Lektüre – Mario und der Zauberer
Thema: Thomas Mann (* 1875 - † 1955): Mario und der Zauberer (1929) Aufgabenstellung:
- Setze den Textauszug in den Zusammenhang mit der vorangehenden Handlung.
- Interpretiere den Textausschnitt und erkläre, welches Bild der Erzähler von Italien und den Italienern vermittelt.
- Untersuche, inwieweit sich die „öffentliche Stimmung“, die der Erzähler beschreibt, im weiteren Verlauf der Handlung bestätigt.
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[...] Die Hitze war unmäßig, soll ich das anführen? Sie war afrikanisch: die Schreckens-
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herrschaft der Sonne, sobald man sich vom Saum der indigoblauen Frische löste, von
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einer Unerbittlichkeit, die die wenigen Schritte vom Strande zum Mittagstisch, selbst
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im bloßen Pyjama, zu einem im voraus beseufzten Unternehmen machte. Mögen Sie
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das? Mögen Sie es wochenlang? Gewiß, es ist der Süden, es ist klassisches Wetter, das
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Klima erblühender Menschheitskultur, die Sonne Homers und so weiter. Aber nach
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einer Weile, ich kann mir nicht helfen, werde ich leicht dahingebracht, es stumpfsinnig
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zu finden. Die glühende Leere des Himmels Tag für Tag fällt mir bald zur Last, die
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Grellheit der Farben, die ungeheure Naivität und Ungebrochenheit des Lichts erregt
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wohl festliche Gefühle, sie gewährt Sorglosigkeit und sichere Unabhängigkeit von
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Wetterlaunen und -rückschlägen; aber ohne daß man sich anfangs Rechenschaft davon
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gäbe, läßt sie tiefere, uneinfachere Bedürfnisse der nordischen Seele auf verödende
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Weise unbefriedigt und flößt auf die Dauer etwas wie Verachtung ein. Sie haben recht,
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ohne das dumme Geschichtchen mit dem Keuchhusten hätte ich es wohl nicht so emp-
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funden; ich war gereizt, ich wollte es vielleicht empfinden und griff halb unbewußt ein
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bereitliegendes geistiges Motiv auf, um die Empfindung damit wenn nicht zu erzeugen,
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so doch zu legitimieren und zu verstärken. Aber rechnen Sie hier mit unserem bösen
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Willen, - was das Meer betrifft, den Vormittag im feinen Sande, verbracht vor seiner
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ewigen Herrlichkeit, so kann unmöglich dergleichen in Frage kommen, und doch war
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es so, daß wir uns, gegen alle Erfahrung, auch am Strande nicht wohl, nicht glücklich
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fühlten.
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Zu früh, zu früh, er war, wie gesagt, noch in den Händen der inländischen Mittelklasse
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eines augenfällig erfreulichen Menschenschlages, auch da haben Sie recht, man sah
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unter der Jugend viel Wohlschaffenheit und gesunde Anmut, war aber unvermeidlich
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doch auch umringt von menschlicher Mediokrität und bürgerlichem Kroppzeug, das,
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geben Sie es zu, von dieser Zone geprägt nicht reizender ist als unter unserem Himmel.
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Stimmen haben diese Frauen – ! Es wird zuweilen recht unwahrscheinlich, daß man
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sich in der Heimat der abendländischen Gesangskunst befindet. „Fuggièro!" Ich habe
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den Ruf noch heute im Ohr, da ich ihn zwanzig Vormittage lang hundertmal dicht
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eben mir erschallen hörte, in heiserer Ungedecktheit, gräßlich akzentuiert, mit grell
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offenem è, hervorgestoßen von einer Art mechanisch gewordener Verzweiflung. „Fug-
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gièro! Rispondi al mèno!" Wobei das sp populärerweise nach deutscher Art wie schp
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gesprochen wurde – ein Ärgernis für sich, wenn sowieso üble Laune herrscht. Der
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Schrei galt einem abscheulichen Jungen mit ekelerregender Sonnenbrandwunde zwi-
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schen den Schultern, der an Widerspenstigkeit, Unart und Bosheit das Äußerste zum
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besten gab, was mir vorgekommen, und außerdem ein großer Feigling war, imstande,
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durch seine empörende Wehleidigkeit den ganzen Strand in Aufruhr zu bringen. Eines
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Tages nämlich hatte ihn im Wasser ein Taschenkrebs in die Zehe gezwickt, und das
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antikische Heldenjammergeschrei, das er ob dieser winzigen Unannehmlichkeit erhob,
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war markerschütternd und rief den Eindruck eines schrecklichen Unglücksfalls hervor.
