Lektüre – Der gute Gott von Manhattan
Thema: Ingeborg Bachmann (* 1926 - † 1973): Der gute Gott von Manhatten (1958) (Auszug 1) Aufgabenstellung:
- Bestimme, an welcher Stelle im Hörspiel die beiden Textstellen vorkommen und wie sie in den Gesamtverlauf passen.
- Interpretiere die beiden Textstellen und vergleiche sie miteinander. Berücksichtige dabei die Sprache der Figuren, ihre Charakterisierung und die Symbolik der dargestellten Orte.
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[...]
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Sie gehen, ohne zu sprechen, durch den Korridor, er sperrt die Zimmertür auf und dann
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ab, wenn sie eingetreten sind.
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[...]
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JAN: Zieh dich aus!
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JENNIFER weinerlich: Meine armen Hände. Meine armen, armen Hände. Sieh sie dir
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bloß an.
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JAN: Hast du mich nicht aufgefordert zu allem? Es ist mir noch nie in den Sinn gekom-
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men, jemand so weh zu tun.
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JENNIFER: Wenn wenigstens das Zimmer nicht so schmutzig und finster wäre - etwas
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für Fliegen, für Schaben als Aufenthalt. Und ich selbst bin schmutzig von feuchter
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Zuckerluft. Schmeckst du den Sirup in der Luft?
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JAN wärmer: Du bist sehr süß, Jennifer. Denk nicht daran, mach die Augen zu. Hält
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inne, dann mit einer nur geringen Ironie. Ach nein, sagte ich: "süß"?
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JENNIFER zitternd: Ja.
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JAN: Ich wollte etwas ganz anderes sagen. Man denkt nämlich nichts mehr dabei, weißt
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du? In Wahrheit denke ich, daß ich morgen früh aufs Schiffsbüro muß. [...]
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JENNIFER tonlos: Soll ich das Licht abdrehen?
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JAN: Dreh es ab. Und glaub mir, ich möchte dich ja gerne mit Schnee überschütten,
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damit du noch kühler wirst, als du warst, und noch mehr bedauerst. Auch ich werde
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es vielleicht bedauern oder vergessen im besten Fall. Man weiß so wenig vorher.
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Auch nachher. Eine Nacht ist zuviel und zuwenig.
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JENNIFER vorbeiredend: Ich könnte das Radio einschalten. Es muß noch ein Nachtpro-
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gramm geben. Immer, wenn ich nach Hause komme, höre ich noch Musik, vorm.
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Einschlafen. Das ist sehr schön.
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JAN: Musik? Meine liebe Jennifer, jetzt wirst du keine hören - und doch beginnt jetzt
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die Musik leise - denn ich werde es nicht dulden.
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JENNIFER unter Tränen: Nein? Du bist furchtbar. Warum? Warum tust du das? Warum,
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warum, warum?
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JAN: Warum küßt du mich aber? Warum?
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Die Musik, die lauter geworden ist, endet, und es ist einen Augenblick lang still.
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Aus: Ingeborg Bachmann: Werke, hrsg. von Christine Koschel, Inge Weidenbaum und Cleemns Münster, Erster Band. Piper München u. Zürich 1978, S. 383 f. Material 2 Der gute Gott von Manhatten (Auszug 1) Ingeborg Bachmann
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[...]
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JENNIFER: Vergeh ich schon? Und vergeh ich nicht wegen dir?
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JAN: Dann ist wenig Zeit auf der Welt. Denn wenn alles entdeckt und verformelt ist,
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wird die Lasur deiner geschmeidigen Augen und die blonde Haarsteppe auf deiner
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Haut von mir noch nicht begriffen sein. Wenn alles gewußt, geschaffen und wieder
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zerstört sein wird, werde ich noch verführt werden im Labyrinth deiner Blicke. Und
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es wird mich das Schluchzen, das deinen Atemweg heraufkommt, bestürzen wie
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nichts sonst.
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JENNIFER: So wenig Zeit. Viel zu wenig Zeit.
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JAN: Und darum will ich dein Skelett noch als Skelett umarmen und diese Kette um
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dein Gebein klirren hören am Nimmermehrtag. Und dein verwestes Herz und die
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Handvoll Staub, die du später sein wirst, in meinen zerfallenen Mund nehmen und
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ersticken daran. Und das Nichts, das du sein wirst, durchwalten mit meiner Nichtig-
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keit. Bei dir sein möchte ich bis ans Ende aller Tage und auf den Grund dieses
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Abgrundes kommen, in den ich stürze mit dir. Ich möchte ein Ende mit dir, ein
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Ende. Und eine Revolte gegen das Ende der Liebe in jedem Augenblick und bis
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zum Ende.
