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Vorschlag D

Materialgestütztes Schreiben eines argumentierenden Textes (Kommentar)

Thema: Gender und Sprache
Aufgabestellung:
  • Unvermindert wird in der Gesellschaft darüber diskutiert, ob in öffentlichen Bereichen, z. B. in der Schule, Dokumente und Texte geschlechterneutral formuliert werden sollen. Deshalb greift eine überregionale Zeitung dieses Thema auf und bittet vor allem junge Leserinnen und Leser um einen Beitrag zu folgender Frage: „Sollen in Deutschland alle Schulen eine genderneutrale Sprache verwenden?“
  • Verfasse einen Kommentar als Beitrag zur Debatte über diese Frage.
    Nutze dazu die folgenden Materialien (M1–M8) und beziehe eigene Erfahrungen und unterrichtliches Wissen über den Zusammenhang von Sprache, Denken und Handeln ein.
  • Formuliere eine geeignete Überschrift.
(100 BE)
Material 1
Was ist Gender? (2006)
GenderKompetenzZentrum
1
Gender hat sich als Fachbegriff für „Geschlecht“ auch im deutschsprachigen Raum etabliert. Für die
2
Übernahme des englischen Wortes spricht, dass im Deutschen mit dem Begriff Geschlecht von den
3
meisten Menschen vor allem das biologische Geschlecht assoziiert wird, also das, was im Englischen
4
als „sex“ bezeichnet wird. Mit dem deutschen Wort „Geschlecht“ ist also bislang das Risiko
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verbunden, die Bedeutung von Geschlecht als ein historisch veränderbares, soziales und kulturelles
6
Verhältnis aus dem Blick zu verlieren. [...]

Aus: GenderKompetenzZentrum der Humboldt-Universität zu Berlin (2006): Was ist Gender? (abgerufen am 25.03.2020).
Material 2
Es heißt Stu-denten! dierende! (2016)
Anna-Lena Scholz und Thomas Kerstan
Nur fünf Buchstaben änderte unser Redakteur in einem Text unserer Autorin. Daraus entwickelte sich ein Streit: Über Sprache, Gender und die Macht an den Unis.
1
Lieber Thomas,
2
vielen Dank für Deine gute Redigatur meines Artikels! Ich bin mit allen Korrekturen einverstanden –
3
fast jedenfalls. Du hast aus den „Studierenden“ in meinem Text die „Studenten“ gemacht. Das
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generische Maskulinum verschluckt die Studentinnen, mit denen ich bei meiner Recherche gesprochen
5
habe! Einverstanden, dass wir die geschlechtsneutralen „Studierenden“ in meinem Artikel stehen
6
lassen?
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Herzliche Grüße Anna-Lena
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Liebe Anna-Lena,
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Du kannst gern bei den Studierenden bleiben, ich will Dir als Autorin da keine Vorschriften machen.
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Ich aber mag das Wort „Studierende“ nicht und werde weiter von „Studenten“ schreiben, wenn ich
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junge Menschen beiderlei Geschlechts meine, die studieren. Das Wort ist kurz und hat sich bewährt.
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„Studierende“ klingt für mich hingegen gestelzt und bürokratisch. Rund die Hälfte der Studenten ist
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weiblich; ich sehe nicht die Gefahr, dass ein Wort sie verschlucken könnte.
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Herzliche Grüße zurück, Thomas
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Lieber Thomas,
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Du bist ja selbst Journalist und weißt, wie mächtig Sprache sein kann. Sie bildet die Welt nicht
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spiegelbildlich ab, sondern prägt und formt unsere Realität. Übrigens haben sprachwissenschaftliche
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und psychologische Studien nachgewiesen, wie groß der Einfluss geschlechtergerechter Sprache ist:
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Wenn wir von Politikern, Lesern, Studenten sprechen, dann aktiviert das in unserem Gedächtnis nur
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männliche Personengruppen. [...]
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Schöne Grüße Anna-Lena
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Liebe Anna-Lena,
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stimmt, Sprache kann sehr mächtig sein. Sie muss aber auch gut gepflegt werden, damit sie ein
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scharfes Schwert bleibt und nicht zu Brei wird. Das Herumdoktern an ihr, um sie vermeintlich
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gerechter oder weniger diskriminierend zu machen, tut ihr in den meisten Fällen nicht gut. [...]
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Herzlichen Gruß Thomas
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Von: Anna-Lena Scholz
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Die Sprache ein „scharfes Schwert“? Meine Güte, wen möchtest Du damit bekämpfen??
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Von: Thomas Kerstan
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Die Retortenwörter! Sie nerven mich, weil sie hässlich klingen und Fremdkörper in unserer Sprache
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sind. Das merkst Du sehr gut daran, dass sie sich nicht für Gedichte oder Lieder eignen. Beim
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Abwägen zwischen „geschlechtergerechter“ Sprache und guter Sprache entscheide ich mich für die
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gute Sprache.
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Von: Anna-Lena Scholz
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Ehrlich gesagt – wenn die sprachliche Brillanz und argumentative Kraft eines Zeitungsartikels am
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seidenen Faden des generischen Maskulinums hängt, dann taugt er nicht viel. Ich will mehr Mut zur
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Kreativität! Mal von Studierenden, mal von Studenten, mal von Studentinnen reden. Oder so lange an
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der Formulierung basteln, bis man auf ein geschlechtlich codiertes Wort verzichten kann. Die
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Neuerfindung „Profx“ ist auch eine tolle Idee! Für mich ist „gute Sprache“ eine politisch reflektierte
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und bewegliche Sprache, die unseren emanzipatorischen Freiheitsgewinnen Ausdruck verleiht.
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Feministisch grüßt:
42
Anna-Lena
43
PS: Ich gehe nicht von nur zwei Geschlechtern aus! [...]

