe wenigstens konsequent in ihrer Machtgier und Brutalität sind, während die Lämmer in ihrer Passivität und Feigheit verharren.
- Zum Schluss des Gedichts wird die düstere Botschaft klar. Die „Lämmer“ werden die Welt nicht ändern (Vgl. V. 40). Sie sind in ihrer Rolle gefangen, unfähig, ihre Situation zu erkennen oder zu verbessern. Dies ist eine bitter-ironische Kritik an der Nachkriegsgesellschaft, die nach Enzensbergers Auffassung eher auf Anpassung und Gehorsam setzt, als auf Veränderung und Widerstand.
- Enzensberger fordert durch seine poetische Provokation zur Reflexion und zum Aufstand gegen die eigene Passivität auf. Die „Wölfe“ werden nicht durch moralische Appelle entmachtet; vielmehr ist es an den „Lämmern“, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und zu handeln.
- Der Titel verteidigung der wölfe gegen die lämmer ist ironisch gemeint. Es wird suggeriert, dass die Wölfe (die Machthaber, Unterdrücker) sich in einer Position befinden, in der sie sich rechtfertigen oder „verteidigen“ müssen, obwohl sie in der Realität die stärkeren und aggressiveren Akteure sind. Der Titel ist also mehr als nur eine metaphorische Beschreibung – er ist eine scharfe Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und moralischer Verlogenheit. Er zeigt die Absurdität einer Welt, in der die Täter sich als Opfer darstellen und die Opfer sich ihrer Rolle als solche nicht bewusst sind oder sich damit abfinden.
Schluss
- Enzensbergers verteidigung der wölfe gegen die lämmer ist eine Abrechnung mit einer Gesellschaft, die bereitwillig ihre Freiheit und ihre moralische Integrität für die trügerische Sicherheit der Anpassung aufgibt.
- Durch die provokante Gegenüberstellung von „Wölfen“ und „Lämmern“ beleuchtet das Gedicht die Verantwortung jedes Einzelnen, sich gegen Unterdrückung zu stellen, anstatt sich der Passivität hinzugeben.
- Die Kritik richtet sich nicht nur an die Machthaber, sondern vor allem an die Mitläufer und die stillen Beobachter, die durch ihre Untätigkeit und Selbstverleugnung die ungerechten Strukturen erst ermöglichen. Enzensberger fordert damit eine bewusste Auseinandersetzung mit Macht, Moral und Verantwortung in der Gesellschaft.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Hans Magnus Enzensbergers Gedicht verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1957) und Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer (1930) thematisieren auf unterschiedliche Weise die Dynamik von Unterwerfung und Verantwortung in einem gesellschaftlichen Kontext.
- Beide Werke beleuchten kritisch, wie bereitwillig Menschen ihre Freiheit und Verantwortung aufgeben, um sich autoritären Figuren und Machtstrukturen zu unterwerfen.
Hauptteil
- In Enzensbergers Gedicht verteidigung der wölfe gegen die lämmer wird die Gesellschaft in zwei Gruppen geteilt: die „Wölfe“, die als Symbol für Macht und Unterdrückung stehen und die „Lämmer“, die sich bereitwillig dieser Macht fügen und sich sogar ihrer eigenen Unterdrückung hingeben. Enzensberger nutzt eine scharfe, provokative Sprache, um die Passivität der „Lämmer“ zu kritisieren.
- Die rhetorischen Fragen, wie „wer näht denn dem general / den blutstreif an die hose?“ (V. 9 f.) oder „wer applaudiert ihnen denn, wer / steckt die abzeichen an, wer / lechzt nach der lüge?“ (V. 17-19), verdeutlichen die Verantwortung der breiten Masse, die ihre Unterdrücker aktiv unterstützt.
- Die „Lämmer“ werden für ihre Selbstverleugnung und ihr fehlendes Streben nach Wahrheit und Freiheit kritisiert. Die zentrale Botschaft des Gedichts ist, dass die Gesellschaft ihre Unterdrücker nicht nur akzeptiert, sondern sogar feiert und dadurch das Unrechtssystem unterstützt.