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JENNIFER: Mein Ende. Sag es zu Ende.
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JAN: Es ist da eine Niedertracht von Anfang an, und keine Blasphemie wird ihr Aus
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maß erreichen. Was müssen wir uns vorhalten lassen mit Liebe, dieser Flammen-
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schrift, und auslöschen sehen, wenn wir nähergekommen sind? [...] Schlaf nicht
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ein, ich bitte dich.
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JENNIFER: Ich werde nicht mehr schlafen. Dich nicht mehr lassen.
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JAN: So komm. Ich bin mit dir und gegen alles. Die Gegenzeit beginnt.
Aus: Ingeborg Bachmann: Werke, hrsg. von Christine Koschel, Inge Weidenbaum und Cleemns Münster, Erster Band. Piper München u. Zürich 1978, S. 316 f.
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- Ingeborg Bachmanns 1958 ausgestrahltes Hörspiel Der gute Gott von Manhattan verbindet Elemente eines Kriminalfalls mit einer tragischen Liebesgeschichte. Das Stück spielt mit der Spannung zwischen der rationalen Welt der Gerichtsverhandlung und der emotionalen Intensität der Liebe zwischen den beiden Hauptfiguren, Jan und Jennifer. Die Handlung wird dabei in zwei parallelen Erzählsträngen entwickelt: einerseits durch das Verhör des titelgebenden „guten Gottes“, der für Bombenanschläge verantwortlich ist, und andererseits durch Rückblenden, die die Liebesgeschichte der Opfer darstellen.
- Die vorliegenden Szenen verdeutlichen diese Kontraste: Während die erste Szene (M1) die beginnende Beziehung zwischen Jan und Jennifer zeigt, handelt die zweite Szene (M2) von der Eskalation ihrer Liebe, die schließlich das Eingreifen des „guten Gottes“ provoziert.
- Die erste vorliegende Szene (M1) ist die insgesamt dritte des Hörspiels und zeigt einen entscheidenden Moment am Anfang der Liebesgeschichte zwischen Jan und Jennifer. Nach einem zufälligen Wiedersehen am Bahnhof in New York und einem gemeinsamen Abend in einer Bar verbringen sie die Nacht zusammen in einem Stundenhotel. Diese Szene gehört zur Rückblende, die den Großteil des Hörspiels ausmacht und die Beziehung der beiden Figuren beleuchtet. Die Atmosphäre dieser Begegnung ist von einer Mischung aus spontaner Nähe und vorsichtigem Erkunden geprägt, da sich Jan und Jennifer zum ersten Mal intensiver kennenlernen.
- Im Gegensatz dazu liegt die zweite Szene (M2) im letzten Drittel des Hörspiels und zeigt die voll entfaltete Liebe zwischen Jan und Jennifer. Nachdem sie mehrere Tage und Nächte miteinander verbracht haben, ziehen sie in immer höhere Etagen des Atlantic-Hotels, bis sie schließlich den 57. Stock erreichen. In dieser symbolträchtigen Höhe schwören sie sich ihre Liebe, ein Moment, der als Höhepunkt ihrer Beziehung dargestellt wird. Jan, der sich zuvor gegen ein Liebesversprechen gesträubt hatte, gibt schließlich nach, und die beiden erleben eine Liebe, die der „gute Gott“ im späteren Gerichtsverfahren als „Grenzübertritt“ bezeichnet. Dieser Moment markiert für ihn den Auslöser für den tödlichen Anschlag, der wenig später erfolgt.
- Die beiden Szenen zeigen einerseits den Beginn und andererseits den Höhepunkt der Beziehung, während sie zugleich die Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rechtfertigung des Anschlags bilden. Der Kontrast zwischen der intensiven Liebe und der radikalen Ablehnung des „guten Gottes“ thematisiert die Spannung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung, die das zentrale Motiv des Hörspiels darstellt.
Teilaufgabe 2
- Die erste Szene (M1) zeichnet sich durch eine starke Asymmetrie in der Beziehung zwischen Jan und Jennifer aus, die vor allem durch Jans dominante und aggressive Haltung geprägt ist. Bereits die ersten Handlungen und Dialoge verdeutlichen diese Dynamik. Jans autoritärer Imperativ (Z. 5) und das Abschließen der Zimmertür (Z. 2 f.) schaffen eine bedrückende Atmosphäre, die Jennifers Widerstand und emotionalen Rückzug auslöst. Ihre Beschreibung des Zimmers als „schmutzig und finster“ (Z. 10) und die Erwähnung der „feuchten Zuckerluft“ (Z. 11 f.) spiegeln nicht nur die physische Umgebung wider, sondern auch ihre innere Abwehrhaltung gegenüber der Situation.
