Lektüre – Woyzeck
Thema: Franziska Schößler (* 1964): Weiblichkeit und Tod [in Büchners „Woyzeck“] (2003) Georg Büchner (* 1813 - † 1837): Woyzeck (1836/37) Aufgabenstellung:
- Fasse die zentralen Argumente in Schößlers Werk Weiblichkeit und Tod zusammen.
- Erörtere die Überlegung der Autorin, ob „die eigentliche Heldin des Stücks nicht Marie ist“ (Z. 5 f.).
1
Büchners] Stück stellt eine kritische Analyse konkreter historischer Zustände und
2
Institutionen dar […]. Büchner etabliert […] einen fugenlosen Determinationszusam-
3
menhang, der private wie öffentliche Ebene umgreift und sich im Mord entlädt, im
4
Mord an einer Frau, Marie – auch diese Frauenleiche ordnet Büchners Drama der Tra-
5
dition des bürgerlichen Trauerspiels zu. Zu überlegen wäre damit, ob die eigentliche
6
„Heldin“ des Stücks nicht Marie ist. […] Woyzeck [wird] vor seiner Tat in der Ausei
7
nandersetzung mit dem Tambourmajor, der im Übrigen nicht weit über ihm, dem ge-
8
meinen Soldaten, steht […], gedemütigt und verweiblicht […]. Diese Auseinanderset-
9
ung ist die einzige direkte der Rivalen. Büchner scheint den klassischen Konflikt der
10
Antagonisten eher zu vermeiden […]. Der Major verkündet bei seinem Auftritt em
11
phatisch, und damit wird der Auftritt des Rivalen eindeutig geschlechtlich semanti-
12
siert: „Ich bin ein Mann! (schlägt sich auf die Brust) ein Mann sag’ ich.“ Als Woyzeck
13
von ihm verletzt wird, höhnt der Tambourmajor: „[S]oll ich dir noch soviel Athem
14
assen als ein Altweiberfurz, soll ich?“ Woyzeck wird diffamiert, und seine Ohnmacht
15
wird mit Bildern diskreditierter Weiblichkeit umschrieben. Ausgehend von dieser
16
Szene nimmt sich der Mord an Marie wie eine narzisstische Heilung der auch buch-
17
stäblich beschädigten Männlichkeit aus. Das Blut, das Woyzeck vergießt, wird zu dem
18
Maries. Zum Schluss, in der Schenke, erscheint nicht mehr Woyzeck als der Verletzte –
19
„Anderer: Er blut“ –, sondern dieser trägt das Blut Maries an seinem Körper. […] Vor-
20
geführt wird mithin, dass sich die bedrohte Männlichkeit als Aggression gegen das
21
Weibliche wendet.
Aus: Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama. Darmstadt 2023, S. 66/67.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?
Hier geht's zur Lektüre Woyzeck
Hier geht's zur Lektürehilfe Woyzeck
Hier geht's zur Lektürehilfe Woyzeck
Teilaufgabe 1
- Die Autorin Franziska Schößler sieht in dem vorliegenden Textauszug aus Georg Büchners Drama Woyzeck eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit. Zugleich beleuchtet sie die Geschlechterrollen und deren Darstellung im Kontext der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels.
- Schößler beschreibt dabei einen umfassenden „Determinationszusammenhang“ (Z. 2 f.) der Woyzeck und sein Handeln bestimmt. Der Mord an Marie wird als Konsequenz dieser Fremdbestimmung verstanden.
- Schößler lenkt ihre Aufmerksamkeit in ihrem weiteren Argumentationsgang auf die Auseinandersetzung zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit. Sie interpretiert Woyzecks Mord an Marie als Konsequenz einer gekränkten männlichen Ehre.
- Als Grundlage hierfür dient die Konfrontation Woyzecks mit seinem Rivalen, dem Tambourmajor (Vgl. Z. 6 ff.). Zwischen den beiden Männern entsteht ein Konkurrenzkampf um die Gunst Maries.
- In ihrer einzigen direkten, sowohl verbal als auch körperlich geführten Auseinandersetzung erkennt Schößler eine gezielte Herabsetzung und „Verweiblichung“ Woyzecks. Diese Interpretation stützt sie auf zwei Aussagen des Tambourmajors. Zum einen wird die Begegnung der beiden durch die Worte „Ich bin ein Mann!“ (Z. 12), begleitet von einer körperlichen Geste, eindeutig geschlechtlich aufgeladen.