- In Thomas Manns Werk Mario und der Zauberer wird ein ähnliches Bild der Unterwerfung und Verantwortung gezeichnet. Der Zauberer Cipolla tritt als charismatische, manipulative Figur auf, die die Zuschauer*innen während einer Vorstellung in einem italienischen Badeort nach und nach hypnotisiert und ihnen ihren Willen aufzwingt. Die Menschen, die sich zunächst nur aus Neugier und Unterhaltungsbedürfnis auf das Spektakel einlassen, verlieren zunehmend ihre Selbstkontrolle und folgen Cipollas Befehlen bedingungslos.
- Die Zuschauer*innen, darunter auch der Erzähler, sehen das Unrecht und die Erniedrigung, die Cipolla den anderen antut und doch unternehmen sie nichts, um es zu verhindern. Die Verantwortungslosigkeit der Menge wird deutlich, als die Hypnotisierten wie willenlose Marionetten handeln. Es braucht schließlich Mario, eine scheinbar unbedeutende Figur, um die Situation zu beenden. Indem er den Zauberer erschießt, widersetzt er sich der Manipulation und bringt die Menschen aus ihrer hypnotischen Starre zurück.
- Beide Werke thematisieren die Unterwerfung der Menschen unter eine mächtige, manipulative Instanz. In Enzensbergers Gedicht liegt der Fokus auf der Verantwortung der „Lämmer“, die sich durch ihren blinden Gehorsam selbst zu Opfern machen und die Machtstrukturen stützen, die sie unterdrücken. Der Dichter betont, dass die „Lämmer“ selbst die Wahl treffen, sich den „Wölfen“ zu unterwerfen und damit das Unrecht zu legitimieren. Ihre Feigheit und ihre Vermeidung von Verantwortung und Wahrheit tragen maßgeblich zur Stabilität der Machtverhältnisse bei.
- In Mario und der Zauberer zeigt sich ein ähnlicher Mechanismus der Unterwerfung, jedoch mit einem stärkeren Fokus auf die Manipulation durch eine charismatische Figur. Cipolla nutzt seine hypnotischen Fähigkeiten, um die Menschen zu kontrollieren und sie ihrer Autonomie zu berauben. Die Zuschauer*innen geben ihre Verantwortung auf, indem sie Cipollas Befehlen folgen, ohne zu hinterfragen. Auch hier ist es die Masse, die durch ihre Untätigkeit und ihre Faszination für die Macht des Zauberers die Unterdrückung zulässt. Allerdings bietet Manns Novelle auch einen Hoffnungsschimmer: Mario, der sich am Ende gegen Cipolla stellt, verkörpert die Möglichkeit der Befreiung und des Widerstands gegen die Manipulation.
- In verteidigung der wölfe gegen die lämmer werden die „Lämmer“ nur als unterwürfige, passive Mitläufer dargestellt, die nicht in der Lage sind, die Welt zu verändern („ihr ändert die welt nicht“, V. 39 f.). Hingegen zeigt Mario und der Zauberer durch Marios Tat die Möglichkeit, dass Individuen Verantwortung übernehmen und gegen die Unterdrückung aufbegehren können. Mario wird zum Symbol für den individuellen Widerstand, während die „Lämmer“ bei Enzensberger ein düsteres Bild einer Gesellschaft zeichnen, die sich in ihrer eigenen Unterdrückung suhlt.
Schluss
- Sowohl Enzensbergers Gedicht als auch Manns Novelle setzen sich kritisch mit den Themen Unterwerfung und Verantwortung auseinander.
- Beide Werke zeigen, dass die Unterdrückung nicht nur von den „Wölfen“ oder den autoritären Führern ausgeht, sondern auch durch die breite Masse der Bevölkerung ermöglicht wird, die ihre Freiheit und Verantwortung aufgibt. Während Enzensberger einen pessimistischen Blick auf die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung wirft, betont Mann die potenzielle Kraft des Individuums, sich gegen die Manipulation und Unterdrückung zu wehren.
- Beide Texte fordern die Leserschaft auf, ihre eigene Rolle in gesellschaftlichen Machtstrukturen zu hinterfragen und Verantwortung zu übernehmen.