Aus: Anna-Lena Scholz und Thomas Kerstan (16.06.2016): Es heißt Studenten! dierende! (abgerufen am 25.03.2020).
Material 3
Brauchen wir eine genderneutrale Sprache? (2015)
Tatjana Thamerus
1
[...] Deutschland mag sich nicht gern geschlechtsneutral ausdrücken. Warum eigentlich? [...]
2
Menschen, die sich wie Inter- oder Transsexuelle keinem eindeutigen Geschlecht zuordnen können,
3
sind aus der deutschen Sprache ausgeschlossen. Auch viele Frauen fühlen sich vom Deutschen
4
ignoriert. Genderneutrale Sprache würde das Problem lösen, eine Sprache, in der alle Geschlechter
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vorkommen.
6
Sprache sei entscheidend für die Sichtbarkeit und die Akzeptanz von Trans- und Intersexuellen, erklärt
7
Andreas Kraß, Mitglied im Berliner Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien: „Wir können
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nur mit der Sprache kommunizieren. Und mit der genderneutralen Sprache können wir der
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menschlichen Vielfalt Rechnung tragen.“
10
England zum Beispiel hat im Sommer die neutrale Anrede Mx. (gesprochen Mix oder Max) in das
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Oxford English Dictionary aufgenommen. Außerdem wird im englischsprachigen Raum they als
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geschlechtsneutraler Ersatz für she oder he diskutiert. Und in Schweden wurde im Frühjahr das
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Pronomen hen offiziell eingeführt – als neutrale Alternative zu han („er“) und hon („sie“).
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In Teilen ist die genderneutrale Sprache schon in Deutschland angekommen: So sind Unis schon
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länger dazu übergegangen, von Studierenden zu sprechen. Und nicht mehr von Studenten. Und Lann
16
Hornscheidt, Mitglied des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-
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Universität Berlin, schlug vor, die geschlechtlichen Wortendungen durch ein X zu ersetzen – also
18
Professx statt Professor/in.
19
Und auch die Grünen haben [...] ihre Partei zum Gender-Star verpflichtet. Neben dem Gender Gap
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(Leser_innen) und dem Binnen-I (LeserInnen) versucht das Sternchen (Leser*innen) all jene
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Menschen einzubeziehen, die sich nicht in das binäre Mann/Frau-System einordnen wollen.
22
„Sprache übersetzt sich in Denken und damit auch in politisches Handeln. Wenn in der Sprache nur
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Männer benannt werden, schließen wir damit Frauen, aber auch Trans- und Intersexuelle aus“, erklärt
24
Gesine Agena, Mitglied im Bundesvorstand der Grünen. „Wir wollen mit dem Gender-Star eine
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Sichtbarkeit für alle schaffen.“
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Schon seit Jahrzehnten setzt sich die Frauenbewegung dafür ein, im Deutschen alle sichtbar zu
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machen und gleichberechtigt zu behandeln. Die feministische Sprachkritik geht davon aus, dass
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Frauen derzeit benachteiligt werden und Männer eine Vormachtstellung einnehmen.
29
Dies führte zu heftigen Diskussionen, aber auch zu Veränderungen: So gibt es in vielen Firmen
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mittlerweile Leitfäden zur geschlechtergerechten Sprache.
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Trotzdem gibt es noch einiges zu tun. Das findet zumindest Nike Roos, gelernte Journalistin und
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Unternehmerin: „In Deutschland haben wir gerade erst angefangen so etwas Ähnliches wie eine
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gendergerechte Sprache zu etablieren. Noch nicht einmal die Frauen sind gleichberechtigt. Oft wird
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nur die männliche Form genannt.“
35
Ludwig Eichinger, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, glaubt nicht an ein
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geschlechtsneutrales Deutsch: Es würde zu stark in das System der Sprache eingreifen, sagt er. „Im
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Gegensatz zum Englischen ist das grammatikalische Geschlecht im Deutschen stark verankert.“ [...]