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Offenbar glaubte er sich aufs giftigste verletzt. Ans Land gekrochen, wälzte er sich in
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scheinbar unerträglichen Qualen umher, brüllte Ohi! und Oime! und wehrte, mit Ar-
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men und Beinen um sich stoßend, die tragischen Beschwörungen seiner Mutter, den
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Zuspruch Fernerstehender ab. Die Szene hatte Zulauf von allen Seiten. Ein Arzt wurde
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herbeigeholt, es war derselbe, der unseren Keuchhusten so nüchtern beurteilt hatte, und
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wieder bewährte sich sein wissenschaftlicher Geradsinn. Gutmütig tröstend erklärte er
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den Fall für null und nichtig und empfahl einfach des Patienten Rückkehr ins Bad, zur
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Kühlung der kleinen Kniffwunde. Statt dessen aber wurde Fuggièro, wie ein Abge-
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türzter oder Ertrunkener, auf einer improvisierten Bahre mit großem Gefolge vom
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Strande getragen, - um schon am nächsten Morgen wieder, unter dem Scheine der
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Unabsichtlichkeit, anderen Kindern die Sandbauten zu zerstören. Mit einem Worte,
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ein Greuel.
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Dabei gehörte dieser Zwölfjährige zu den Hauptträgern einer öffentlichen Stimmung,
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die, schwer greifbar in der Luft liegend, uns einen so lieben Aufenthalt als nicht ge-
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heuer verleiden wollte. Auf irgendeine Weise fehlte es der Atmosphäre an Unschuld,
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an Zwanglosigkeit, dies Publikum ,hielt auf sich" - man wußte zunächst nicht recht,
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in welchem Sinn und Geist, es prästierte Würde, stellte voreinander und vor dem Frem-
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den Ernst und Haltung, wach aufgerichtete Ehrliebe zur Schau –, wieso? Man verstand
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bald, daß Politisches umging, die Idee der Nation im Spiele war. [...]
Aus: Thomas Mann: Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis 33. Aufl. Fischer TB Frankfurt/M. 2013, S. 20-23.
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Teilaufgabe 1
- Im Textauszug werden die zentralen Ereignisse und Erfahrungen des Ich-Erzählers und seiner Familie in Torre di Venere, einem fiktiven italienischen Ort beschrieben. Torre di Venere wird als ein Küstenort dargestellt, der während der Sommermonate hauptsächlich von italienischen Inlandsgästen besucht wird (Vgl. Z. 1 ff.). Diese Gäste, sowie die einheimischen Gastgeber, stehen der Familie des Erzählers ablehnend gegenüber, was zu einer Reihe von Konflikten führt.
- Der Erzähler beginnt seine Schilderung mit einer Beschreibung des Ortes und der klimatischen Verhältnisse. Die Hitze, die er als „unmäßig“ und „afrikanisch“ bezeichnet (Vgl. Z. 1), wird zur Metapher für eine belastende und unerbittliche Atmosphäre. Der Begriff „Schreckensherrschaft“ (Vgl. Z. 1f.) verweist auf historische Ereignisse wie die Französische Revolution und verdeutlicht die negative Einstellung des Erzählers. Die Sonne wird als Symbol für die körperliche und emotionale Belastung dargestellt, die der Erzähler und seine Familie empfinden.