- Jan hingegen reagiert mit Zynismus und Ignoranz auf Jennifers Gefühle. Seine Bemerkung, sie sei „süß“ (Z. 13), wirkt bewusst missverständlich und ironisch. Auch seine rhetorischen Fragen und apodiktischen Aussagen („Musik […] wirst du keine hören“, Z. 26 f.) zeigen seine brutale Überlegenheit und lassen keinen Raum für Jennifers Bedürfnisse. Ihre schrittweise Aufgabe des Widerstands – vom „zitternden“ (Z. 15) bis zum „tonlosen“ (Z. 18) und schließlich „unter Tränen“ (Z. 28) geäußerten Verhalten – verdeutlicht ihre Hilflosigkeit und emotionale Ohnmacht. Die Szene endet mit leiser Musik, deren plötzlicher Abbruch den überfallartigen Charakter eines sexuellen Übergriffs symbolisiert.
- In der zweiten Szene (M2) hat sich das Verhältnis zwischen Jan und Jennifer stark verändert. Sie begegnen sich nun auf Augenhöhe, und die zuvor angespannte Dynamik weicht einer innigen Verbindung. Jan zeigt zum ersten Mal Empathie und reagiert auf Jennifers Wünsche und Vorstellungen. Dies zeigt sich in seiner Sprache, die nun geprägt ist von langen, emotionalen Kaskaden und Adverbien, die eine Verbindung zu Jennifers Impulsen herstellen (z. B. „So komm“, Z. 24).
- Auch die Szenerie unterstreicht den Wandel: Während die erste Szene in einem düsteren „Stundenhotel“ spielt, befindet sich das Paar in der zweiten Szene im obersten Stock des „Hotel Atlantic“, einem symbolträchtigen Ort der Erhöhung und Nähe zum Himmel. Jennifer entwickelt in dieser Szene eine utopische Vision gemeinsamer Zeit („Gegenzeit“, Z. 24), die Jan begeistert aufgreift. Ihr Liebesbekenntnis („Ich werde nicht mehr schlafen. Dich nicht mehr lassen“, Z. 23) steht im Kontrast zur emotionalen Kälte der ersten Szene und markiert die Transformation der Beziehung.
- Jans Sprache zeigt in der zweiten Szene eine neue Intensität. Seine früheren Floskeln und Zynismen weichen einer poetischen, aber rätselhaften Symbolik, die ihre gemeinsame Liebe feiert. Gleichzeitig bleibt er teilweise egozentrisch, was sich in der hohen Zahl von Ich-Pronomen zeigt, auch wenn sie nun in ein „wir“ (Z. 20) übergehen. Die Szene endet mit Jans pathetischem Schwur („Ich bin mit dir und gegen alles“, Z. 24) und weist durch die erwähnten Chiffren und Metaphern auf die Tragik des nahenden Bombenanschlags hin.
Fazit
- Der Vergleich der beiden Szenen zeigt die Entwicklung von Jan und Jennifers Beziehung von einer zunächst asymmetrischen, von Macht und Gewalt geprägten Begegnung hin zu einer leidenschaftlichen, idealisierten Liebe. Während Jan in der ersten Szene kalt, distanziert und zynisch agiert, offenbart er in der zweiten Szene eine gefühlvolle, pathosgeladene Seite, die eine echte Verbindung zu Jennifer ermöglicht.
- Diese Entwicklung wird durch die veränderte Szenerie und Sprache deutlich: Vom düsteren Stundenhotel hin zum lichtdurchfluteten Hotel Atlantic und von scharfen Befehlen zu poetischen Liebesschwüren. Doch trotz der Innigkeit bleibt eine Spannung bestehen, da ihre Liebe durch äußere Kräfte bedroht wird. Die symbolische Überhöhung ihrer Beziehung endet tragisch mit dem Bombenanschlag, der in der zweiten Szene bereits angedeutet wird.
- Insgesamt verdeutlicht der Wandel in ihrer Beziehung die zentrale Thematik des Hörspiels: die Zerbrechlichkeit der Liebe in einer feindlichen Welt, die sowohl von individuellen Schwächen als auch von äußeren Eingriffen geprägt ist.