Anmerkungen zur Autorin:
Tatjana Thamerus (*1991) ist Journalistin.
Aus: Thamerus, Tatjana (18.12.2015): Brauchen wir eine genderneutrale Sprache?, letzter Zugriff am 25.03.2020.
Material 4
Der Gender-Krampf verhunzt die deutsche Sprache (2013)
Ingrid Thurner
1
[...] Die simplen Zeiten, in denen eines unumstößlich feststand, nämlich dass es zwei Geschlechter
2
gibt, sind mittlerweile vorbei. So wurde nach Stilmitteln gesucht, die der Vielfalt an Identitäten
3
jenseits von Mann und Frau sprachlich Ausdruck verschaffen. Lösungsvorschläge stammen aus der
4
amerikanischen Queer-Theorie, die davon ausgeht, dass geschlechtliche und sexuelle Identität erst in
5
soziokulturellen Prozessen geformt wird.
6
Der Gendergap_Unterstrich wird nach der Queer-Theorie jenen gerecht, die sich weder dem
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Männlichen noch dem Weiblichen zuordnen wollen oder können. Die sprachfeministische Erneuerung
8
hatte noch andere Ideen: Statt des Gendergap_Unterstrichs könnte es auch ein Gender*Stern sein, eine
9
Art Joker für alle verfügbaren Geschlechtsidentitäten. [...]
10
Heutzutage wird die Sprachgerechtigkeit den Frauen von den Männern als Geschenk dargebracht, ist
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aber bloß ein Ablenkungsmanöver. Diesen Eindruck hat man an den Universitäten: Ihr Frauen
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bekommt die Binnenversalien, und wir bescheiden uns mit den Ordinariaten.
13
Von den Universitäten marschierte die feministische Kampfrhetorik flugs in die Politik. Wer sich
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Wahlen stellen muss, schwatzt in Verdoppelungen. Bürgerinnen und Bürger. Da redet man mehr und
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muss weniger sagen. [...]
16
Ein Nutzen der allgegenwärtigen Beidbenennung ist vorerst nicht erkennbar. Drei Jahrzehnte
17
sprachlicher Gleichbehandlung haben bloß unschöne Texte, aber keine gesellschaftliche
18
Gleichstellung gebracht. [...]

Anmerkungen zur Autorin:
Ingrid Thurner (*1954) ist Ethnologin, Publizistin und Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie
der Universität Wien.
Aus: Thurner, Ingrid (02.02.2013): Der Gender-Krampf verhunzt die deutsche Sprache, letzter Zugriff am 25.03.2020.
Material 5
Das dritte Geschlecht (2017)
Grafik
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass im Geburtenregister künftig ein dritter Geschlechtseintrag für intersexuelle Menschen möglich sein muss.
grafik das dritte geschlecht deutsch he abi lk 21