- Im Verlauf des Aufenthalts spitzt sich die Situation zu, als die Familie aufgrund des Keuchhustens eines Kindes gezwungen wird, ihr Hotelzimmer zu wechseln (Vgl. Z. 22 ff.). Die Reaktion der anderen Gäste, die eine unbegründete Angst vor Ansteckung zeigen, führt zu einem Umzug in eine nahegelegene Pension. Trotz der Verbesserung der Unterkunft bleibt das Unbehagen des Erzählers über die allgemeine Atmosphäre des Ortes bestehen.
- Der Text ist geprägt von den Beobachtungen und Reflexionen des Erzählers, die oft von Vorurteilen und negativen Zuschreibungen gegenüber der italienischen Bevölkerung und Kultur geprägt sind. Diese Ablehnung spiegelt sich in der Beschreibung der Menschen und ihrer Verhaltensweisen wider.
Teilaufgabe 2
- Im Mittelpunkt der Interpretation steht die Analyse der zentralen Themen und Motive des Textauszugs. Der Erzähler nutzt die Beschreibung der klimatischen Bedingungen und der örtlichen Bevölkerung, um seine Abneigung gegenüber Torre di Venere zu verdeutlichen. Die Hitze wird dabei als zentraler Aspekt hervorgehoben. Sie symbolisiert nicht nur die physischen Strapazen, sondern steht auch für eine als „gnadenlos“ empfundene Umgebung (Vgl. Z. 3).
- Die Ablehnung des Erzählers gegenüber dem „Süden“ (Z. 5) wird durch den Vergleich mit dem Norden (Vgl. Z. 12) verstärkt. Während der „Süden“ mit Begriffen wie „Leere“, „Naivität“ und „Stumpfsinnigkeit“ assoziiert wird, steht der „Norden“ für „Tiefe und Komplexität“ (Vgl. Z. 12 ff.). Dieser Gegensatz dient dem Erzähler als Grundlage, um die als negativ wahrgenommenen Aspekte des Ortes zu betonen.
- Ein weiteres zentrales Motiv ist die Kritik an der italienischen „Mittelmäßigkeit“ (vgl. Z. 25). Der Erzähler beschreibt die Menschen in Torre di Venere als oberflächlich und ihre Verhaltensweisen als übertrieben und theatralisch. Dies wird insbesondere in der Episode um den Jungen am Strand deutlich, dessen Verhalten nach einem Taschenkrebsbiss als unverhältnismäßig wehleidig (Vgl. Z. 37ff.) dargestellt wird. Der Junge und seine Mutter stehen exemplarisch für die negativen Stereotype, die der Erzähler der italienischen Gesellschaft zuschreibt.
- Der Erzähler versucht, seine Sichtweise durch eine direkte Ansprache der Leser zu untermauern. Rhetorische Fragen (Vgl. Z. 4 f.) und Appelle (Vgl. Z. 27) sollen die Leser dazu bewegen, sich mit seiner Meinung zu identifizieren. Diese Suggestivkraft wird durch den Kontrast zwischen positiven und negativen Aspekten des Italienbildes des Erzählers verstärkt. Die detaillierten Beschreibungen und die wiederholte Betonung seiner Beobachtungen dienen dazu, seine Perspektive nachvollziehbar erscheinen zu lassen.
- Im Gesamten zeigt der Textauszug, wie der Erzähler seine persönliche Abneigung gegenüber der Region und den Menschen in Torre di Venere auf eine allgemeinere Ebene überträgt. Dies geschieht durch die Verknüpfung individueller Erfahrungen mit kulturellen und historischen Bezügen, die seine negative Sichtweise unterstreichen.