- Zum anderen wird Woyzeck durch die Beleidigung „[S]oll ich dir noch soviel Athem lassen als ein Altweiberfurz“ (Z. 13 f.) gedemütigt. Die verbale Herabwürdigung und die damit einhergehende physische Überlegenheit des Tambourmajors lassen Woyzeck schwach und verweiblicht erscheinen.
- Durch den Mord an Marie versucht Woyzeck, die Kränkung seiner Männlichkeit zu überwinden. Während er zunächst blutend und gedemütigt zurückbleibt, kehrt sich diese Situation mit dem Mord um. Das vergossene Blut Maries verschmilzt symbolisch mit seinem eigenen und wird zu einem Zeichen seiner „narzisstischen Heilung“ (Z. 16).
- Laut Schößler verdeutlicht die Szene in der Schenke, dass Woyzeck nach dem Mord nicht mehr nur das Blut eines Opfers trägt, sondern dasjenige von Marie, das er als „Trophäe“ seiner wiederhergestellten Männlichkeit mit sich führt. Somit zeigt sich, dass sich seine verletzte männliche Identität in Form von „Aggression gegen das Weibliche“ (Z. 20 f.). richtet.
Teilaufgabe 2
- Franziska Schößler erweitert die üblichen historischen und sozialkritischen Interpretationen von Büchners Woyzeck um eine geschlechterspezifische Perspektive. Sie rückt dabei die Figur der Marie stärker in den Fokus und regt an, sie als mögliche „Heldin des Stücks“ zu betrachten (Z. 5 f.). Dies steht im Gegensatz zur gängigen Interpretation, die sich meist auf Woyzeck konzentriert.
- Woyzeck erscheint auf den ersten Blick als Protagonist und somit auch als Held des Dramas. Der Fokus liegt auf seinem Leidensweg, der durch seine ökonomischen und sozialen Probleme geprägt ist. Er versucht, seine Familie zu ernähren, opfert dabei seine Gesundheit und verliert schließlich durch Maries Untreue den letzten Halt in seinem Leben. In dieser Hinsicht erfüllt er die Erwartungen an einen tragischen Helden.
- Schößler widerspricht dieser einseitigen Betrachtung. Sie sieht in Marie die eigentliche Heldin, da ihr Schicksal an das bürgerliche Trauerspiel anknüpft. Frauen sind in diesem Genre oft zentrale Figuren, die durch herrschende Machtverhältnisse, insbesondere in einer männlich dominierten Gesellschaft, unterdrückt werden. Marie wird für ihr autonomes Handeln – insbesondere ihre sexuellen Wünsche – mit dem Tod bestraft. Dies verdeutlicht, wie ihr Streben nach Selbstbestimmung in einer patriarchalen Ordnung unmöglich gemacht wird (Vgl. Z. 12–18).
- Schößler zieht Parallelen zu Emilia Galotti und Luise Miller, die ebenfalls Opfer gesellschaftlicher Zwänge und männlicher Machtstrukturen sind. Wie Marie sterben auch sie aufgrund von Eifersucht oder der Kontrolle über ihre Sexualität. Gleichzeitig erkennt Schößler, dass Büchner im Gegensatz zu diesen klassischen Dramen auch Figuren aus sozial benachteiligten Schichten zu Helden macht, was das Genre des Trauerspiels erweitert.
- Die Figur der Marie Zickwolf wird von Schößler als eine mögliche Heldin im Kontext des bürgerlichen Trauerspiels beschrieben. Schößler zeigt, dass Marie in mehrfacher Hinsicht ein Opfer der von Männern dominierten gesellschaftlichen Machtverhältnisse ist und möchte dies im Folgenden näher beleuchten.
- Zunächst wird Marie als eine Frau dargestellt, die trotz ihres niedrigen sozialen Standes versucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ihre schwierigen Lebensumstände zwingen sie jedoch in ein Dasein, das von Armut geprägt ist (4. Szene) Gleichzeitig reflektiert sie ihre prekäre ökonomische Lage, die sie auf ein „Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel“ (4. Szene) beschränkt. Dennoch ist sich Marie ihrer körperlichen Attraktivität bewusst, wie sie mit dem Satz „[U]nd doch hab’ ich einen so roten Mund als die großen Madamen“ (4. Szene) zeigt. Ihre soziale Situation und die Verbindung zu Woyzeck halten sie jedoch in ihrer unprivilegierten Position gefangen.