Aus: Grafik (08.11.2017): Das dritte Geschlecht, letzter Zugriff am 25.03.2020.
Material 6
Gender-Debatte. Verzeihung, ein Maskulinum! (2015)
Kerstin Hensel
1
[...] Ich lebe unter Menschen, die unterschiedlicher nicht sein können: unter Atheisten, Christen,
2
Juden, Moslems; unter Hell-, Dunkel-, Dick- und Dünnhäutigen; Glückskindern, Pechvögeln, Nerds;
3
unter Hochbepreisten, Punks, Freaks, Säufern, Saubermännern, Kämpfern, Komplexgeladenen, An-
4
und Abgestellten; unter Schwulen, Lesben, Hermen und Heten.
5
Wir wissen: All das, was uns vereint und unterscheidet, macht das Leben aus – das Schöne, Vertraute,
6
auch das Schräge, Bizarre. Wir gehen selbstbewusst und freizügig mit uns um, wehren uns gegen
7
Dummheit, Ungerechtigkeit, Rückständigkeit, lachen über vieles. Wir sagen selbstverständlich Ich und
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Wir, Mann und Frau. Auch Mann und Mann oder Frau und Frau.
9
Nun stellt sich ein Amazonenheer vor uns auf, das sich den Namen GENDER auf die Harnische
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geschrieben hat. Das Problem ist nicht der Gedanke, sondern die radikale Ideologie, mit der dieses
11
Heer ein Gleichheitskonzept auf alles stülpt, was seinen Reiz, sein Leben aus Unterschieden bezieht.
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Die Gendermainstreamenden haben einen Beistandspakt geschlossen mit Political Correctness,
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Sprachsäuberern sowie deren Wächtern, mit Religionsmissionaren, Anti-Aufklärern aller Couleur,
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militanten Veganern und sonstigen Entsagungsfanatikern.
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Pardon, jetzt sind mir generische Maskulina herausgerutscht! Und nein, ich gelobe keine Besserung!
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Die größte Entsagergemeinschaft, scheint mir, ist die der Humorlosen. Über Geschlechterrollen wird
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in Mitteleuropa seit mehr als 100 Jahren diskutiert. Der Feminismus hat sein Hauptwerk getan. Das ist
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gut so. Die Befreiung der Frau aus den Knebeln des Machismo ist im Großen und Ganzen gelungen,
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auch wenn noch viel zu tun ist. Die gesellschaftliche Toleranz von sogenannten nicht-
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heteronormativen Geschlechtermodellen ist hierzulande vergleichsweise hoch. Mit Verlaub: Gab es
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für Homo- und Transsexuelle jemals so viel Verständnis?
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Aber was müssen ich und andere, mit dem Leben durchaus Vertraute, sich sagen lassen? Beispiel:
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Literatur, die sich ironisch-satirisch mit dem Thema auseinandersetzt, sei unzumutbar, weil Gender
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eine durch und durch ernste Sache sei. [...]
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Ich bin nicht gegen die Forderung gleicher Rechte von Frauen und Männern. Im Gegenteil. Sie ist
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noch immer notwendig, vor allem, wenn man in andere Teile der Welt sieht. Es ist Ideologie und
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Hysterie, die mich abstoßen beziehungsweise lachen lassen. Die Gender-Debatte spaltet inzwischen
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die Gesellschaft, anstatt Empathie, echte Toleranz und wirkliches Sprachbewusstsein anzustreben.

