Sprache

Thema:
Franz Stocker: Muttersprache entscheidet über den Kontostand
Aufgabenstellung:
  • Fasse die Argumentation des Zeitungsartikels zusammen.
  • Erläutere die Sapir-Whorf-Hypothese, auf die der Artikel sich bezieht (vgl. Z. 11 ff.)
  • Diskutiere ausgehend vom vorliegenden Text, inwiweit diese These Gültigkeit beanspruchen kann.
Material
Muttersprache entscheidet über den Kontostand
Franz Stocker
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Engländer und Amerikaner verschulden sich gerne, am Sparen haben sie keine große
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Freude. Ganz anders dagegen die Deutschen, aber beispielsweise auch die Chinesen:
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Sie sind die Sparweltmeister und versuchen, Schulden zu vermeiden. Das sind bekann-
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te Fakten. Doch nach wie vor unbeantwortet ist die Frage, woran das liegt: Geschichte?
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Tradition? Wirtschaftsstruktur?
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Derzeit gewinnt eine ganz andere Theorie Anhänger. Demnach könnte die Mutter-
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sprache darüber entscheiden, ob jemand eher zum Sparen oder zum Schuldenmachen
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neigt. Die grammatischen Strukturen seien entscheidend dafür, wie ein Sprecher auf
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die Welt blickt, und würden so letztlich auch sein ökonomisches Verhalten bestimmen,
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so die These. [...]
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Die zugrunde liegende Annahme, dass die Sprache auf Denken und Handeln der
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Menschen wirkt, ist dabei so alt wie umstritten. Schon Wilhelm von Humboldt for-
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mulierte entsprechende Gedanken. Bekannt ist die Theorie in der Linguistik seit den
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50er-Jahren jedoch vor allem als sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese. Der Öko-
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nom Keith Chen von der Yale Universität hat die Idee aufgenommen und auf die Wirt-
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schaftstheorie übertragen. Getrieben worden ist er dabei von seinen eigenen Erfahrun-
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gen als Sohn chinesischer Einwanderer, der in den USA aufgewachsen ist und somit
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in zwei Sprachwelten lebt. Besonders angetan hat es ihm dabei der unterschiedliche
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Blick der Sprachen auf die Zukunft.
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Denn will Chen auf Englisch ausdrücken, dass er am kommenden Tag nach Berlin
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fährt, so sagt er: „Tomorrow I will go to Berlin.“ Auf Chinesisch dagegen sagt er:
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„Mingtian wo qu Bolin“, wörtlich übersetzt: „Morgen ich gehen Berlin.“ Der wesent-
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liche Unterschied ist, dass Chinesen keine Zukunftsform für das Verb benutzen. Die
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Tatsache, dass die Handlung in der Zukunft stattfindet, wird nur aus dem Wort „mor-
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gen“ ersichtlich.
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Das ist genau wie im Deutschen: „Morgen fahre ich nach Berlin.“ Zwar könnte man
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auch sagen: „Morgen werde ich nach Berlin fahren“, doch dies ist eher unüblich. Nor-
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malerweise sprechen Deutsche über die Zukunft, indem sie grammatikalisch in der
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Gegenwart bleiben – genau wie Chinesen, aber auch wie Schweden oder Finnen, Japa-
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ner oder Niederländer, Esten oder Norweger.
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Hierin liegt für Chen der Grund für das unterschiedliche Sparverhalten: Immer
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wenn jemand im Englischen oder einer anderen Sprache mit dominanter Futurform
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über die Zukunft spricht, müsse er die künftigen Geschehnisse gedanklich klar von der
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Gegenwart trennen. „Der Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft fühlt sich
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stärker an“, sagt er. „Und das macht es schwerer zu sparen.“ Denn der Vorteil, der sich
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aus Erspartem in der Zukunft ergibt, fühlt sich ferner an.
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Das klingt zunächst recht seltsam, auch Chen selbst nennt es eine „fantasievolle
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Theorie“ – untermauert sie aber gleichzeitig mit Zahlen. So hat er die Sparraten in den
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OECD-Ländern daraufhin untersucht, welche Sprache im jeweiligen Land vorherrscht.
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Das Ergebnis: Im Durchschnitt sparen Menschen, die in der Gegenwartsform über die
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Zukunft sprechen, fünf Prozent mehr als die anderen. Aber damit nicht genug: Chen
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hat in einem weiteren Schritt Länder ausgewählt, in denen Sprachen beider Art gespro-
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-chen werden, beispielsweise die Schweiz (Deutsch vs. Französisch und Italienisch),
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Belgien (Flämisch vs. Französisch) oder Malaysia (Chinesisch vs. Malaiisch). Sodann
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hat er einzelne Personen aus einer Sprachgruppe Menschen aus der anderen Sprach-
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gruppe gegenübergestellt und dabei darauf geachtet, dass diese jeweils in ähnlichen
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wirtschaftlichen Verhältnissen leben. „Bei jenen, die eine Sprache ohne Futurform
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sprechen, ist die Wahrscheinlichkeit 30 Prozent höher, dass sie Geld sparen“, beschreibt
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er das Ergebnis. „Und wenn sie in Rente gehen, sind ihre Ersparnisse im Schnitt
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25 Prozent höher als bei den Sprechern einer Sprache mit Futurform.“ Wohlgemerkt:
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Es handelt sich um Menschen, die im gleichen Land leben, vielleicht sogar Tür an Tür,
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und die einzig und allein durch die zu Hause gesprochene Sprache unterscheiden. [...]
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Die These, dass die Sprache über die Finanzen entscheidet, scheint also durch
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allerlei Zahlen und Statistiken gut untermauert zu sein. Doch erscheint sie vielen
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nach wie vor seltsam. Doch wer weiß, vielleicht zeigt sich der Effekt ja bald auch
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statistisch überprüfbar anderswo: In den Bilanzen jener deutschen Firmen, die intern
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zunehmend auf Englisch kommunizieren. Noch gibt es dazu allerdings keine Unter-
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suchungen.

Aus: Stocker, Frank: Muttersprache entscheidet über den Kontostand. (11.01.2011)

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