Teilaufgabe 3
- Im weiteren Verlauf des Textes nimmt die bereits angespannte Atmosphäre eine immer stärkere Wendung hin zu übertriebenem Nationalstolz und Konflikten. Die Kinder verschiedener Herkunftsnationen geraten am Strand in einen offenen Wettstreit um Anerkennung und Prestige (Vgl. S. 25). Besonders die italienischen Kinder begründen ihren Anspruch auf Überlegenheit mit der „Größe und Würde Italiens“ (S. 25). Diese Haltung zeigt, wie stark nationale Ideale und Vorstellungen bereits in der Erziehung junger Menschen verankert sind. Der Erzähler beobachtet dieses Verhalten mit wachsender Skepsis, da es seiner Ansicht nach nicht nur die Überheblichkeit der italienischen Gesellschaft widerspiegelt, sondern auch ein Beispiel für die tiefer liegenden gesellschaftlichen Spannungen liefert.
- Ein Vorfall mit der Tochter des Erzählers verschärft die Lage zusätzlich. Als sie ihren Badeanzug am Strand auswäscht und für einen kurzen Moment nackt ist, löst dies eine wütende Reaktion von „patriotischen Kindern“ (S. 24) und deren Eltern aus (Vgl. S. 24). Besonders ein Mann, der sich als Verteidiger italienischer Ehre aufspielt, bezeichnet die Handlung als „schamwidrig“ (Vgl. S. 27) und erhebt sie zu einer öffentlichen Angelegenheit. Für ihn stellt die Situation einen Verstoß gegen die Werte und Normen Italiens dar, den er als Beleidigung der nationalen Gastfreundschaft und Würde interpretiert. Diese übertriebene Entrüstung führt schließlich zu einer Anzeige gegen den Erzähler und seine Familie, die zusätzlich mit einer Geldstrafe belegt werden. Der Vorfall macht deutlich, wie stark gesellschaftliche und nationale Ideale in das alltägliche Leben eingebunden sind und wie rigoros vermeintliche Verstöße geahndet werden.
- Der Höhepunkt der patriotischen Stimmung spiegelt sich im späteren Auftreten des Zauberers Cipolla wider. Cipolla, der als charismatischer Manipulator dargestellt wird, nutzt seine hypnotischen Fähigkeiten, um das Publikum für sich einzunehmen. Dabei greift er auf die „Größe des Vaterlands“ Italien (Vgl. S. 55, 62, 75, 98) zurück und verknüpft sie geschickt mit einer Selbstdarstellung, die an die Ideologie des Faschismus angelehnt ist. Cipolla spielt dabei bewusst auf die Rhetorik Mussolinis an (Vgl. S. 47), wodurch seine Inszenierung nicht nur als persönliche Machtdemonstration, sondern auch als Symbol für die gesellschaftliche Verführungskraft nationalistischer Tendenzen gelesen werden kann.
- Interessant sind die Parallelen zwischen Cipollas Auftreten und dem Verhalten der anderen Figuren im Text. Ähnlich wie der Junge, der übertrieben theatralisch auf den Biss eines Taschenkrebses reagiert (Vgl. Z. 37 ff.), nutzt auch Cipolla Inszenierung und Übertreibung, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Doch während der Junge dies auf einer kindlichen, persönlichen Ebene tut, instrumentalisiert Cipolla diese Strategien, um eine viel tiefere Kontrolle über seine Zuhörer auszuüben. Er beeinflusst die Menschen nicht nur, sondern führt sie bewusst vor, um Macht auszuüben und ihre Abhängigkeit von ihm zu verstärken.
- Insgesamt zeigt der Text, wie stark persönliche Konflikte und gesellschaftliche Ideologien miteinander verflochten sind. Die Erlebnisse der Familie des Erzählers am Strand dienen als Vorboten für die späteren Ereignisse um Cipolla, die als eine zugespitzte Darstellung der zerstörerischen Wirkung von Nationalismus und Gruppenzwang interpretiert werden können. Der Erzähler nutzt diese Beobachtungen, um rückblickend eine deutliche Kritik an den nationalistischen Strömungen seiner Zeit zu formulieren.