Anmerkungen zur Autorin:
Kerstin Hensel (*1961) ist Autorin von Romanen, Gedichten, Theaterstücken, Essays.
Aus: Hensel, Kerstin (30.07.2015): Gender-Debatte. Verzeihung, ein Maskulinum!, letzter Zugriff am 25.03.2020.
Material 7
Geschlechtergerechte Sprache und Lebensentscheidungen (2015)
Anatol Stefanowitsch
1
[...] Es ist nun eine interessante Frage, ob die Tatsache, dass wir bei einem generischen Maskulinum
2
zunächst an Männer denken, nur im Versuchslabor messbar ist, oder ob sie auch eine Rolle in der
3
echten Welt spielt. Und zur Beantwortung genau dieser Frage trägt eine Studie meiner FU-Kollegin
4
Bettina Hannover und ihres ehemaligen Doktoranden Dries Vervecken bei, die vor einigen Monaten
5
erschienen ist und nun dank einer Pressemeldung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie
6
öffentliche Aufmerksamkeit erhält.
7
In dieser Studie legten die Autor/innen Schulkindern im Alter von 6–12 Jahren dreizehn
8
Berufsbezeichnungen vor, die entweder stereotyp männlich waren (Astronaut/in, Lastwagenfahrer/in,
9
Geschäftsmann/-frau, Erfinder/in, Bürgermeister/in, Maurer/in, Feuerwehrmann/-frau und
10
Automechaniker/in), oder die stereotyp weiblich waren (Blumenverkäufer/in, Babysitter/in,
11
Zahnarzthelfer/in, Raumpfleger/in und Kosmetiker/in). Jeder dieser Berufe wurde den Kindern
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vorgelesen und kurz definiert, wobei eine Gruppe Paarformen zu hören bekam (z. B.
13
„Feuerwehrfrauen und Feuerwehrmänner sind Personen, die Feuer löschen“), und eine Gruppe das
14
„generische“ Maskulinum (z. B. „Feuerwehrmänner sind Personen, die Feuer löschen“). Zu jedem
15
Beruf mussten die Kinder vier Fragen beantworten:
16
1. Wie wichtig ist es, ___ zu sein?
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2. Wie schwer ist es, den Beruf ___ auszuüben?
18
3. Wie schwer ist es, den Beruf ___ zu erlernen? Und
19
4. Was glaubst du, wie viel Geld ___ verdienen?
20
Aus den Antworten ergaben sich durch eine Faktorenanalyse zwei Faktoren: Status (Frage 1 und 4)
21
und Zugänglichkeit (Frage 2 und 3).
22
Bei den stereotyp männlichen Berufen wurden beide Faktoren durch die Art der Präsentation
23
(Paarformel oder „generisches Maskulinum“) beeinflusst: Im generischen Maskulinum schrieben die
24
Kinder den Berufen erstens einen höheren Status zu und hielten sie zweitens für schwerer zugänglich,
25
als wenn sie in der Paarform präsentiert wurden. Bei den stereotyp weiblichen Berufen gab es keinen
26
solchen Effekt.
27
So weit bestätigt das Experiment aus linguistischer Perspektive auf eine sehr interessante Weise den
28
semantischen Effekt des generischen Maskulinums – dies wird offensichtlich als „männlich“
29
interpretiert, woraus sich die stereotype Zuschreibung eines höheren Status und eines höheren
30
Schwierigkeitsgrades ergibt. Eine Wechselwirkung zwischen Grammatik und gesellschaftlichen
31
Stereotypen (dass der Effekt nur bei stereotyp männlichen Berufen statistisch signifikant wird) lässt
32
sich auch in anderen Studien beobachten.
33
Besonders interessant wird die Studie aber dadurch, dass die Autor/innen die Kinder zusätzlich
34
fragten, ob sie sich selbst den jeweiligen Beruf zutrauten. Auch hier zeigte sich ein Effekt der
35
jeweiligen sprachlichen Bedingung dergestalt, dass sich Kinder beiderlei Geschlechts einen Beruf eher
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zutrauen, wenn er in der Paarformel präsentiert wird, als wenn er im „generischen“ Maskulinum
37
präsentiert wird. Außerdem zeigte sich, dass sich Jungen stereotyp männliche Berufe unabhängig von
38
der Art der Präsentation eher zutrauen als Mädchen.
39
Die Autor/innen zeigen dann, dass dieser Effekt durch den vermeintlichen Schwierigkeitsgrad des
40
Berufs hervorgerufen wird (der seinerseits durch die Art der Präsentation bedingt ist).
41
Kurz zusammengefasst: Wird ein Beruf im „generischen“ Maskulinum präsentiert, wird er von den
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Kindern als schwerer zugänglich wahrgenommen, was ihre Einschätzung, den Beruf selbst ausüben zu
43
können, negativ beeinflusst. Bei den Jungen wird diese negative Einschätzung dadurch ein Stück weit
44
ausgeglichen, dass die gesellschaftliche Stereotypisierung dieser Berufe als „männlich“ es ihnen
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nahelegt, dass sie diese Berufe trotzdem ausüben können.
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Mit anderen Worten: Die Art, in der wir über stereotyp männliche Berufe reden, hat vor allem einen
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Einfluss darauf, ob Mädchen sich diesen Beruf zutrauen. Die konsequente Verwendung von
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Paarformeln kann dazu führen, dass sie den Beruf als zugänglicher bewerten und ihn für sich selbst als
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realistische Berufswahl einschätzen. [...]

Anmerkungen zur Autorin:
Anatol Stefanowitsch (*1970) ist Professor für Sprachwissenschaft an der FU Berlin.
Aus: Stefanowitsch, Anatol (09.06.2015): Geschlechtergerechte Sprache und Lebensentscheidungen, letzter Zugriff am 25.03.2020.
Material 8
Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für t-online.de zur Nutzung geschlechtsneutraler Sprachformulierungen (2019)
Umfrage zur Nutzung geschlechtsneutraler Sprachformulierungen (2019) deutsch he abi lk 2021

Aus: Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für t-online.de zur Nutzung geschlechtsneutraler Sprachformulierungen
(25.01.2019)
, letzter Zugriff am 09.04.2020.

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