- Auch Maries Beziehung zu Woyzeck ist stark von ihrer prekären Lage beeinflusst. Während Woyzeck durch verschiedene Tätigkeiten den Lebensunterhalt der Familie sichern muss, bleibt Marie oft allein mit dem gemeinsamen Kind zurück. Zusätzlich belasten Woyzecks zunehmende Wahnvorstellungen auch Marie, die durch diese Situation Angstzustände entwickelt, wie in der 2. Szene mit den Worten „Es wird so dunkel, man meint, man wär blind“ ausgedrückt wird.
- Ihre schwierige Lebenslage und die fehlende emotionale Bindung zu Woyzeck lassen den Tambourmajor für Marie attraktiv erscheinen. Sie erhofft sich von ihm eine Stärke, die Woyzeck ihr nicht geben kann. Diese Faszination äußert sich in Maries Bewunderung für die animalisch-triebhafte Männlichkeit des Tambourmajors, die sie mit Löwen und Stieren vergleicht (Vgl. 2. und 6. Szene). Indirekt hebt sie damit die Schwäche Woyzecks hervor und sieht in der Stärke des Majors eine Hoffnung, um ihrem prekären Leben zu entkommen. Der Tambourmajor bietet ihr nicht nur körperliche Faszination, sondern auch die Aussicht auf finanziellen und sozialen Aufstieg, wie Schößler im Text erläutert.
- Marie sucht nicht nur Trost in ihrer Beziehung zum Tambourmajor, sondern versucht, durch ihn eine Möglichkeit zu finden, ihren sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen zu entkommen. Diese Verbindung löst jedoch innere Konflikte bei ihr aus. Sie wird von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen geplagt, die so weit reichen, dass sie an Suizid denkt, wie ihre Aussage „Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt’ mich erstechen“ (4. Szene) zeigt. Auch ihre Untreue bereitet ihr zunehmend Gewissensbisse, weshalb sie Trost in der Religion sucht. Doch auch das Gebet bringt ihr keine Erleichterung, wie sich in der 17. Szene zeigt.
- Die Beziehung zum Tambourmajor kann als Maries Versuch interpretiert werden, ihren unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Ihr Streben nach Selbstverwirklichung, das durch ihre sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen unterdrückt wird, führt jedoch zur Eifersucht Woyzecks. Diese Eifersucht in Kombination mit Woyzecks psychischen Problemen endet schließlich in der tödlichen Gewalt gegen Marie. Ähnlich wie in anderen bürgerlichen Trauerspielen scheitert Maries Versuch, aus der gesellschaftlichen Unterdrückung auszubrechen, an der patriarchalen Struktur, in der sie lebt. Ihr Streben nach Autonomie wird mit dem Tod bestraft.
Fazit
- Berücksichtigt man all diese Aspekte, wird deutlich, dass sowohl Woyzeck als auch Marie durch die sie umgebenden gesellschaftlichen Umstände zu Opfern werden. Beide Figuren scheitern an ihrem Schicksal, das von äußeren Zwängen und inneren Konflikten bestimmt ist. Woyzeck zeigt sich dabei vor allem als getriebene und fremdbestimmte Persönlichkeit, die nicht den klassischen Vorstellungen eines Helden entspricht, sondern vielmehr als Antiheld wahrgenommen werden kann.
- Marie hingegen muss ihr Leben nahezu allein bewältigen, da Woyzeck durch seine Belastungen weitgehend abwesend ist. Ihre Hoffnungen auf soziale Anerkennung und ihre Suche nach Erfüllung bleiben unerfüllt. Der Tambourmajor bietet ihr zwar eine scheinbare Möglichkeit zur Verbesserung ihrer Situation, doch auch dieser Weg endet für sie tödlich. In diesem Kontext lässt sich Marie als Heldin im doppelten Sinne begreifen: Sie steht nicht nur gegen die äußeren Zwänge ihres Umfelds, sondern auch gegen die moralische Verurteilung, die sie für ihr Streben nach Autonomie und Glück erfährt. Letztlich bezahlt sie für diesen Widerstand mit ihrem Leben, was sie zur eigentlichen Heldin des Dramas macht, wie Schößler argumentiert.